18. Kapitel
E s ist schon seltsam, wie anders Dinge am Tag erscheinen können. Der Morgen hat seine übliche Magie gewirkt, und ich fühle mich viel besser: Sogar wenn jemand da war und ich mich nicht getäuscht hatte, würden die Polizisten wohl recht behalten. Es war nur Zufall, jemand, der versuchte herauszufinden, ob eines der Häuser im Sommer leer stand. Nun, jetzt wussten sie, dass es bei meinem nicht so war.
Bevor ich ins Bett ging, habe ich alle Türen und Fenster überprüft, zwei Mal. Es ist ein gutes Haus, Schlösser an den Fenstern und doppelt verglast, mit Riegeln am Hintereingang. Und auch jetzt noch fühlt es sich im Vergleich zu London so sicher an.
Aber ich weiß, dass das Haus ein Ziel sein könnte, hier am Rande des Dorfs, hinter einer Einfahrt, auf die man von der Straße aus kaum Einblick hat. Also werde ich mich nach einem Alarmsystem umsehen und eine Kette für die Haustür besorgen, zusätzlich zu all den Schlössern. Es wird alles gut werden.
Trotzdem war es eine lange Nacht. Erst als der Nachthimmel draußen vor meinem Fenster schon wieder hell wurde, konnte ich einschlafen, und bis dahin las ich, um meinen Kopf vom Fantasieren abzuhalten. Ich wollte keine Tablette nehmen. Nur, damit ich nichts verpasste.
Morgens wachte ich später als sonst auf, verschlafen und aus dem Gleichgewicht. Dann erinnerte ich mich an die Geschehnisse der Nacht. Und damit kam mein nächster Gedanke: Lily. Jetzt beeile ich mich mit meiner Morgentoilette.
Ich will selbst nach ihr sehen. Ich bin sicher, dass es ihr gut geht, aber trotzdem gehe ich nicht unter die Dusche, ziehe nur meine Joggingsachen an und nehme, so schnell ich kann, die Abkürzung durch die Büsche zwischen den Grundstücken.
Eine angsterfüllte Minute warte ich nach meinem Klopfen, bis ich ohne Antwort ins Haus gehe. Langsam schreite ich durch den Hausflur.
»Lily? Ich bin’s. Bist du zu Hause?«
Es ist still. Vielleicht hört sie mich nicht? Ich spüre, wie mein Herz schneller schlägt.
Aber sie ist wie üblich im Wohnzimmer, meine Schultern entspannen sich wieder.
»Oh, hallo Schatz«, begrüßt sie mich mit einem Lächeln. »Es ist ein wenig früh für dich, oder?«
Meistens gehe ich nachmittags zu ihr.
»Ich dachte, ich sehe auf dem Weg zum Einkaufen bei dir vorbei und frage, ob du was brauchst.« Ich habe längst entschieden, dass ich die letzte Nacht nicht erwähnen werde. »Wir haben uns eine Weile nicht gesehen. Wie geht es dir?«
»Mir geht es gut, Schatz. Und dir?«
Nein, letzte Nacht ist sie sicher nicht aufgeschreckt worden, das erkenne ich.
Dann frage ich sie, wie es ihr die letzten Tage ergangen ist: Wie war ihr Kaffeekränzchen in der Kirche? Ihre Erzählung darüber, wie eine der anderen Ladys, Violet, versucht, den einsamen Herrn Sidney für sich zu gewinnen, bringt mich zum Lachen – es scheint, als ob sie ihn mürbe macht.
Aber ich kenne die Geschichte schon, bis hin zu Lilys vernichtendem Urteil: »Sie gibt sich Mühe, das will ich ihr zugestehen.«
Ich überlege, ob sie sich überhaupt an das letzte Treffen erinnert. Sie erwähnt nicht, dass ich am Wochenende da war und sie schläfrig und verwirrt vorgefunden habe.
Aber dennoch wirkt sie wieder mehr wie die alte Lily, wacher und mehr wie sie selbst. Sogar jünger. Vielleicht geht es ihr morgens besser.
Eine Zeit lang plaudern wir, sprechen über ihre Soap Operas, dann verklingt das Gespräch.
»Lily, ich würde dich gern etwas fragen.«
Sie legt den Kopf leicht auf die Seite.
»Ja?«
»Über Nancy.«
»Über wen?«
»Nancy. Das Mädchen, das du neulich erwähnt hast, das wie meine Sophie aussieht?«
Einen Moment lang zögert sie, dann schüttelt sie den Kopf.
»Ich glaube nicht, dass ich eine Nancy kenne.«
»Nancy Kerrigan? Erinnerst du dich, sie hat in dem großen Haus gewohnt? Vor Jahren schon.«
»Nein, Schatz, ich erinnere mich nicht.« Ihr Innehalten ist fast nicht zu bemerken. »Ich hoffe doch, dass ich nicht schon wieder was vergessen habe.«
Daraufhin beschließe ich, erst mal zu gehen. Ich will sie nicht bedrängen oder dadurch aufregen, dass ich nach einer weiteren Sache jage, die aus ihrer Erinnerung verschwunden ist. Vorher gehe ich noch in ihr Badezimmer oben und denke über unser Gespräch nach, während ich mir die Hände wasche.
Also erinnert sich Lily nicht an Nancy. Nun, vielleicht hat sie nicht einmal die Nancy gemeint, die in Parklands gelebt hat. Und woher würde Lily sie überhaupt kennen, frage ich mich. Nancy. Sophie. Es könnte einfach ein Zufall sein, die Namen klingen recht ähnlich – ein Versprecher.
Mein Spiegelbild schüttelt den Kopf. Nein, das glaube ich nicht. Zu einfach. Eher hat der Gedanke an Sophie eine Erinnerung wieder hochkommen lassen – an ein anderes Mädchen, das verschwunden ist.
Irgendwann hat sie also das mit Nancy erfahren. Falls sie eine Weile hier gelebt hat, ergibt das Sinn. Leute reden. Und es dann vergessen, denke ich mir, als ich mir die Hände am bestickten weißen Handtuch abtrockne. Heutzutage vergisst sie nur allzu oft Dinge.
Aber es ärgert mich, dass ich nicht weiterkomme. Und dann spüre ich den Impuls, wie ein Jucken unter der Haut. Ich muss das nicht tun. Ich sollte nicht. Es wäre ein Bruch der Privatsphäre. Ich sollte nicht …
Bevor ich mehr darüber nachdenken kann, tue ich es einfach: Ich öffne den Badezimmerschrank über dem Waschbecken.
Nach Lavendel duftende Hautmilch von Yardley of London. Elizabeth Ardens Blue Grass Duft. Diese Gesichtscreme, von der sie mir erzählt hat, die Joanna Lumley nutzt. Und ihre Fläschchen mit Medizin.
Eine der braunen Flaschen, gefüllt mit einer klaren Flüssigkeit, sehe ich mir genauer an. Der Name sagt mir nichts – ich kneife die Augen zusammen, um das Kleingedruckte zu lesen, wünsche mir, ich hätte meine Brille dabei: »… enthält Morphium«.
Herrje. Das Zeug kenne ich. Flüssiges Morphium, ein sehr starkes Schmerzmittel. Ich wusste, dass ihr ihre Hüfte Probleme bereitete, aber … wow. Arme Lily. Sie muss entsetzliche Schmerzen haben. Und da stehen so viele Fläschchen, mindestens ein halbes Dutzend, einige fast leer. Wie viel Morphium braucht sie denn?
Wieder lese ich das Etikett: Mrs Lily Green, The Carriage House, Park Road, Vale Dean. Natürlich ist es für sie. »Bei Schmerzen nach Bedarf einnehmen.«
Ihre Ärzte wissen natürlich, wie viel sie verträgt. Aber selbst dann … ich runzle die Stirn. Es bürdet ihr eine Menge auf, mit solcher Medizin umzugehen, sich an Zeiten und Dosierungen zu erinnern. Sollte sie wirklich so viel davon im Haus haben? Vielleicht wissen sie nicht, wie es ihr in letzter Zeit geht. Kein Wunder, dass sie so benebelt und verwirrt gewesen war – und wenn meine Vermutung, dass sie an Demenz leidet, stimmt, könnte das nicht alles noch schlimmer machen?
Noch ein Blick auf das Fläschchen in meiner Hand. Noch keine Rückmeldung vom Gemeinderat. Ich entscheide, es bei der Praxis zu versuchen; da muss sie Patientin sein.
Einen Moment lang durchfährt mich eine heiße Welle: Ich fühle mich so überfordert. Ich lehne mich ans Waschbecken. Ich kann damit umgehen, ich schaffe das. Aber es kommt alles auf einmal. Sophie. Lily. Nancy.
Lily, die so tut, als wisse sie nichts von Nancy.
Warum denke ich das? »Nein, Schatz, ich erinnere mich nicht. Ich hoffe doch, dass ich nicht schon wieder was vergessen habe.«
Warum geht mir das im Kopf herum? Sie wirkte nicht besorgt, als habe es etwas in ihr berührt. Im Gegenteil: Sie war ruhig, fast schon resigniert. Obwohl sie etwas vergessen hat. Mal wieder.
Und dann verstehe ich. Das war es: Dieses Mal war sie kein bisschen aufgebracht.
Als ich gehe, sehe ich noch einmal nach Lily – sie schläft in ihrem Sessel, also ziehe ich die Vorhänge zu, damit die Sonne ihr nicht ins Gesicht scheint. Da ich es nicht mehr eilig habe, gehe ich die Einfahrt hinunter – weniger Insekten und Äste – und nicht durch die Büsche zwischen unseren Häusern. Gerade als ich links abbiegen will, zurück nach Hause, halte ich inne.
Stattdessen gehe ich nach rechts, folge dem Rest des Wegstücks bis nach Parklands. Sollte jemand in meinem Garten gewesen sein, was wäre, wenn die Person dorthin gelaufen ist? Man hört ja allerlei über Hausbesetzer und Obdachlose. Eigentlich glaube ich, dass so etwas eher was für Städte ist, nicht an Orten wie Vale Dean, aber ich will sichergehen, bei Tageslicht.
Es sind nur etwa fünfzig Meter, aber während ich mich nähere, fühle ich mich wie ein Eindringling – so nah war ich noch nie an Parklands heran. Tatsächlich ist es noch ruhiger als mein Haus; weiter weg von der Straße, und die Bäume dämpfen jedes Geräusch. Man könnte ebenso gut irgendwo im Nirgendwo sein.
Es gibt ein eisernes Tor mit einer dicken Kette davor. Aber ich gehe einfach zu der Stelle, wo der Holzzaun umgefallen ist, und dann hinter dem Tor wieder auf den Weg.
Von Nahem ist es noch größer: massiv und beeindruckend, und der überwucherte Garten lässt seine Proportionen zu groß für das Grundstück wirken. Das müssen – wie viele? – drei, vier Stockwerke sein. Der Rasen vorne ist eher eine wilde Wiese, das Gras so hoch, dass es meine Hände berührt.
Ich zittere. Was mache ich hier? Was tue ich, wenn da wirklich jemand ist, ein Obdachloser, oder – was? Ein verwirrter Dogenabhängiger, nervös und aggressiv, wenn er aufgeschreckt wird? Ich weiß nicht, was ich tun würde. Ich sollte das der Polizei überlassen.
Aber ich gehe dennoch weiter, unter meinen Füßen knirscht der Kies, und ich steige über eine dunkelgraue Schindel, die vom Dach gefallen ist. Aus der Nähe kann ich sehen, wie alt und zerfetzt die Plastikplanen da oben sind, während die verbleibenden Stangen des Gerüsts fast aussehen, als wären sie einfach nur von den Arbeitern zurückgelassen worden. Vermutlich hat man sie nicht weiter bezahlt.
Dennoch ist es schön, weiche Cheshire Ziegelsteine mit Bändern von hellem Mauerwerk, die sich mit Rosetten verziert um das Gebäude schlingen. Es müssen Hunderte sein – Rosen, keine Rosetten, wie ich feststelle –, die sich über die ganzen Steine ziehen.
Noch näher gehe ich heran, die Stufen empor, unter das Vordach, wo die Luft kühler ist und der Boden mit alten Blättern bedeckt, die vor der Tür einen Haufen bilden. Auch hier ist es beeindruckend: der steinerne Bogen mit weiteren hübschen Blumenmotiven, jede mit ordentlichen Blütenblättern. Aber die Farbe der Tür wirft Blasen und ist brüchig, das hellere Holz scheint dazwischen durch.
Ich packe den Türknauf rechts und drehe erst vorsichtig, dann fester. Natürlich ist abgeschlossen. Es sieht nicht so aus, als sei hier in den letzten Jahren jemand ein oder aus gegangen, so wie die Blätter vor der Tür liegen, aber ich probiere auch den linken Knauf und …
Ich wirble herum.
»Oh!«
Der Mann ist eine dunkle Gestalt vor dem Sonnenlicht, schwarz vor dem Grün der Bäume und dem gelben Gras hinter ihm. Dann erkenne ich ihn: Nicholls, so unpassend mit Anzug und Krawatte.
»Mein Gott, haben Sie mich erschreckt.« Ich habe keinen Laut gehört. Ich weiß nicht, warum ich mich umgedreht habe. Ich fange an, nervös zu lachen, hebe die Hand vor die Kehle. »Was machen Sie hier?«
»Nichts läge mir ferner, als Sie zu erschrecken.« Er lächelt nicht. »Ich habe gehört, dass es hier einen Eindringling gab. Letzte Nacht?«
»Oh, natürlich. Sehr schnell.« Ich hätte nicht gedacht, dass ein Detective Inspector so interessiert sei. Die Beamten letzte Nacht waren weit weniger aufgestiegen. »Haben Sie etwas herausgefunden?«
»Es gibt keine Hinweise auf einen Einbruch. Sieht alles sicher aus. Dennoch«, fährt er fort, »würde ich Ihnen raten, nicht auf eigene Faust nach Eindringlingen zu suchen.«
»Ah, nein. Natürlich nicht.« Schuldbewusst verschränke ich die Arme hinter dem Rücken. Da kommt mir ein Gedanke: »Haben Sie Ihren Wagen an der Straße abgestellt?«
Ich bin an keinem Auto vorbeigekommen. Er schüttelt den Kopf.
»Man kann da hinten am Weg parken.« Er weist an Parklands vorbei. »Es gibt einen kleinen Pfad, der bis zur Straße führt.«
»Oh«, erwidere ich sinnbefreit. »Das wusste ich nicht.«
»Ich kann Sie begleiten, wenn Sie möchten.«
Ich sträube mich dagegen, so einfach entlassen zu werden.
»Eigentlich wollte ich Sie noch fragen – was geschieht jetzt? Mit Danny, mit Sophies Tagebuch? Kommt er auf Kaution frei?«
»Nein, es gibt keine Kaution.«
Erleichtert schließe ich die Augen.
»Weil es keine Anklage gibt.«
»Nicht? Ich hatte angenommen, so wie Sie das Tagebuch behandelt haben, dass …«
Ich verliere mich, werde leise.
»Wir haben dazu keinen Grund, Mrs Harlow. Es gibt keinen Hinweis auf ein Verbrechen.«
»Warum haben Sie ihn dann verhört?«, erkundige ich mich scharf. »Und was ist mit dem Anruf, sind Sie bei der Organisation weitergekommen?«
»Sobald ich mehr weiß, werde ich Sie natürlich informieren.«
Seine Miene ist ausdruckslos.
»Ich verstehe.«
Also ist Danny frei, zu tun und zu lassen, was er will. Und den Anruf haben sie sicher auch nicht zurückverfolgt; darauf würde ich wetten.
Mit einem Mal will ich nur nach Hause.
»Gut, ich muss los.« Ich schüttle meine Schlüssel, eine sinnlose Geste. »Ich muss nur den Weg runter. Tschüss.«
»Auf Wiedersehen, Mrs Harlow.«
Ich spüre, wie er mir hinterhersieht, als ich gehe, meine Schritte laut auf dem Kies. Es ist dumm, ich weiß, aber irgendwie spüre ich, dass ich mich nicht umdrehen oder beeilen darf – als wäre das ein Fehler. Verhalte dich einfach normal. Alles ist gut.
Aber als ich zu Hause ankomme, rast mein Herz.
Ich weiß nicht, warum, aber ich fühle mich, als sei ich irgendetwas entkommen.