19. Kapitel
I ch verbringe den Nachmittag drinnen, die Jalousien im Arbeitszimmer heruntergezogen, und versuche ein weiteres Mal, mich in Sophies E-Mail-Konto einzuloggen. Zunächst habe ich Hoffnung. Sicher wird mir eine Idee kommen, so schwierig kann es nicht sein.
Aber ich schaffe es immer noch nicht, bleibe im Kreislauf gefangen: falsche Antwort auf die Sicherheitsfrage, dann die Sperrung des Kontos. Danach probiere ich verschiedene Passwörter, tippe Variationen ihres »loopysophie«-Passworts ein, bis ich dazu übergehe, einfach Wörter auszuprobieren, die sie gewählt haben könnte. Amberton, wie ihre Schule, Charlotte, ihr zweiter Vorname.
Veilchenblau, ihre Lieblingsfarbe. Welche Bands mochte sie? Popstars? Ich beginne, Namen einzugeben, dann Namen mit Nummern, 2000 für ihr Geburtsjahr. 99, einfach so. Am Ende gebe ich auf, meine Augen sind müde und verklebt.
Ich werde eine Nacht darüber schlafen. Und wenn ich es dann nicht schaffe, übergebe ich es der Polizei.
Den Kopf auf die Hände gestützt, stöhne ich. Ich kann mir Nicholls genau vorstellen, so höflich wie immer: »Und was genau glauben Sie, dass es bedeutet, wenn ein Mädchen im Teenageralter mehr als eine E-Mail-Adresse hat, Mrs Harlow?«
Er wird denken, dass ich nach einem Ausweg suche. Dass ich einfach nicht akzeptieren kann, dass Sophie das alles allein durchgemacht hat. Dass sie lieber weglaufen als sich mir anvertrauen würde. Was wohl die Wahrheit ist. Ich kann das nicht.
Eine Nacht drüber schlafen, sage ich mir. Dann treffe ich eine Entscheidung.
Als ich mich ein bisschen für die Nacht beruhigen will, indem ich die Küche aufräume und schon saubere Flächen noch einmal abwische – seit alle weg sind, herrscht viel weniger Unordnung –, klingelt das Telefon. Ich überlege, es einfach ausklingeln zu lassen.
»Wer zum Teufel kann das sein?«, frage ich murmelnd die Katze. Das haben Charlotte und ich früher immer zueinander gesagt, wenn jemand noch nach dem Abendessen anrief, eine Hommage an unseren liebsten Sketch von Peter Kay. Ich sehe auf die Uhr am Herd: 21:35. Sogar nach den Standards meiner Familie werde ich wie eine alte Dame. Ich hebe ab.
»Hallo?«
Einen Herzschlag lang überrascht mich das leise Knistern in der Leitung, wirft mich zurück in die Nacht an der Hotline …
»Mrs Harlow?« Die Frauenstimme ist weich, mit amerikanischem Akzent. Ich entspanne mich ein wenig. Es ist nicht wieder Sophie.
»Ja, am Apparat.«
»Hier spricht Olivia Marnell. Sie hatten mir eine Nachricht wegen des Hauses hinterlassen.«
Ich brauche einen Moment, um es einzuordnen, dann erkenne ich: nicht amerikanisch, sondern kanadisch. »Vormals hieß ich Olivia Kerrigan.«
Sie ist sehr höflich, fast schon rechtfertigend. Ich habe erklärt, wer ich bin, und über den Zustand von Parklands gesprochen – vorsichtig zuerst. Mir scheint, sie weiß gar nicht so genau, in welch schlechtem Zustand es ist. Schlussendlich werde ich sehr direkt: Es ist ziemlich heruntergekommen, zumindest schon, seit ich eingezogen bin. Die Bäume sind so groß, ihre Wurzeln könnten den umliegenden Gebäuden Probleme bereiten, geschweige denn ihrem.
Endlich versteht sie.
»Oje.« Ein Seufzen. »Ich muss um Entschuldigung bitten. Meine Eltern … sie wollten sich nicht damit beschäftigen. Aus persönlichen Gründen. Und jetzt ist mir das zugefallen, und es gibt so viel, worum ich mich kümmern muss, was Arrangements angeht, nachdem meine Mutter verstorben ist.« Sie klingt müde. »Aber ich werde das Haus angehen. Ich werde mir überlegen, was ich damit machen möchte, ob verkaufen oder renovieren. Es sollte nicht verfallen.«
»Nein«, stimme ich zu. »Es könnte wieder ein wunderschönes Haus werden.« Wie kann ich das Thema anschneiden? Ich entscheide mich, dass Ehrlichkeit die beste Strategie ist. »Aber ich verstehe, dass es für Ihre Eltern sehr schwierig gewesen sein muss, gerade als sie älter wurden. Ich habe gehört …«, eine absichtliche Pause, »… dass es eine Familientragödie gab. In der Vergangenheit.«
In der Leitung bleibt es still.
»Verzeihen Sie«, sage ich schnell. »Ich hätte das nicht erwähnen sollen.«
»Nein, das ist in Ordnung«, erwidert sie langsam. »Ich bin nur nicht daran gewöhnt, darüber zu reden. Mein Mann, meine Kinder – sie kannten meine Schwester nicht. Und nachdem Dad starb, hat Mom … nun, niemand weiß wirklich davon.«
»Was ist denn passiert? Ich habe gehört, sie sei weggelaufen.«
»Ja«, bestätigt sie schlicht. »Das stimmt.«
»Und danach haben Sie nie wieder etwas von ihr gehört?«
»Nein. Wir haben nie wieder etwas von ihr gehört«, echot sie.
Irgendwie schockiert mich das. Aus irgendeinem Grund hatte ich gedacht, dass es ein Zeichen gegeben hatte, einen Anruf vielleicht oder … ich weiß nicht, etwas, das in der Zeitung nicht erwähnt wurde.
»Aber Menschen verschwinden nicht einfach, nicht heutzutage …« Ich halte inne, bevor ich noch was Ungeschicktes sage.
»Ich fürchte doch. Das waren auch andere Zeiten damals, kein Facebook und so was.«
»Selbst dann«, protestiere ich gereizt. Wie kann diese Frau nur so … schicksalsergeben klingen? Mit einem Mal verstehe ich, dass ich zu hören hoffte, was ich hören will: Nancy ist zurückgekommen.
»Wie war Nancy?«, frage ich. »Also nur, falls es Ihnen nichts ausmacht.«
Ich will sie nur am Telefon halten.
»Wie war sie?« Wieder seufzt sie. »Sie war schlau. Eine gute Schülerin. Sie mochte Pferde … sie hatte ein Pony, Blossom, das sie liebte.« Olivia lacht auf. »Es war bösartig. Wir haben es danach verkauft.«
»Aber wie war sie zu Ihnen?«
»Zu mir? Ich weiß nicht. Sie war meine ältere Schwester. Zwischen uns lagen sechs Jahre, also habe ich zu ihr aufgesehen. Manchmal hat sie mich geärgert, und ich habe geweint. Aber manchmal hat sie mir auch Zöpfe geflochten, und ich durfte mit ihrem Make-up spielen. Und sie konnte mich zum Lachen bringen wie niemand sonst.«
»Und was war mit, hm, Jungs?«
Ich kann sie lächeln spüren.
»Davon weiß ich nicht wirklich was. Als sie ging, war ich erst zehn. Aber sie war sehr hübsch. Sie liebte die Aufmerksamkeit. Ich kann mir nicht vorstellen, dass es was Ernstes gab.«
»Ich habe gelesen, dass er, also Nancys Freund, später von der Polizei vernommen wurde.« Darauf springt sie nicht an, aber ich frage weiter: »Sie können sich wohl nicht zufällig an seinen Namen erinnern?«
»Nein, kann ich nicht. Sie haben mit vielen ihrer Freunde gesprochen.« Ihre Stimme wird härter. »Sind Sie Journalistin?«
»Nein, wirklich nicht. Es tut mir leid. Ich wollte Sie nicht bedrängen. Es ist nur … es tut mir leid.«
Aber jetzt ist sie aufgebracht: »Das ist genau das, weshalb meine Eltern weggezogen sind … um all der Neugier zu entkommen. Um mich vor den Fragen zu beschützen. Wir sind nach Kanada, um einen Neuanfang zu haben.«
Ich fühle mich schuldig: Unter dem Zorn höre ich das Zittern in ihrer Stimme.
»Ich wollte Sie wirklich nicht belästigen. Es ist nur … meine Tochter ist ebenfalls verschwunden. Sie ist weggelaufen.« Ich kann es auch gleich zugeben. »Ihre Familiengeschichte hat etwas in mir berührt, weil sie aus der gleichen Gegend sind, und ich hatte mich gefragt, was passiert ist.«
»Oh«, sagt sie besänftigt. »Nun, das hätten Sie erwähnen müssen. Man trifft nicht viele …«
Leute wie uns, füge ich hinzu. Die Zurückgebliebenen.
»Ich schätze, ich bin Ihnen einige Jahre voraus.«
Von ihr gibt es keine leeren Versicherungen oder Plattitüden.
»Also was denken Sie, was mit Nancy passiert ist?«
»Ich weiß es nicht«, antwortet sie. »Ich weiß es nicht, und dort lasse ich es, in den Händen Gottes, oder was auch immer es gibt.«
»Warum ist sie weggelaufen?«
»Nun, meine Eltern wollten sie auf ein Internat schicken. Sie dachten, es wäre das Beste für sie … sie waren sehr konservativ, verstehen Sie? Ich habe mich gefragt, ob es das war … sie wirkte nie sehr aufgebracht deswegen. Aber man weiß es nie wirklich.«
»Aber glauben Sie, dass sie … dass es ihr gut geht?«
Sie schweigt. Diesmal hängt sie ganz sicher auf. Und mit einem Mal will ich ihre Antwort gar nicht hören.
»Schon gut, ich hätte nicht fragen sollen …«
Aber sie unterbricht mich: »Nancy ist tot.«
Beinahe beiläufig, als wäre das offensichtlich.
»Tot?«
»Natürlich ist sie tot«, erklärt sie etwas weicher. »Das weiß ich seit Langem.«
»Ja?«
»Oh, ich habe keine Ahnung, was passiert ist, worin sie verwickelt war. Wer sie mitgenommen hat. Aber ich weiß, wenn sie noch am Leben wäre, dann wäre sie vor langer Zeit zurückgekommen.«
»Damals ist man noch per Anhalter gefahren, wissen Sie?«
Das lässt sie so stehen. Jetzt wünsche ich mir sehr, dass ich niemals mit ihr geredet hätte.
»Aber warum waren dann alle so sicher, dass sie weggelaufen ist, dass nichts Schlimmes – um Himmels willen – passiert ist? Hat man nicht nach ihr gesucht?«
Ich klinge wütend, so als hätte man Nancy enttäuscht.
»Nun, am Anfang natürlich«, erwidert sie immer noch so ruhig, dass es mich wütend macht. Nein, schicksalsergeben . »Aber niemand dachte, dass ihr was zugestoßen sei. Zunächst glaubten sie, dass sie zurückkommen würde. Wissen Sie, sie hat einen Brief dagelassen.«
»Einen Brief. Und darauf stützte sich alles?«
Bei Sophie waren wir wenigstens sicher, rast es mir durch den Kopf, denn es gab die Aufnahmen vom Busbahnhof, die Postkarten danach …
»Das Hausmädchen hat ihn gefunden, auf dem Bett, morgens. Sie ist in der Nacht weggelaufen. Obwohl, irgendwie«, fährt sie nachdenklich fort, »war das schlimmer. Weil es meinen Eltern Hoffnung gemacht hat.«
Darüber will ich nicht nachdenken.
»Was stand in dem Brief? Ich hoffe, Sie finden die Frage nicht zu aufdringlich. Es ist nur …«
Ich rede nicht weiter. Mir fällt kein Grund ein, warum ich das wissen müsste.
»Das ist okay. Ich erinnere mich gut daran, sogar jetzt noch.«
Nun, da sie über Nancy spricht, scheint sie gar nicht mehr aufhören zu wollen. Vermutlich aus denselben Gründen, weshalb Familienmitglieder mich auf der Hotline anrufen.
Im Singsang rezitiert sie ihn auswendig herunter: »Es tut mir leid, aber ich muss weggehen. Bitte macht Euch keine Sorgen um mich, alles wird gut werden. Alles Liebe, Nancy.«
»Oh«, entfährt es mir. »So kurz.«
»Sie war nie wirklich eine Schreiberin, unsere Nancy. Mehr eine Macherin.«
Draußen im Dämmerlicht pirscht sich Tom an irgendetwas heran, gleitet langsam durch das Gras.
»So kurz wie der von Sophie«, stelle ich fest, während ich den Kater beobachte. Er erstarrt, eine Pfote erhoben. »Und es war ganz sicher ihre Handschrift?«
Ein weiterer bedächtiger Schritt vor.
»Ja, das konnten wir alle sehen. Darüber gab es nie einen Zweifel …«
»Nein, hier auch nicht.«
Danach gibt es nicht mehr viel zu sagen. Ich bedanke mich bei ihr, bevor ich auflege. Und meine es ernst. Sie war großzügig, sowohl mit ihrer Zeit als auch mit ihrer Offenheit.
Ich bleibe beim Telefon. Eigentlich sollte ich gehen, aber ich kann mich nicht bewegen. Ein kaltes Gefühl zieht sich am Grunde meines Bauchs zusammen.
Es muss Zufall sein.
Kurze, kleine Briefe. Keine langen Erklärungen, keine wütenden Rechtfertigungen, keine Vorwürfe. Nur kurze, ernste Abschiede, in ihrer eigenen Handschrift. Wer könnte also wirklich bezweifeln, dass sie es so gemeint hatten?
Und dazu der Anruf, erinnere ich mich. Nancy hat nie angerufen.
Aber eine Wendung geht mir wieder und wieder durch den Kopf: »Ich muss weggehen.«
Ich muss Sophies Brief nicht lesen, um sicher zu sein, dass es gleich klingt, dennoch gehe ich ins Wohnzimmer und nehme ihn vom Kaminsims. Da steht es:
Es tut mir sehr leid, aber ich muss weggehen. Bitte versucht, Euch keine Sorgen um mich zu machen. Alles wird gut werden. Ich liebe Euch alle, Sophie xxx
Einfach nur die gleichen Worte, und diese Phrase, geteilt von zwei verschwundenen Mädchen, die Jahrzehnte auseinanderliegen. Sicher nichts, was einen alarmieren sollte. Ganz sicher nichts, was nicht simpler Zufall sein könnte – oder die Verzweiflung einer Mutter, die etwas sehen will, wo nichts ist.
Das weiß ich, wirklich. Aber ich kann mich nicht davon abhalten, die Frage zu stellen.
Warum klingt ein fast dreißig Jahre alter Abschiedsbrief genau so, als habe meine Tochter ihn geschrieben?