21. Kapitel
A ls Jesse ein weiteres Telefon abhebt und die Leitung mit kindlichem Gebrabbel füllt, hänge ich auf. Von Vicky habe ich alles erfahren, was sie weiß.
Wieder online, gehe ich sorgfältig vor, suche nach allen Kombinationen von Jay mit »Nancy Kerrigan« und »Amberton Grammar«, und was mir sonst noch einfällt, das mich zu seinem vollständigen Namen führen könnte, um herauszufinden, wo er jetzt ist. Ich will einfach nur in Erfahrung bringen, was geschehen ist: Ich will feststellen, dass er nichts mit Nancys Verschwinden zu tun hatte, dass er ein ganz normales, respektables Leben in irgendeinem Reihenhaus irgendwo gelebt hat, in dem das Verschwinden seiner Freundin aus Schulzeiten nur eine traurige Episode aus der Vergangenheit ist. Etwas, an das er an Weihnachten denkt oder an ihrem Geburtstag. Einfach nur traurig. Mehr nicht.
Und noch mehr verbiete ich mir, darüber nachzudenken, warum ich das nun wissen muss.
Eine Weile sehe ich mir die Neuigkeiten an, die sie an Ehemalige der Schule verschicken. Ich speichere das PDF, um zu sehen, ob ein Jay erwähnt wird. Aber nichts.
Als der Anruf kommt, bin ich noch in der Küche und koche mir einen Tee, während die Sonne schon tiefer steht. Aus Gewohnheit lasse ich das Telefon bis zu Ende klingeln. Es muss irgendein Werbeanruf sein oder noch einmal Charlotte. Die Stimme des Mannes auf dem Anrufbeantworter schreckt mich auf.
»Mrs Harlow, DI Nicholls hier. Bitte rufen Sie mich zurück …«
Noch bevor er zu Ende sprechen kann, habe ich das Zimmer durchquert und hebe ab: »Hallo? Am Apparat.«
Er erklärt mir, dass es Neuigkeiten gibt, die er mir lieber persönlich mitteilen möchte.
»Haben Sie sie gefunden?«, höre ich mich mit viel zu hoher Stimme fragen.
»Nein. Nein, tut mir leid. Ich wollte keine falschen Hoffnungen wecken. Hätten Sie jetzt Zeit? Ich hatte es auf Ihrem Handy versucht …«
Ich werfe einen Blick auf den Tisch – mal wieder habe ich vergessen, es aufzuladen. »Ja, natürlich. Soll ich auf die Wache kommen?«
»Nicht nötig. Ich bin ohnehin in der Gegend und komme vorbei.«
Ich lege auf, nehme den Kater auf den Arm und vergrabe das Gesicht in seinem Fell. Er miaut protestierend. »Noch ein Besucher. Wir sind echt ein sozialer Mittelpunkt«, erkläre ich Tom.
Aber ich bin nervös. Sehr nervös. Auch die Nacht darüber schlafen hat mich Sophies E-Mail-Konto nicht nähergebracht. Ich werde es an die Polizei übergeben.
Doch vorher muss ich den Verantwortlichen deutlich machen, wie wichtig es sein könnte.
»Wie es sich herausgestellt hat, waren wir nicht die Einzigen, die sich für die Anruflisten der Hilfsorganisation interessiert haben. Die Flaschenpost-Hotline hatte ein Problem mit Belästigung. Ein Anrufer war besonders unangenehm. Sexuelle Belästigung, immer wenn eine Frau dranging. Drohungen. Und er hat nicht abgelassen.«
»Oh, richtig. Sie meinen so einen obszönen Anrufer.«
Nicholls war aufgetaucht, hatte Tee abgelehnt – »Nur Wasser, danke« – und angefangen zu reden. Für einen Moment lasse ich zu, mir bewusst zu machen, wie seltsam mein Leben derzeit ist: Ein Detective im Anzug sitzt mir am Küchentisch gegenüber, während ich darauf warte, dass er zur Sache kommt. Er ist ganz ruhig, ohne Eile.
Und was er sagt, stimmt. Die Schweratmer sind der Fluch jeder Hotline, jedes Sorgentelefons, aber niemand will das publik machen aus Sorge, dass es Nachahmer ermuntert. Aber wenn man die Ehrenamtlichen oft genug verärgert, dann können die weiter oben, nach viel Nachdenken, jemanden blocken. Ich verstehe nur noch nicht, was das mit mir zu tun hat.
»Also«, hebt er an. »Wie sich herausgestellt hat, hat die Hilfsorganisation schon wegen dieses einen Anrufers mit der Polizei gesprochen, über die Zentrale in London. Und zugestimmt, dass wir uns die Anruflisten der letzten Monate ansehen können, um dessen Identität festzustellen. Sie wollten ihn anzeigen.«
In mir schlägt die Hoffnung Purzelbäume. Waren das gute Neuigkeiten? Hatten sie so Sophies Nummer oder Standort herausgefunden?
Er fährt fort: »Meine Kollegen bei der Metropolitan Police hatten angefangen, sich Nummern anzusehen, von denen mehrfach angerufen wurde. Den Mann haben sie einfach gefunden: Er hat nicht verstanden, dass die Vertraulichkeit bei justiziabler Belästigung nicht mehr greift. Dieser Typ hat hundertfach angerufen, von seinem Festnetzanschluss aus, irgendwo in den West Midlands, während seine Frau tagsüber arbeiten war.«
Darum hatte ich von diesem Widerling nichts mitbekommen: Ich mache nur Nachtschichten.
»Außerdem haben wir nicht viele, die mehrfach anrufen«, füge ich hinzu. Keine echten. Wir bekommen Nachrichten an Freunde und Familie, und ansonsten sollen wir Menschen an längerfristige Hilfsmöglichkeiten weiterleiten. »Aber entschuldigen Sie, wie genau hilft mir das in meiner jetzigen Situation? Sophie hat nur einmal angerufen.«
»Darauf komme ich noch zu sprechen«, erläutert er sanft. »Nun, die Hilfsorganisation hat die Details von Sophies Anruf nicht freigegeben.«
Also hat er darum gebeten.
»Und es gab keinen zwingenden Grund für uns, das durchzusetzen.«
Ich nicke, auch wenn ich nicht zustimme, aber ich verstehe es.
»Als ich also von diesen anderen Ermittlungen gehört habe, habe ich einen Blick auf die Informationen geworfen, die sie zu den wiederholten Anrufen gesammelt hatten – nennen Sie es professionelle Neugier –, und habe dabei etwas Ungewöhnliches entdeckt.«
Eine Sekunde lang habe ich das Gefühl, er wartet auf eine Antwort von mir, dann redet er weiter: »Es gab Dutzende Anrufe an die Hotline von einer Nummer hier aus der Gegend.«
Das verwirrt mich.
»Nun ja, es ist eine landesweite Hotline, aber jeder kann anrufen.«
»Ja, jeder kann anrufen. Und im Zusammenhang mit dieser Nummer gab es keine Belästigung, gar nichts. Wir konnten das schon an der Länge der Anrufe erkennen. Meine Kollegen hatten sie auch schon zurückverfolgt, zu einer Telefonzelle.« Er sieht mich erwartungsvoll an. »Es ist die Telefonzelle am Ende der Park Road. Dieser Straße.«
Die eine nahe der Kreuzung, keine hundert Meter von hier entfernt, wenn überhaupt.
Er reibt sich das Kinn. »Können Sie mir verraten, was da los ist, Mrs Harlow?«
»Nein«, antworte ich verblüfft.
»Ist Ihnen vielleicht jemand aufgefallen, der sich dort an der Telefonzelle herumtreibt?«
»Von hier aus kann man sie nicht sehen.« Das ist offensichtlich. »Sie können mit den Leuten von der anderen Straßenseite sprechen, die wohnen etwas näher daran.«
»Stimmt.« Er runzelt die Stirn.
»Vielleicht habe ich eine Mobilnummer für Sie, falls Sie wollen, es gab mal eine Nachbarschaftsliste, die man uns beim Einzug gegeben hat …«
Ich will mich erheben.
»Nein, schon gut.« Aber er steht nicht auf. »Sie müssen nach dem Verschwinden Ihrer Tochter unter immensem Druck gestanden haben.«
Seine Worte sind sorgfältig gewählt.
»Es geht mir gut.«
Eine Lüge. Und ich merke, dass es eine Richtung einschlägt, die mir nicht gefällt.
Er reibt sich den Nacken, eine kleine Geste des Unbehagens. »Wenn ich das richtig verstehe, war da in Ihrer Vergangenheit etwas. Probleme mit geistiger Gesundheit.«
Ich starre ihn an, mein Mund eine dünne Linie.
»Eine Überdosis. Benzodiazepine. Und Alkohol.«
»Es war keine Überdosis. Jedenfalls nicht so, wie Sie es meinen. Es war ein Versehen.«
»Wer auch immer aus der Telefonzelle angerufen hat, es waren Dutzende und Dutzende Male …«
Plötzlich verstehe ich. »Oh, Sie glauben, ich weiß etwas darüber.«
»Mrs Harlow, niemand macht Ihnen Vorwürfe, ich frage nur …«
»Sie denken, ich tätige Scherzanrufe«, stelle ich tonlos fest. Es ist keine Frage.
»Das habe ich so nicht gesagt.«
Das muss er auch gar nicht.
»Und Scherzanruf würde ich dazu auch nicht sagen. Vielleicht eher …«, fragend hebt er eine Augenbraue, »… Hilferufe?«
In seinem Blick liegt Verständnis. Ich ertrage es nicht.
»Wie auch immer, ich war das nicht«, erkläre ich. »Ja, ich hatte obsessive Gedanken, überängstliche Vorstellungen.« Dem stelle ich mich. »Ich konnte das Verschwinden meiner Tochter – meiner Sophie – nicht hinter mir lassen. Es fiel mir schwer, damit umzugehen. Und da ich nicht schlafen konnte, nahm ich Tabletten. Aber ich habe keine Anrufe getätigt.« Obwohl es sogar in meinen eigenen Ohren schwach klingt, füge ich hinzu: »Es gibt viele Kinder in der Gegend, vielleicht spielen die Streiche.«
Wer um Himmels willen würde von hier anrufen? Da kommt mir ein Gedanke: »Sophies Anruf kam aber nicht auch aus der Telefonzelle, oder?«
»Nein.« Er schüttelt den Kopf. »An dem Abend gab es keine Anrufe von dort. Natürlich haben Sie zu der Zeit bei der Hotline gearbeitet. Ihre Kollegin Alma Seddon hat das bestätigt.«
Jetzt verstehe ich: In seinen Augen habe ich mich quasi selbst belastet. Natürlich gab es an dem Abend keinen Anruf aus der Gegend hier. Ich war bei der Hotline. Aber sonst …
»Hören Sie, es ist nicht kriminell, eine Hotline anzurufen und dann aufzuhängen«, sagt er leise und zieht etwas aus der Tasche seines Jacketts. »Egal, ob oder nicht … ich wollte Sie nur informieren, dass es einige hervorragende Möglichkeiten für Hinterbliebene gibt.«
Damit reicht er mir eine Broschüre, die ich schon mal gesehen habe, und ich starre sie an, während er über posttraumatische Belastungsstörungen doziert, über die verschiedenen Organisationen, die sich auf Hilfe dafür spezialisiert haben. Immerhin erwähnt er nicht die, bei der ich mich engagiere, das muss ich ihm zugestehen.
»Ich danke Ihnen«, presse ich hervor. Sei höflich. Behalte die Kontrolle. »Es ist ohnehin gut, dass sie hergekommen sind. Ich wollte noch mit Ihnen über Sophies Tagebuch reden, über die E-Mail-Adresse darin. Ich bin über einige Übereinstimmungen mit einem anderen Fall gestolpert, den ich Ihnen noch zeigen wollte …«
Als ich aufsehe, bemerke ich seinen Gesichtsausdruck: Ich begreife es noch immer nicht.
Mein Herz schlägt heftig.
»Was genau passiert bei den Ermittlungen? Nach dem Tagebuch … was Sophie über Danny geschrieben hat. Sie haben mit ihm gesprochen. Und mit Holly Dixon, nicht wahr? Geht es da weiter?«
Er antwortet langsam, so als müsse er sich die Worte zurechtlegen. »Ja, wir haben sowohl mit Danny als auch mit Holly geredet. Ihre Version stimmt nicht wirklich mit Ihrer überein, was ihre Gespräche betrifft. Was wohl nicht überraschend ist.«
Das kann ich mir vorstellen: Vor meinem geistigen Auge sehe ich die weinende Holly vor der Wache, wie sie mich bittet zu behaupten, der Schwangerschaftstest sei ihrer gewesen. Und Danny, der darauf besteht, nicht mit Sophie geschlafen zu haben.
Nicholls lehnt sich vor, zieht meine Aufmerksamkeit auf sich. »Und sie haben erklärt, dass es da Spannungen zwischen ihnen gegeben hat. Bevor Sophie weglief.«
Das kann ich nicht bestreiten – ich war von keinem der beiden ein Fan.
»Wenn ein Mensch verschwindet, ist es verlockend, einen Schuldigen zu suchen.«
»Darum geht es nicht«, widerspreche ich. »Ich sage nicht, dass sie … etwas getan haben, aber ich weiß einfach, dass irgendwas nicht stimmt. Etwas, das sie fernhält. Sie haben das Tagebuch, Sie haben es mir gezeigt!«
»Das Tagebuch erklärt, dass sie schwanger wurde und ihr Freund darüber nicht glücklich war. Das ändert nichts, zumindest nicht grundlegend.«
»Aber warum haben Sie das alles nicht vorher gesagt? Sie haben mich glauben lassen …«
Hat er das wirklich? Ich dachte, dass sie es ernst nehmen, dass die Sache wieder in Bewegung geraten war. Ich versuche mich zu erinnern, was sie mir gesagt hatten.
»Ich sagte: Wenn ich Neuigkeiten habe, teile ich sie natürlich mit.« Und genau das tut er: Aber es sind Informationen, die mich in ein schlechtes Licht rücken, die andeuten, dass ich unzuverlässig bin, unausgeglichen. Mir wird schlecht, Panik steigt in mir auf.
»Aber Sophie war am Telefon verängstigt.« O Gott. »Sie glauben mir doch, dass sie mich angerufen hat, oder?«
Wie immer ist er sehr sorgfältig, ganz der Profi.
»Sie sagten, ihre Stimme war nur ein Flüstern. Die Verbindung war schlecht. Dann haben Sie Ihren Namen gehört, und den Ihres Ex-Manns – die Vornamen. Und …«
»Und ich habe gehört, was ich hören wollte«, beende ich seinen Satz erschöpft.
»Das sage ich gar nicht, nicht unbedingt.«
Was er nicht sagt: Es ist egal. Zumindest der Polizei.
Es reicht mir jetzt.
»Ich drehe nicht durch. Nein.« Ich stehe auf. »Vielen Dank für Ihren Besuch, DI Nicholls.«
»Mrs Harlow …«
»Vielen Dank. Ich begleite Sie zur Tür.«
Bis ich die Tür hinter ihm schließe und den Motor seines Wagens höre, reiße ich mich zusammen.
Die Broschüre habe ich immer noch in der Hand. Ich zerknülle sie und lasse sie auf den Boden fallen. Zitternd vor Wut lehne ich mich an die Vordertür. Das ist wenigstens besser als Verzweiflung. Wie kann er es wagen, auch nur anzudeuten, dass diese Anrufe von mir kommen?
Mit Gewalt drücke ich die aufkommende Unsicherheit weg, die sich anfühlt, als würde sich meine Welt verdrehen. Es konnte doch nicht wahr sein, oder? Angst umklammert mein Herz. Natürlich war ich es nicht. Ich weiß es.
Aber wenn meine Familie erfährt, was die Polizei denkt. Mark. Sie würden davon ausgehen, dass es wieder passiert und ich ausraste.
In der Küche gieße ich mir ein großes Glas Wasser ein, trinke es direkt aus. Ein Blick auf den Laptop, auf den Notizblock daneben. Ich muss mir die Wahrheit eingestehen.
Alles ist wieder auf Anfang. Ich bin keinen Schritt näher daran, meine Tochter zu finden. Die Polizei ermittelt nicht.
Nein, korrigiere ich mich. Schlimmer: Sie vertrauen mir nicht mehr.
Die E-Mail von der Hotline war zu erwarten, nehme ich an. Das sage ich mir zumindest, als ich sie am Abend lese.
»Liebe Kate«, beginnt sie. »Wir möchten Ihnen für Ihren Einsatz für die Flaschenpost-Hotline danken.«
Das ist natürlich der angenehme Teil. Der Rest klingt anders.
Meine Dienste werden nicht länger benötigt. Es ist anders formuliert, natürlich wird eher betont, dass die Arbeit bei der Hotline für die ehrenamtlichen Helfer sehr aufwendig ist und man mir vorschlägt, dass ich eine Auszeit nehmen könnte, um darüber nachzudenken, wie ich mein Können anderweitig einsetze.
Ich mache mir nicht mal die Mühe einer Antwort.