22. Kapitel
I nzwischen weiß ich gar nichts mehr mit mir anzufangen. Ich zwinge mich aufzustehen, auch wenn ich nicht wirklich weiß, wozu. Frühstück vor dem Fernseher, Stunden verschwendet, meine schlechte Angewohnheit. Ich fühle mich so erschöpft und besiegt. Dann beginne ich, unnötigerweise das Zimmer aufzuräumen, wische Staub, der kaum vorhanden ist. Danach gehe ich in die Küche, hebe zwei Mal den Hörer ab, halte inne und frage mich.
Soll ich Dad anrufen? Charlotte? Ausnahmsweise suche ich menschliche Nähe. Aber was kann ich sagen, das nicht alles noch schlimmer machen würde? Das sie nicht denken lässt, dass ich den Verstand verliere?
Dann fällt er mir ein: der eine Mensch, der mich nicht richten wird.
Ich schnappe mir meine Schlüssel und gehe hinaus.
Lily sitzt auf ihrem üblichen Platz, döst in ihrem Sessel inmitten eines Strahls Sonnenlicht. Ihr Kopf ist auf die Brust gesunken – das kann nicht bequem sein.
»Lily«, rufe ich. »Lily.«
Ihre Augen öffnen sich, blinzeln sie wach.
»Oh, hallo, Schatz«, begrüßt sie mich, hebt langsam den Kopf. »Ist er schon weg?«
Sie spricht wohl von ihrer Pflegekraft. Aber ich frage mich, ob er wirklich da war oder ob sie mal wieder verwirrt ist.
»Ja, ich bin’s nur. Soll ich uns eine Tasse Tee kochen?«
»Wunderbar. Ja, bitte.«
In der Küche überprüfe ich die Milch und mache uns jeweils eine Tasse. Es beruhigt mich, dass alles aufgeräumt und sauber ist.
Schon habe ich die beiden Porzellantassen in den Händen, schöne Stücke, mit Veilchen bemalt, als ich die Ecke einer sorgsam gefalteten Zeitung auf der Anrichte sehe, auf dem Telefonbuch.
WEGGELAUFEN?
Schick eine Nachricht, dass du in Sicherheit bist
KEINE FRAGEN
Ruf einfach an und übergib uns deine Nachricht
Wir leiten sie weiter
Schicke eine FLASCHENPOST
So gerade eben gelingt es mir, nichts zu verschütten.
»Lily, warum hast du die Zeitung da, mit der Anzeige für die Hotline?«, frage ich drängend, als ich zurück ins Wohnzimmer gehe. Ich höre, wie aggressiv meine Stimme klingt, und versuche, sanfter zu sprechen. »Du weißt doch, dass ich da arbeite. Dass ich mich da engagiere?«
Sie antwortet nicht.
Also stelle ich die Teetassen auf das kleine Beistelltischchen und versuche es erneut: »Hast du vielleicht versucht, mich auf der Arbeit anzurufen? Ein paar Mal sogar?«
Erst bin ich nicht mal sicher, ob sie mir zuhört, aber dann redet sie überraschend lebhaft.
»Weißt du, du hast gesagt, ich kann immer anrufen. Du hast gesagt: Lily, wenn du irgendwas brauchst, zögere nicht, mich anzurufen. Nun, du weißt, dass ich gesagt habe, dass es mir gut geht, aber du hast darauf bestanden. Nun, ich habe gesagt, ich brauche keine …«
»Nein, nein, das ist gut so. Es tut mir leid. Es ist nur … mir war nicht bewusst, dass du wusstest, dass ich da Ehrenamtliche bin.«
Mein Herz ist schwer.
»Natürlich weiß ich das. Ich erinnere mich an Sachen.«
Sie ist verärgert. Ein Zeichen dafür, dass sie sich verletzlich fühlt, das weiß ich jetzt. Fühlt sie sich etwa schuldig?
»Ach Lily, ich wohne doch direkt nebenan. Und du hast meine Nummer, falls jemals was ist.«
Offenbar hat sie versucht, mich bei der Hotline zu erreichen. Und dann … was? Hat sie aufgehängt? Nach mir gefragt? Aber aus der Telefonzelle? Mir war nicht bewusst, dass es ihr so schlecht geht, dass sie derartig verwirrt ist. Was ging ihr nur im Kopf herum?
Da habe ich eine Idee: Ich ziehe den Schemel vor sie.
»Lily, wie geht es deinem kleinen Jungen?«
»Mein kleiner Junge …«
Ihre Stirn legt sich in Falten.
»Ja«, sage ich auffordernd. »Dein kleiner Junge, von dem du mir erzählt hast.«
»Ich habe keinen kleinen Jungen«, erwidert sie tonlos.
»Oh. Ich dachte …«
»Ich weiß nicht, wovon du redest.«
»Es tut mir leid, Lily. Ich dachte, du redest gern über deinen kleinen Freund. Du sagtest, er hatte blonde Locken, genau wie du. Sah er auch wie dein Mann Bob aus?«
Das war ein Fehler.
»Wir hatten keine Kinder.« Sie ist aufgebracht. »Du bist ein gemeines Mädchen.«
Erschrocken ziehe ich mich zurück. Lily ist mir nie böse. Aber ich habe gelesen, dass zusätzlich zu Verwirrung und Vergesslichkeit solche Stimmungsumschwünge ein Symptom für das sind, was ich befürchte: Demenz.
»Es tut mir leid, Lily. Ich wollte dich nicht ärgern.«
»Na gut«, entgegnet sie quengelig. »Aber du fragst zu viel. Ich mag das nicht.«
Sie klingt wie ein Kind.
»Okay. Wir lassen das Thema.« Ich nehme einen tiefen Atemzug. »Ich muss ein paar Dinge erledigen, aber ich schaue bald wieder nach dir. Ich wünsche dir einen schönen Nachmittag.«
Was zum Teufel ist mit ihr los? Zu Hause eile ich an den Laptop, der noch auf dem Küchentisch steht, und gebe den Namen des Medikaments ein, das ich in ihrem Badezimmerschrank gesehen hatte. Ich finde eine Webseite mit Informationen für Patienten und überfliege sie: »Verschreibungspflichtig … genaue Regeln …«
Einen Absatz lese ich zweimal: »Niemals die Tabletten zerbrechen, zerkleinern oder sie kauen oder lutschen. So könnte die gesamte Dosierung auf einen Schlag in Ihren Kreislauf gelangen, was eine potenziell tödliche Überdosis darstellen könnte.«
Ein weiterer Hinweis lässt mir flau im Magen werden: »Was soll ich tun, wenn ich eine Einnahme vergesse?«
Dazu gibt es einen Warnhinweis: Niemals die doppelte Dosis einnehmen, um eine vergessene zu ersetzen.
Inzwischen ist Lily so vergesslich. Und sie hat so viel davon, Fläschchen voller Tabletten und Flüssigkeit. Wofür sind die alle?
Damit ist die Entscheidung gefallen. Lily ist nicht in der Verfassung, sich selbst darum zu kümmern, erst recht nicht, wenn ihre Medizin sie noch mehr verwirren könnte. Der Hinweis auf der Flasche, nach Bedarf einzunehmen – sie könnte es den ganzen Tag schlucken.
Es ist mir klar, dass ich mich einmische – ich will nicht darauf warten, dass Dr. Heath ein ruhiges Wort mit einem Kollegen wechselt. Bevor ich weiter darüber nachdenken kann, rufe ich in der Praxis an und falle über die überraschte Arzthelferin her. Sie bestätigt mir nicht einmal, dass Lily dort Patientin ist, was meine Stimmung nicht gerade hebt.
»Es ist gefährlich«, schließe ich. »Wer auch immer Lily – ich meine, Mrs Green – das verschreibt, könnte ernsthafte Probleme bekommen. Es ist …«, ich suche nach einem Wort, das juristisch klingt, »fahrlässig.«
»Mrs Harlow«, erklärt die Arzthelferin, Valerie. »Ich verstehe. Ich habe alles notiert und werde Ihre Nachricht weiterleiten.«
»Okay. Gut. Und wird man mich zurückrufen? Weil ich nämlich weiter anrufen werde, bis das passiert.«
»Ja«, antwortet sie.
Ich könnte schwören, dass ich knirschende Zähne höre.
»Jemand wird Sie zurückrufen.«
Hoffentlich nicht ich, kann ich sie im Geiste sagen hören, bevor sie auflegt.
Als das erledigt ist, fühle ich mich etwas besser. Aber es ist nicht die Schuld der Arzthelferin. Mir ist bewusst, dass ich meinen Ärger an ihr ausgelassen habe – Ärger über die Polizei, über Nicholls, über mein eigenes Versagen.
Rastlos stehe ich auf und gehe zum Fenster. Wie hätte ich das Gespräch mit Nicholls besser führen können? Ich weiß nicht, ob es in meiner Macht gelegen hätte. Jetzt erinnere ich mich an seine Kommentare, als er mich anfangs angerufen hatte, darüber, wie es dazu kam, dass ausgerechnet ich den Anruf bei der Hotline angenommen habe.
»Aber … ich glaube, es hätte jeder sein können«, hatte ich da gesagt.
»Ja. Ein ziemlich großer Zufall«, war seine überfreundliche Antwort. »Und ist es immer so ruhig, nur Sie allein?«
Mir hätte auffallen müssen, worauf er hinauswollte. Dass ich vielleicht nicht einmal einen Anruf erhalten hatte, zumindest nicht von Sophie. Dass ich mindestens unzuverlässig war.
Weil es so seltsam war, dass ausgerechnet ich abgehoben hatte.
Vor mir selbst kann ich das eingestehen, solange ich niemanden sonst überzeugen muss. Zu allen Zeiten, zu denen sie bei der Hotline anrufen konnte, kam sie ausgerechnet bei mir an.
Ich runzle die Stirn. Irgendwie hatte es gewirkt, als sei die Anruferin ebenso überrascht gewesen wie ich … die Leitung so still, als ob sie in Panik geraten wäre.
Aber vielleicht hatte es sie einfach nur überwältigt. Was, wenn sie wirklich versucht hatte, mich zu erreichen? Wenn sie wusste, woher auch immer, dass ich dort arbeite.
Denk nach. Wenn man im Internet nach mir sucht … ich gehe an den Computer – ja, da bin ich. Man muss ein wenig runterscrollen, um es zu finden, aber da ist mein Name, in dem Zeitungsartikel, der letztes Jahr Weihnachten über die Hotline geschrieben worden ist. Auf dem Foto ziehe ich in der hintersten Reihe der Ehrenamtlichen eine Grimasse – es war der Versuch zu lächeln. Und ja, mein Name steht in der Bildunterschrift. Sie hätte mich dort finden können.
Also war es vielleicht doch kein Zufall. Vielleicht war dieser Anruf für mich gedacht: Möglicherweise konnte Sophie verstehen, wie sehr ich es brauchte, ihre Stimme wieder zu hören, sogar wenn sie mich darum bat, mir keine Sorgen mehr zu machen – sie loszulassen. Und natürlich bedeutete ein Anruf bei der Hotline auch, dass ich keine Möglichkeit hatte, ihn zurückverfolgen zu lassen, anders als zu Hause. Das hielt mich auf Abstand. Es gab ihr sicheren Abstand.
Es ist nur ein ziemlicher Aufwand, mich zu erreichen, nur um versteckt zu bleiben …
Und dann wandern meine Gedanken weiter, denn der Anruf ist nicht das einzig Seltsame bei der ganzen Angelegenheit. Das Tagebuch wurde von einem Spaziergänger gefunden, hatte mir die Polizei mitgeteilt. Dass dies ausgerechnet jetzt passiert, so kurz nach dem Anruf …
Ich rufe mir das Tagebuch noch einmal vor Augen, so wie Nicholls es mir in dem kleinen Zimmer gezeigt hat: Die Seite mit der E-Mail-Adresse sieht richtig aus – nur passt sie nicht zu der, die ich kenne.
Andererseits – wer außer Sophies Mutter würde dieses Detail erkennen?
Mein Herz schlägt schneller, nur ein wenig. Ich muss etwas ausprobieren.
Wieder rufe ich die Website des E-Mail-Kontos auf. Diesmal gebe ich nur Unsinn ein, absichtlich ein falsches Passwort, und komme so zu den Sicherheitsfragen.
So oft habe ich versucht, sie zu beantworten, mein Gehirn nach dem durchsucht, was Sophie als Antwort geben könnte: Wie hieß dein erstes Haustier?
Diesmal tippe ich schnell: Matilda .
So hieß der Corgi, mit dem ich aufwuchs, ein stämmiger kleiner Hund mit einem starken Gefühl für die eigene Würde. Als Sophie noch klein war, habe ich ihr Geschichten von Matilda erzählt, um sie zum Lachen zu bringen …
Die nächste Frage erscheint.
Was ist dein Geburtsort?
Ich nehme einen tiefen Atemzug. Ich bin einen Schritt weiter. Ich hatte recht: Die Frage war für mich bestimmt. Bleib ruhig.
London, gebe ich ein. Das wäre Sophies Antwort. Damals wohnten wir in einer kleinen Wohnung, südlich des Flusses.
Fehler. Natürlich.
Aber jetzt weiß ich es. Noch ein Versuch.
Dieses Mal schreibe ich Manchester, für mich.
Korrekt.
Tränen steigen mir in die Augen, meine Sicht verschwimmt, aber ich lächle, als die dritte Frage erscheint.
Die sind für mich gedacht . Sophie hat mich auf dieses E-Mail-Konto hingewiesen und Antworten eingegeben, die nur ich kennen kann. Sie wusste, dass ich immer nach ihr suchen würde.
Wie lautet der Mädchenname deiner Mutter?
Früher war ich eine Greenwood, aber mit der Zeit erschien es immer einfacher, eine Harlow zu sein. Als wir dann hierhergezogen sind und ich nicht mehr arbeitete, wurde der Wechsel definitiv.
Aber Mum hieß Rhodes, bevor sie Dad geheiratet hat.
Dennoch zögere ich, bevor ich es eingebe – ich stehe so kurz davor, dass ich fast nicht glauben kann. Was, wenn es nicht funktioniert? Was, wenn das Konto leer ist oder, schlimmer noch, inaktiv und ich niemals erfahre, was es darin gab. Bitte, Gott …
Ich tippe: Rhodes.
Ich bin drin und sehe den Posteingang.
Es gibt nur eine Nachricht, der Betreff »FW:«, eine weitergeleitete E-Mail. Ich klicke sie an und fange an zu lesen.
Dann lese ich sie schnell noch einmal. Mein Mund ist ganz trocken, in meinen Ohren dröhnt mein Puls. Ich schlucke.
O Sophie. O nein. Was hast du getan?