Teil 2
23. Kapitel
Sophie
E
s heißt, Weggehen ist einfach, schwierig sei es, wieder nach Hause zu kommen. Bevor ich es selbst getan habe, habe ich das irgendwo gelesen. Damals hätte ich nicht gedacht, dass das in meinem Fall so konkret werden würde.
So richtig kann ich mich nicht erinnern, wer zuerst auf die Idee gekommen ist. Es kam mir wie meine vor. Jetzt bin ich da nicht mehr so sicher. Mir war natürlich bewusst, dass es Menschen verletzen würde. Und das wollte ich nie. Aber sie werden schon damit klarkommen, hatte er mir gesagt, du wirst ihnen einen Brief dalassen. Und es ist ja nicht für immer.
Um das, was ich mitnehmen würde, sollte ich mir keine Sorgen machen, nur um das, was ich zurücklasse: mein Handy, meine Bankkarten; Sachen, die sich zurückverfolgen lassen. Und ich hob mein ganzes Geld ab, auch wenn ich wusste, dass ich keines benötigen würde. Es musste richtig aussehen.
Alles lief genau nach Plan. Ich nahm den Bus aus Manchester vom Busbahnhof in Amberton und kaufte eine Fahrkarte nach London. Drei Haltestellen weiter, nach dem Flughafen, verdrückte ich mich mit meinem Rucksack an die Tankstelle, ging mit einer Gruppe Schüler, die rauchen wollten. Nur ich ging nicht wieder zurück.
Wie abgemacht holte er mich ab.
Als er den vollgestopften Rucksack bemerkte, gefiel ihm das nicht, weil er befürchtete, jemand könnte daraus Schlüsse ziehen.
»Bleib locker«, sagte ich. »Niemand denkt sich was dabei. Ich habe Dad gesagt, dass ich bei Holly bin.«
»Und hat jemand gesehen, wie du aus der Schule raus bist?«
»Ich glaube nicht. Und selbst wenn, dann denken sie, ich mache blau. Keine Sorge.«
Ich fand es schön, als ich ankam, wie die Sonne des späten Nachmittags lange Schatten auf den Teppich warf. Es wirkte warm und gemütlich.
»Oh, schau«, rief ich. »Alles ist für mich vorbereitet.«
»Ich habe nicht viel gemacht.« Er wirkte angespannt. Ich dachte, er mache sich Sorgen, ob es mir gefällt.
»Ich liebe es!«
In der Ecke lehnte eine große Stehlampe über einem abgenutzten grünen Sofa. Es gab den Teppich, eine kleine Kommode mit Schubladen, eine umgedrehte Kiste.
»Für den Fernseher«, erklärte er. »Darum kümmere ich mich noch.«
Ich ging zur Wand und strich mit den Fingern über die Holzvertäfelung, weich und warm, dann folgten meine Fingerspitzen einer geschnitzten Blume. Jetzt, da ich hier war, wusste ich nicht so richtig, was ich tun sollte. Hinter einem altmodischen Raumteiler lag eine Matratze, mit Kissen und Decke, alles bezogen.
»Sehr edel.«
Ich lächelte, um ihm zu zeigen, dass mir alles gefiel. Es gab sogar einen Kühlschrank.
Ich sah hinein: Milch, Eier, Orangensaft.
»Was, keine Mini-Bar?«
»Du bist zu jung.«
»Ja, das war ein Scherz.«
Der Geruch nach Farbe kitzelte in meiner Nase. Ich musste niesen.
In einer anderen Ecke, hinter einer dünnen Wand, gab es ein Waschbecken und eine Toilette, eine alte, mit einer Kette zum Abziehen. Er folgte mir hinein, stieß beinahe mit dem Kopf an die nackte Glühlampe in der Fassung über uns und drehte sie auf und wieder zu.
»Funktioniert alles. Habe ich überprüft.«
Als ich die weiße Wand berührte, fühlte sie sich noch feucht an.
»Du hast viel gearbeitet«, stellte ich fest. »Und an alles gedacht.«
»Natürlich habe ich das«, erwiderte er. Da war ein Hauch von Vorwurf wegen meiner Überraschung.
»Es ist riesig«, erklärte ich, um meine plötzliche Nervosität zu übertünchen. »Und jetzt ist das alles meins.«
Ich wollte die Stimmung locker halten, für mich genauso wie für ihn; ich wollte, dass seine Aufregung so groß war wie meine.
»Keine Badewanne«, fügte ich hinzu.
»Da kann ich vielleicht was arrangieren«, antwortete er. »Sollte nicht allzu schwierig sein. Für den Moment musst du aber Wasser im Kessel heiß machen und die Plastikwanne benutzen.«
»Im Ernst?« Ich musste lachen, dann umarmte ich ihn. »Wirklich, alles gut, versprochen. Es wird ja nicht lang sein.«
Er streichelte meine Haare.
Mum sagt immer, dass ich schlau bin, und ich versuche wirklich, mir das einzureden. Aber ich fühle mich so dumm.
In dieser ersten Nacht blieb er bei mir. Ich fühlte mich gut, bestätigt.
Bevor er morgens ging, redeten wir darüber, was ich den ganzen Tag über tun würde: lesen, Essen kochen, fernsehen. Ich nickte.
»Ehrlich, wir haben das besprochen – ich verstehe das. Du kannst nicht überall sein.«
Dennoch war ich entsetzt, als ich, nachdem er weg war, die Tür öffnen wollte und sie verschlossen fand: Die Metallklinke bewegte sich nicht. Als er abends zurückkam, stritten wir deswegen. Damals kam er noch oft.
»Es ist zu deiner eigenen Sicherheit«, wiederholte er immer wieder. »Es ist sonst nicht sicher. Für dich, für mich. Jemand könnte dich sehen, sogar hier. Du kannst ohnehin nicht nach draußen. Also warum soll die Tür nicht abgeschlossen sein?«
»Aber warum musst du mich einsperren?« Ich war frustriert, heiße Tränen stiegen mir in die Augen. »Das ist nicht fair!«
»Sophie«, sagte er mit ernster Miene, »du musst Verantwortung übernehmen. Mein Leben steht ebenso auf dem Spiel wie deines.«
Ich zog eine Grimasse.
»Dein Einkommen«, korrigierte ich ihn. »Nicht unsere Leben.«
»Und sobald ich sicher bin, dass ich dir da vertrauen kann«, fuhr er fort, »nun, dann sehen wir weiter.«
»Aber ich gehe nicht raus, versprochen. Vertraust du mir
nicht?«
»Natürlich tue ich das«, beruhigte er mich. »Es ist nur, du bist impulsiv. Es ist nicht fair, dir diese Verantwortung aufzubürden, deiner Sicherheit und meiner wegen. Aber du verstehst doch, oder? Solange abgeschlossen ist, kann auch niemand reinkommen. Es ist viel sicherer so. Du bist hier ganz allein. Der Gedanke, dass du schläfst und dann …«
Daran hatte ich gar nicht gedacht.
»Okay, das verstehe ich.« Ein tiefer Atemzug.
»Braves Mädchen.«
Er küsste sanft meine Stirn, und ich lächelte.
Wie immer ließ er alles so vernünftig klingen. Und er ist so gut darin, mir das Gefühl zu geben, unrecht zu haben. Am Ende nahm ich es hin. Das war nicht mein erster Fehler.