24. Kapitel
Kate
A lso ist sie nicht weggelaufen. Zumindest nicht so, wie wir dachten.
Meine Nachricht wurde von Sophies anderem Konto geschickt: Sharlow90@gmail.com  – das wir überprüft hatten. Nach dem Senden musste sie die Mail gelöscht haben; ich weiß, dass sowohl der Postausgang als auch der Papierkorb des Kontos untersucht worden waren.
Ich bewege die Finger; sie sind kalt.
Es dauerte einige Sekunden, bis ich verstand, was ich da las. Es ist eine E-Mail-Konversation, eine Reihe von Nachrichten, die sie an sich selbst geschickt hat, an dieses geheime Konto.
Jetzt lese ich sie wieder, atme bewusst ruhig. Es ist sinnlos, jetzt in Panik zu geraten. Die Mails sind kurz; ich habe den Eindruck, es ist der Weitergang einer fortlaufenden Konversation:
Am 10. Mai 2016 um 18:05 schrieb King Pluto <King_pluto@hotmail.com>:
Alles bereit?
Am 10. Mai 2016 um 18:09 schrieb Sophie Harlow <Sharlow90@gmail.com>:
Ja! Ich bin bereit x
Das ist Sophies Konto bei Gmail, das wir kennen. Die Antworten kommen schnell:
Müssen wir den Plan noch mal durchgehen?
Sophie: Nur wenn du willst. Ich bin sicher. Und aufgeregt x
Du weißt, dass du ruhig bleiben musst. Verhalte dich nicht zu glücklich oder auffällig.
Ich weiß! Ich habe gerade einen weiteren Streit angefangen, Hausaufgaben diesmal. Fühle mich schlecht :(
Es muss getan werden. Nur noch ein paar Tage. Lösch die Nachrichten.
Du bist so ein Sorgenkopf. Mache ich doch immer!
Ich meine es ernst. Du weißt, dass ich nachsehe. Lösch sie.
Okay, mache ich. x
Ich kann es nicht erwarten, bis wir zusammen sind.
Ich auch nicht. Bis bald x
Bis ganz bald
Also wusste jemand, dass sie weglaufen würde. Nicht nur das, jemand hatte vor, mit ihr zu gehen. Und nun dreht sich eine Frage wieder und wieder in meinem Kopf: Wer? Denn alle, die sie kannte, sind noch hier.
Ich sehe mir das Datum der weitergeleiteten Nachrichten noch mal an – die ganze Konversation ist vom 10. Mai 2016 zwischen 18:05 und 18:17 – und sehe online in einen Kalender. Wie ich es mir schon dachte: Es war ein Dienstag. Hausaufgabenzeit, während ich unten herumlief, noch verärgert wegen unseres letzten Streits, war sie sicher oben in ihrem Zimmer. Mark war noch auf der Arbeit.
Aber sie war nicht sicher. Sie traf Vorbereitungen, drei Tage bevor sie ging, mit jemandem, der wollte, dass sie das Geheimnis hütete: »Du weißt, dass ich nachsehe.«
Wie?
Falls sie auch ihr Passwort kannten, konnten sie sich einfach selbst einloggen. Die Gewissheit, dass sie es tun würde, lässt es mir eiskalt den Rücken herunterlaufen. Kein Überreden, keine Koseworte – nur Befehle.
Und ich weiß, wann das war, begreife ich jetzt. Genau nach dem letzten Streit, in der letzten Woche. Ich erinnere mich, wie er geendet hat: Sophie schlug die Küchentür zu.
»Lass mich einfach in Ruhe. Ich ertrage das nicht! Kapierst du das nicht? Ich brauche meine Freiheit!«
Um dann nach oben zu gehen und mit wem auch immer zu reden.
Diesen Streit bin ich so oft im Kopf durchgegangen. Wenn ich mich an dem Abend doch nur anders verhalten hätte … es schien aus dem Nichts zu kommen. Jetzt verstehe ich es. Sie haben es vorbereitet; eine altbekannte Geschichte erzählt: Ärger in der Familie, ein unglücklicher Teenager – ein Grund für ihr Verschwinden. Aber so war es gar nicht.
Und »Bis bald« . Aber wann? Am nächsten Tag in der Schule? Oder erst, als sie weggelaufen ist?
Aber ich weiß es.
Die Mail zeigt, dass sie am 13. Mai um 02:35 gesendet wurde – drei Tage nach dem Austausch. Der Tag, an dem sie weglief. Sophie hat diese kurze Konversation in der Nacht, bevor sie ging, an sich selbst weitergeleitet, ganz früh, als wir alle noch schliefen – hat sie dort archiviert, wo niemand sonst sie finden würde.
Das war ein Notfallplan, zur Sicherheit. Immerhin ist sie die Tochter ihrer Mutter: vorsichtig. Oh, nicht genug, um mir zu sagen, wohin sie geht. Nicht genug, um mir zu sagen, mit wem. Aber gerade genug, um eine Spur zu legen, falls … falls sie jemals wollte?
Denn wohin meine Tochter auch ging und wem auch immer sie das anvertraute, ein Teil von ihr – wie klein er auch war – vertraute ihnen nicht. Nicht gänzlich.
Ich bleibe am Computer, durchforste das Internet nach dieser E-Mail-Adresse von King_Pluto. Natürlich erwarte ich nicht, eine Visitenkarte zu finden, aber ich hoffe, dass irgendjemand dumm genug war, einen Fehler zu machen, nur einmal, und diese Adresse benutzt hat, um sich für irgendwas zu registrieren, oder vergessen hat, dass sie noch eingeloggt ist und in irgendeinem Forum einen Kommentar hinterlassen hat. Einen Fußabdruck, irgendwo.
Es findet sich nichts.
Ich lehne mich zurück. Nun, da es passiert ist, bin ich seltsam ruhig.
Ich wusste es. Ich wusste, dass es keinen Sinn ergab. Nicht so, wie es angeblich geschehen war. Nicht meine Sophie.
Ich kann es nicht erwarten, bis wir zusammen sind.
Bevor ich nachdenken kann, tue ich es: Ich logge mich in mein eigenes E-Mail-Konto ein, das ich für alles nutze. In meinen Entwürfen suche ich nach meiner Standardnachfrage: »Haben Sie dieses Mädchen gesehen?«, mit ihrem Bild dazu.
Innerhalb von Sekunden bekomme ich eine Antwort und öffne sie.
Ihre Nachricht konnte nicht zugestellt werden … die Mailbox des Empfängers ist nicht verfügbar.
Die E-Mail-Adresse existiert nicht mehr. Jemand hat seine Spuren verwischt.
Ich stütze die Ellbogen auf den Tisch und reibe mir die Augen. Wem könnte sie geschrieben haben? Denk logisch.
Danny? Oder einem Freund, dem sie sich anvertraut hat; jemandem, der oder die auch wegwill. Aber was geschah dann? Haben sie einen Rückzieher gemacht – und die ganze Zeit geschwiegen?
Nein. Das ist nicht nur ein Freund. Ich kann es nicht erwarten, bis wir zusammen sind. Aber es ist auch nicht Danny, da bin ich sicher, nachdem ich das Tagebuch gelesen habe, denn ich weiß, wie schlecht es zwischen den beiden am Ende stand …
Mit einem Mal richte ich mich ruckartig auf: Dem Tagebuch kann ich kein Vertrauen mehr schenken. Weil nichts von alldem darin erwähnt wird – dieser Jemand, der meiner Tochter geheime E-Mails schreibt. Aus welchen Gründen auch immer wollte Sophie nichts über ihn ins Tagebuch schreiben, nicht mal, als sie Details ihrer Schwangerschaft festgehalten hat, die Probleme mit ihrem Freund, wie unglücklich sie war.
Also sind die Tagebucheinträge … falsch. Oder zumindest erzählen sie nicht die ganze Wahrheit.
Mein Herz schlägt heftig.
War irgendwas davon wahr? All die neuen Einträge, die wir nicht kannten, die es aussehen ließen, als läge ihr Verschwinden an einer unerwarteten Schwangerschaft, wegen der »Problemlösung« und einem hitzköpfigen Freund, der schlecht reagierte. Endlich hatte Sophies Handeln einen Sinn bekommen.
Aber eine leise Stimme flüstert mir zu: Und dir einen Sündenbock präsentiert. Danny.
Das ist alles so viel, ich will den Gedanken wegschieben.
Wie hätte ich es nicht bemerken können, wenn sich Sophie mit jemand anderem eingelassen hätte? Sie war sechzehn, das ist unmöglich.
Aber der Zeitpunkt stimmt. Nach zwei Jahren taucht das Tagebuch auf, und nur jetzt, als ich vom Schwangerschaftstest erfahren habe, als ich anfing, Fragen zu stellen … und was hat Nicholls gesagt? Er sagte, dass es richtig von mir war, meine Sorgen mitzuteilen. »Denn das hat dazu geführt, dass Sophie bei uns wieder frisch im Kopf war, als das Tagebuch gebracht wurde. So was sollte nicht unter dem Radar laufen, natürlich nicht, aber manchmal wird die Bedeutung nicht so klar …«
Was für ein Glücksfall, hatte ich da gedacht. Sonst hätten sie es vielleicht verpasst.
Jetzt denke ich: Alles zu einfach, es passt zu genau, als dass es nicht auffällig wäre.
Jesus. Falls ich Danny dadurch falsch verstanden habe … was hat er gesagt, als ich bei ihm war? Ich wünsche mir, ich hätte Notizen gemacht; ich bin alles falsch angegangen, so schludrig. Er hat gesagt, dass zwischen ihm und Sophie nie was passiert ist, da war er deutlich. Und da gab es sicher noch was. Irgendwas entgeht mir … nein, es ist weg.
Aber wenn es einen Sündenbock gibt, dann auch jemanden, der beschützt wird: King_Pluto. Der Mensch, der weiß, wo Sophie ist?
Derjenige, der sie wirklich geschwängert hat?
Ich muss mich bewegen und stehe auf. Aber warum hast du all das getan, Sophie? Warum führst du mich zu den Nachrichten? Warum überhaupt die Sache mit dem Tagebuch, wenn du mich doch wissen lässt, dass es nicht die ganze Wahrheit ist? Wieso für jemanden Spuren verwischen und es gleichzeitig zunichtemachen? Warum bei der Hotline anrufen, um mir zu sagen, dass es dir gut geht, und mich dann zu verängstigen?
Es ergibt keinen Sinn.
Bis es mit einem Schlag, der mir Übelkeit verursacht, doch welchen ergibt.
Wenn man es genau betrachtet, gibt es nur eine wirklich logische Antwort.
Weil das alles war, was sie tun konnte . Alles, was er ihr erlaubt hat.