25. Kapitel
Sophie
A
m Anfang war es wie Vater-Mutter-Kind spielen. Unsere eigene kleine Welt, nur ich und er – genau, wie ich es gewollt hatte. Und nach all der Heimlichtuerei war es befreiend, so viel Zeit zusammen zu verbringen.
Gleichzeitig war es aber auch seltsam. Manchmal hatten wir uns einfach nicht viel zu sagen. Von meinen Tagen gab es aus offensichtlichen Gründen nicht viel zu erzählen. Es war anders, als ich es mir vorgestellt hatte, falls ich mir darüber überhaupt Gedanken gemacht hatte.
So ist das,
sagte ich mir. Erwachsen sein. Also werde erwachsen.
Oft saßen wir auf dem Sofa und sahen fern, wenn er da war, und später räumte ich auf und packte das Geschirr ins Waschbecken. Es war wirklich nicht einfach zu kochen, aber es gab eine Mikrowelle, einen Toaster und bald auch eine Herdplatte.
»Und du hast natürlich den ganzen Tag Zeit«, sagte er. »Du wirst noch eine gute Köchin.«
»Das ist wohl ein Witz«, erinnere ich mich, gesagt zu haben.
Meine Mahlzeiten waren wie beim Camping: gebackene Bohnen auf Toast, Rühreier. Einmal brachte er Fisch mit, den ich in der Pfanne zu braten versuchte. Nach kurzer Zeit stank alles – es gab keine Dunstabzugshaube.
Also blieb es das einzige Mal. Schon bald aß er nicht mehr die Ergebnisse meiner Kochkünste, sondern sagte, er würde zu Hause essen. Das bedeutete auch, dass er nicht mehr so viel Essen mitbringen musste, wenn er kam. Stattdessen gab es Zutaten für die kalte Küche: Brot, Müsli, viel Obst – »Damit du gesund bleibst.«
»Es geht mir gut.«
Es sei zu meinem Besten, ich nehme hier zu sehr zu, sagte er.
Aber zum größten Teil war es gut.
Dann fielen mir immer mehr Kleinigkeiten auf. Wie sein Trick, wenn er ging.
Die ersten paar Male glaubte ich wirklich, dass er mich nur vermisste. Immerhin behauptete er, das Gehen nicht ertragen zu können. Er war nur zwei Stunden weg, eine halbe Stunde, einmal sogar nur fünfzehn Minuten, dann sprang er durch die Tür, ganz wild darauf, mich zu sehen. Jedes Mal ein wenig anders.
Aber ich fing an, mir Fragen zu stellen. Denn normalerweise konnte ich seine Schritte auf der Treppe hören, wenn er kam. Aber immer wenn er früher auftauchte als erwartet, schwang die Tür auf, und ich erschreckte mich, denn ich hatte ihn gar nicht kommen gehört.
Und obwohl sich seine Worte nett anhörten, genau das waren, was ich hören wollte – »Ich habe dich vermisst, ich musste dich sehen« –, tat er immer das Gleiche, wenn er hereinkam: dieser schnelle, suchende Blick durch den Raum. Nur mit den Augen, ohne den Kopf zu bewegen – als sollte es mir nicht auffallen.
Natürlich sah er nach, was ich tat – versuchte zu erkennen, ob ich schon angefangen hatte, die Fenster auszutesten oder die Dielen, ob ich schon nach Fluchtwegen suchte. Und schlussendlich tat ich das.
Aber damals war ich nicht sicher, was es bedeutete, nicht bis zu jenem Tag, an dem er die Tür nicht abschloss. Immer wenn ich jetzt hier allein bin, warte ich ein wenig, nachdem er gegangen ist, und überprüfe dann die Tür – einfach nur, um nachzusehen. Sie ist immer abgeschlossen.
Nur einmal, in den Anfangstagen, war sie es nicht.
Als sich der Türknauf bewegte, war ich so begeistert, dass ich direkt die Treppe runterlief, immer zwei Stufen auf einmal nehmend, und die zweite Tür am Fußende der Treppe öffnete. Auch die war nicht abgeschlossen.
Und dort stand er, wartend. Mir schnürte es die Kehle zu, selbst während ich mir alles genau ansah: der beleuchtete Flur hinter ihm, die gleiche alte Holzvertäfelung. Dann schob er mich zurück, ohne ein Wort zu sagen, und schloss die Tür hinter sich.
»Du hast mich erschreckt!«, stellte ich fest. »Ich habe vergessen, dich zu fragen …«
Er drängte mich die Treppe empor.
»Kannst du mir mehr Obst besorgen? Ich glaube, ich brauche mehr Vitamine.«
Ich glaubte nicht, dass ich ihn täuschen konnte, wirklich nicht, aber so war es einfacher. Immer weiter etwas vorspielen.
Also plapperte ich drauflos, während er mich in den Raum schob, eine Hand auf meinem Rücken. Er verlor kein Wort darüber, nicht mal, als er am nächsten Tag mit dem Obst wiederkehrte, um das ich gebeten hatte. Er wusste es.
Ich habe ihn enttäuscht,
dachte ich. Ich hätte das nicht tun sollen. Deshalb ist er wütend.
Heute verstehe ich es natürlich. Es war kein Versehen. Er hat mich kontrolliert.
Dennoch dauerte es Wochen, bis ich die Bedeutung des Fensters verstand. Ich hatte ewig versucht, das Dachfenster zu öffnen, auf dem Stuhl unter dem blauen Rechteck stehend. Da ich es nur so gerade eben erreichen konnte, hatte ich nicht genug Kraft.
»Die Farbe verklebt es wohl«, erklärte ich ihm, als er das nächste Mal erschien. »Ich sehe nicht mal, wie man es öffnet.« Ich empfand bereits eine gewisse Klaustrophobie. »Es ist einfach zu warm hier drin«, fügte ich missmutig hinzu.
»Mach dir deshalb keine Gedanken«, beruhigte er mich. »Es klemmt wohl. Ich kümmere mich darum.«
Bei seinem nächsten Besuch brachte er einen Ventilator mit, einen richtig großen.
»Aber ich will frische Luft«, widersprach ich. Ich erinnere mich, dass ich mich als undankbar empfand.
»Kinder, die was wollen«, erwiderte er und lachte.
Diese Momente habe ich früher gehasst – wenn er mich wie ein Kind behandelte. Jetzt nicht mehr. Ich will das. Da ist diese Ahnung, dass es helfen könnte, wenn er denkt, ich verstehe nicht so richtig, was passiert.
Denn irgendwann begriff ich es. Wieder sah ich mir das Fenster an, an einem hellen Sommermorgen, während der Ventilator in der Ecke summte. Diesmal hatte ich Magazine auf dem Stuhl gestapelt, so hoch, dass ich näher rankam. Zuerst dachte ich, alles würde herunterrutschen, und balancierte vorsichtig. Aber dann fand ich mein Gleichgewicht, atmete vorsichtig.
Mit den Fingern ertastete ich den Rahmen des Fensters über meinem Kopf. Es war nicht so alt wie das meiste andere hier. Er musste es für mich erneuert haben. Es sah definitiv modern aus, der Rahmen weiß gestrichen, das Material auf keinen Fall Holz. Es war kühler, härter. Am Rand wirkte das Glas dicker, das schwache Spiegelbild meines Gesichts war dort leicht verschwommen. Doppelt verglast?
Mir kam ein Gedanke.
Ich sah es mir noch mal genauer an – es war keine Einbildung. Es war nicht durch die Farbe verklebt. Es klemmte auch nicht. Es gab keine versteckte Art, es zu öffnen. Es ließ sich gar nicht
öffnen.
Danach achtete ich auf alles. Ich fing an, mir alles genauer anzusehen: nach Auswegen zu suchen. Für den Notfall, redete ich mir ein.
Die Wände waren solide, kalt unter meinen Händen, ebenso wie die Dachvorsprünge. Diese alten Häuser waren noch massiv gebaut worden. Das Dachfenster in der Mitte des Zimmers, dort, wo die Decke am höchsten war – nun, das hatte ich ja probiert.
An einem anderen langen Nachmittag, als die Sonne schon in den Abend herabglitt, zog ich in einigen Ecken den Teppich ab. Nur um mal nachzusehen. Das Holz war dick und sah massiv aus.
»Eiche«, erläutert er einige Tage später. »Das Material des Bodens.«
Ich erstarrte über meiner Zeitschrift. Im Fernsehen lief eine langweilige Sendung über Renovierungen, die Mum sicher gemocht hätte. Bestimmt sagte er das deshalb.
»Klopf mal drauf.«
Stumm beugte ich mich vor und klopfte auf den Teppich.
»Ist immer noch gut in Schuss und dick. Es wäre eine Schande, es zu beschädigen.«
Ich antwortete nicht, aber mein Gesicht wurde heiß. War er wütend? Wusste er Bescheid? Ich konnte es nicht erkennen.
Es ist meine Schuld,
redete ich mir ein. Ich zweifle ihn an, dabei muss ich ihm vertrauen.
Das sagte er immer wieder.
Ich weiß nicht, wie weit ich wirklich gegangen wäre. Auch wenn es beschämend ist, das zuzugeben, aber damals wurde mir das nie so klar. Dass ich was tun würde? Mit einem Löffel graben, an den Wänden kratzen? Mit einer Scherbe in der Hand hinter der Tür warten? So richtig konnte ich es vor mir selbst nicht zugeben. Und er prüfte mich die ganze Zeit, um zu sehen, ob ich das alles mitmachte. Um herauszufinden, ab wann ich Widerstand leisten und Nein sagen würde.
Doch am Ende war es egal, denn bald veränderte sich alles.
Und doch spielen wir weiter unsere Rollen, geben die ganze Wahrheit nicht voreinander zu, sogar jetzt noch. Er? Dass es gut so ist und dass ich damit einverstanden sein könnte. Und ich – dass ich nicht begreife, was los ist: dass ich nicht gehen kann.
Die Sache ist, dass ich diese Version von ihm vorziehe, auch wenn sie falsch ist. Ich will die Wahrheit gar nicht sehen.
Denn dann habe ich große Angst.