26. Kapitel
Kate
N och immer habe ich mich nicht bewegt, während ich versuche, mich zu entscheiden. Ich sollte die Polizei informieren.
Aber dann stelle ich mir Nicholls an meinem Küchentisch vor, der mir berichtet, dass aus der Telefonzelle nahe meines Hauses Anrufe getätigt wurden … ich kann nicht riskieren, schon wieder abgefertigt zu werden, mich der höflichen Andeutung zu stellen, dass ich da nicht ganz zuverlässig bin; dass das alles ein wenig zu viel für mich ist. Dass es sogar hierfür eine Erklärung gibt.
Fast kann ich es hören: »Also was Sie da sagen, Mrs Harlow, ist, dass jemand anderes wusste, dass Sophie weglaufen wollte – aber Ihnen fällt niemand ein, der vermisst wird. Nun, das ist doch positiv, oder? Und dass Sophie es nicht ihrem Tagebuch anvertraut hat … haben Sie nicht berichtet, dass sie es vorher schon einmal gefunden und auch gelesen haben? Das ist also eventuell verständlich. Aber selbstverständlich sehen wir uns das mal an … wenn es Ihnen hilft.«
Nein, das tun sie bestimmt nicht. Sicherlich werden sie das ernst nehmen. Das müssen sie.
Aber ich bin nicht zuversichtlich und nicht wirklich überzeugt.
Ich brauche Unterstützung.
Nach dem dritten Klingeln hebt Charlotte ab.
»Ich weiß, es ist ein Weilchen her, aber könntest du vorbeikommen? Dad auch? Es gibt einiges, worüber ich mit euch reden muss.« Ein tiefer Atemzug. »Ich brauche eure Hilfe. Ich würde das lieber von Angesicht zu Angesicht erklären.«
»Okay. Ich muss nur was für die Kinder organisieren. Und nachsehen, ob Phil da ist – keine Sorge, alles ist gut, wir kommen. Wann?«
»Wie schnell könnt ihr hier sein?«
Als ich auflege, fühle ich mich ein kleines bisschen erleichtert. Sie ist gut darin, Krisen zu bewältigen. Vielleicht ist es an der Zeit, ein wenig mehr mit meiner Familie zu teilen und ihre Hilfe anzunehmen – hoffe ich. Sie hat gesagt, sie spricht mit Dad und sammelt ihn morgens ein, dann kommen sie direkt zu mir. Dann kann ich ihnen alles berichten, was passiert ist. Ich werde dafür sorgen, dass sie die Tragweite begreifen, und dann können wir gemeinsam zur Polizei gehen.
Die Mails sind älter als zwei Jahre. Was kann eine Nacht schon für einen Unterschied machen? Aber selbst mit diesen Gedanken fühle ich mich unwohl. Ich will nicht warten.
Ruhelos stehe ich auf und gehe ins Wohnzimmer. Ihre Postkarten und der Abschiedsbrief liegen immer noch auf dem Glastisch, natürlich unberührt. Einer der Vorteile, wenn man allein wohnt, nehme ich an.
Dann ist da ein kleiner Funke Aufregung.
Wenn in Sophies Tagebuch die E-Mail-Adresse versteckt war, was konnten mir diese Nachrichten noch mitteilen?
Mit neuer Energie hole ich den Notizblock. Die E-Mails habe ich geknackt. In den Nachrichten muss sich irgendwas finden lassen. Ich schaffe das.
Nach einer halben Stunde komme ich zu dem bereits bekannten Schluss. Die Worte sind zufällig gewählt. Keine geheimen E-Mails oder Wörter oder Puzzles. Da steckt einfach nicht viel drin.
Unsere Adresse. Eine pflichtbewusste, fade Nachricht an uns, gerade genug, um uns zu versichern, dass sie noch lebt. Ihre Handschrift unverändert, drei Küsschen – xxx – und immer die feine kleine Blume neben ihrer geschwungenen Unterschrift.
Ich frage mich, wann sie wohl zu alt dafür wird, lächle bei dem Gedanken und schnippe die Karten auseinander. Vielleicht ist sie das schon. Auf der ersten Karte war es wie ein Gänseblümchen, die Vorstellungen eines Kinds von einer Blume, wie vorher immer, aber dann hat sie es ein wenig verändert. Das hob meine Laune: War es ein kleines Zeichen, dass sie zu mir hingezogen wurde? Denn sie wurden detaillierter, kleine Kreise aus Blüten innen. Oder soll es vielleicht eine Rose sein?
Nun, Biologie war nie ihre Stärke. Ich frage mich, ob sie immer noch so viel malt wie früher.
Mein Lächeln schwindet. Wenn ich weniger Augenmerk auf schulische Fächer gelegt hätte, wäre sie vielleicht noch hier, um mir echte Blumen zu geben, nicht diesen traurigen kleinen Strauß hier. Unerwartet steigen mir Tränen in die Augen, lassen die Schrift auf den Karten verschwimmen. Ich bin müde, sage ich mir, es war ziemlich viel heute. Es ist gut. Es wird alles gut, es muss einfach. Ich darf mich nicht ablenken lassen.
Also werde ich einfach was anderes versuchen. Was weiß ich noch?
Bei der Amberton Grammar erinnern sie sich noch an mich. Die Sekretärin, Maureen, kommt aus ihrem Büro, um mit mir auf einem der genoppten orangenen Sofas zu plaudern, die hell vor den beigen Wänden stehen. Sie hat sich nicht verändert, ihre hellblonde Frisur steht immer noch hoch wie eine Sahnehaube. Noch sind die Schüler nicht wieder da, weshalb es sehr ruhig ist. Sie erzählt mir, dass sie gerade Sommerschule in den Ferien anbieten.
»Mehr Aufwand, als sie manchmal wert sind, aber was muss, das muss. Und dann beginnt das Schuljahr! Und … wie geht es dir?«, erkundigt sie sich vorsichtig.
Ich spüre einen Hauch von Scham wegen meines unerwarteten Auftauchens. Sophie war, wie auch immer man das betrachtet, nicht gerade eine akademische Erfolgsgeschichte der Schule.
Wie ich gehofft hatte, war es Maureen gewesen, die die Polizei wegen des Tagebuchs angerufen hatte, und es macht ihr nichts aus, darüber zu reden. Aber man hatte das Tagebuch nicht ihr gegeben, sondern einer Reinigungskraft, noch bevor die Schule ihre Pforten öffnete.
»Wir hatten in der Woche die jungen Künstler da. Oder war es der Ferienunterricht Sport? Egal, natürlich habe ich sofort gedacht, dass ich die Polizei informieren muss, als ich gesehen habe, dass es nicht der Name eines unserer, äh, jetzigen Schülers war, sondern Sophie Harlow. Nur falls es irgendwie relevant sein könnte. Man weiß ja nie.«
»Du hattest absolut recht«, bestätige ich. »Also, diese Putzkraft, ist sie noch da? Dann könnte ich vielleicht kurz mit ihr reden?«
»Oh. Nun …«
»Nur um ein paar Fragen für mich selbst zu beantworten«, werfe ich schnell ein. »Nichts Offizielles.«
Was immer das auch bedeuten mochte.
»Ich weiß nicht … sie kommen vor dem Unterricht. Und es werden uns immer verschiedene Leute geschickt.« Sie senkt die Stimme. »Und ich kann nicht sagen, wie gut ihr Englisch ist. Du könntest bei der Agentur anrufen …«
Man sieht ihr den Zweifel an: Du könntest dir mit einem Stift ins Auge stechen, aber warum solltest du das tun?
»Wenn es dir nichts ausmacht, könntest du mir vielleicht die Nummer geben …«
»Sehr gern«, antwortet sie entschieden. »Einen Moment.«
Damit klackert sie auf ihren Absätzen davon. Wenn das erledigt ist, wird mein Besuch wohl vorbei sein: die trauernde Mutter von der Liste abgehakt, jetzt die Bürosachen ordnen.
Vermutlich ist das nicht fair, denn sie versucht ja zu helfen. Aber ich bin in düsterer Stimmung, stelle mir vor, was vor mir liegt, der Anruf, der Versuch, an der Rezeption vorbeizukommen, erst die Verwirrung, dann die Verschlossenheit, weil sie denken, ich wolle etwas Unappetitliches.
Aber was habe ich erwartet?
»Ja, der Mann, der mir das Tagebuch gegeben hat, sah sehr verdächtig aus. Vielleicht weiß er was, ich habe mir alles notiert.«
Um mich abzulenken, blättere ich durch das Gästebuch vor mir. Nach all dem Aufwand, als Sophie verschwunden ist, kann ich nicht erkennen, dass sie ihre Systeme besonders erneuert haben; in dieses Buch müssen sich Besucher der Schule eintragen, es ist mehr ein Relikt alter Traditionen als ein Sicherheitsprotokoll.
Hier und da erkenne ich Nachnamen, als ich die Seiten umschlage und damit in der Zeit zurückwandere; das müssen die Eltern eines Kinds sein, das Sophie wohl erwähnt hat. Aber Schulen erneuern sich so schnell: Sophies Jahrgang wird diesen Sommer komplett verschwunden sein, da alle ihre Abschlüsse gemacht haben. Ich frage mich, wie viele der Schüler sich wohl noch an sie erinnern …
Ein Name springt mir ins Auge, saubere Großbuchstaben in blauer Tinte:
NICHOLLS, B.
Daneben steht:
Greater Manchester Police
2.Oktober 2017
Eintritt 14:30 Verlassen: 16:15,
dann seine enge, gekritzelte Unterschrift.
»Maureen«, rufe ich, als sie mit einem Zettel in der Hand aus ihrem Büro kommt, »mir ist aufgefallen, dass dieser DI Nicholls … also ich wusste nicht, dass er …« Was? »… etwas mit der Schule zu tun hat.«
»Oh, kennst du ihn?«, erkundigt sie sich.
»Ja, er hat mir sehr weitergeholfen« – fast eine Lüge –, »was das Tagebuch betrifft; er hat mir mitgeteilt, dass es aufgetaucht ist.«
»Er ist sehr gut«, pflichtet sie mir bei. »Er hält Vorträge für die Schüler; Sicherheit und persönliches Zeug, fast schon seelsorgerisch. Schon eine ganze Weile inzwischen. Er ist besonders bei den Mädchen sehr beliebt. Sagt ihnen, wie sie auf sich selbst aufpassen können.« Sie lacht wie ein Teenager. »Natürlich ist es hilfreich, dass sie alle in ihn verknallt sind, deshalb kommen sie immer zu seinen Vorträgen.«
Dabei wird ihr Teint selbst leicht rosa.
»Nicholls?« Das passt nicht wirklich zu meiner Version von ihm; brüsk, wenn man nett ist, langweilig, wenn nicht. Ich frage direkt heraus: »Aber warum macht er sich die Mühe?«
Sie streckt sich ein wenig. »Hier in Amberton sind wir stolz darauf, eine Verbindung zu unseren Ehemaligen zu erhalten, und wir glauben, beide Seiten haben etwas sehr Wichtiges davon …«
»Also war er hier Schüler?«
»Natürlich«, erklärt sie, Spiegelbild meiner eigenen Überraschung. »Nicht zu meiner Zeit, so alt bin ich noch nicht, zum Glück. Er ist eine Erfolgsgeschichte, er wird sicher mal Commissioner, weißt du, er …«
Ich blende sie aus, verdaue die neuen Informationen. Also war der Fall für ihn neu, aber die Gegend nicht. Überhaupt nicht.
Und ich weiß nicht, weshalb ich davon ausgegangen bin, dass er nicht von hier ist. Natürlich gibt es keinen Grund, warum er seine persönlichen Verbindungen oder Sophies Schule erwähnen müsste; er ist Profi. Aber er hatte jede Möglichkeit dazu …
Er hält Vorträge. Ich frage mich, ob Sophie jemals einen davon gehört hat.
Nein, jetzt, da ich darüber nachdenke, glaube ich nicht, dass sie sich mal getroffen haben, nicht mal kurz; das hätte Nörgeleien von Mark mit sich gebracht, da bin ich sicher. Also warum hat Danny angenommen, es war Sophies Dad und nicht ich?
Die Antwort ist plötzlich ganz klar. Er dachte, es wäre ihr Dad gewesen, weil da wirklich ein älterer Mann hinter dem Steuer gesessen hatte.
Ich muss mit Danny reden.