27. Kapitel
Sophie
I
n der Anfangszeit gingen wir noch aus. Das erste Mal weckte er mich eines Abends, ich glaube, ich bin eingedöst, auf der Matratze zusammengerollt. Da ich noch angezogen war, kann es nicht so spät gewesen sein. Man würde nicht denken, dass man vom Nichtstun so müde werden konnte. Aber mir wurde schnell kalt, so ohne viel Bewegung, also kroch ich auch tagsüber unter die Bettdecke.
»Komm schon«, forderte er mich auf. »Schnell.«
Ich fragte nicht, warum er es so eilig hatte. Schon damals wusste ich, dass er nicht wollte, dass ich allzu viele Fragen stellte.
Stattdessen folgte ich ihm noch verwirrt durch die Tür und die Treppe hinab. Ein Stich der Vorfreude, gemischt mit Sorgen, fuhr durch mich hindurch, als er mit einem Schlüssel vom selben Bund eine zweite Tür aufschloss. Von der wusste ich gar nichts.
Die stand wohl offen, als ich hineinging.
Das bläuliche Licht seines Handys durchdrang kaum die Schatten. Als ich hierherkam, war ich so in Eile, dass ich kaum etwas wahrgenommen hatte. Aber wieder hatte ich so ein Gefühl von Raum, etwas lag in dem Geräusch unserer Schritte. Er führte mich eine weitere Treppe hinunter, dann musste ich eine Decke über den Kopf ziehen, während er mich zum Auto leitete, genau wie an dem Tag, als ich ankam.
Damit mich niemand erkennen konnte, hatte er behauptet. Ich konnte nicht mal den Verkehr hören.
Das Auto war dieselbe dunkle Limousine. Er wies mich an, auf dem Rücksitz zu bleiben.
Da hatte ich eine lebhafte Erinnerung daran, wie er mich von der Schule abholte, damals, bevor er sagte, es sei zu riskant. Dieses Mal befahl er mir, mich hinzulegen, damit mich niemand sehen konnte.
Durch die Bewegung des Wagens wurde ich beinahe in den Schlaf gewiegt, aber nach einer halben Stunde, oder vielleicht wirkte es auch nur so lang, sagte er mir, ich solle mich hinsetzen. Beinahe war ich enttäuscht, als ich meine steifen Gliedmaßen streckte. Wir fuhren lediglich über Landstraßen, im Scheinwerferlicht sah ich Hecken und Asphalt, mehr nicht.
»Können wir vielleicht irgendwo anhalten?«, fragte ich. »Ich möchte ein wenig laufen.«
Mit einem Mal wollte ich so dringend rennen, spürte die gespeicherte Energie der letzten Monate in mir.
»Sei nicht albern«, erwiderte er. »Jemand könnte uns sehen, und was dann?«
Ich glaubte nicht, dass es dazu kommen konnte. Aber ich wollte mich nicht so viel beschweren.
Und es funktionierte. Danach nahm er mich wieder mit. Ich glaube, ihm wurde unser Haus schon zu viel, die Enge, die Stille, die Luft voller Staub und Vernachlässigung, egal, wie viel ich auch putzte.
Es war immer die gleiche Prozedur. Wir entfernten uns nie weit, nur durch die ruhigen Gassen, niemals dort, wo die Laternen enger zusammenstanden. Und wohin sollten wir auch fahren? Manchmal schlief ich einfach wieder ein. Im Auto kam es mir sicherer vor, fast so, als sei ich wieder Teil der Welt.
Aber einmal weckten mich grelle Lichter. Ich blieb ruhig liegen und spähte unter gesenkten Lidern hervor, mein Kopf gegen die Kopfstütze gelehnt. Wir waren an einer Tankstelle. Ich lauschte den Geräuschen: Er tankte den Wagen voll, bezahlte mit seiner Karte am Automaten. Der Gedanke kam mir in dem Augenblick: Ich könnte einfach aussteigen, gegen das Fenster hämmern, um Hilfe rufen. Irgendjemand würde in der Tankstelle sein. Ich erinnere mich, wie sich mein ganzer Leib anspannte, und dann – kam er zurück und drehte den Zündschlüssel um.
Wir fuhren weiter. Schreck flutete meinen Körper, wegen der Heftigkeit meiner Reaktion – wie sehr ich hatte gehen wollen
. Mir ging es gut. Das hier war doch das, was ich wollte. Oder?
Noch immer frage ich mich: War ich so nah daran, wie ich dachte? Wohl nicht. Denn ein paar Male danach, wenn er sich auf die Fahrbahn konzentrierte, probierte ich den Türgriff im Auto aus. Aber die Kindersicherung war immer aktiviert.
Ohnehin gab es nur noch wenige nächtliche Fahrten danach, zwei oder drei, wenn überhaupt.
Schon als es passierte, wusste ich, dass es das letzte Mal sein würde. Den Abend über war ich still gewesen, nicht das lebhafte Mädchen, das ich für ihn sein sollte. Ich war einsam, war den ganzen Tag allein gewesen. Das hatte ich ihm sogar gesagt. Vielleicht tat er es deswegen – um mich zu bestrafen, wenigstens ein bisschen. Oder um mich einer weiteren Prüfung zu unterziehen, um zu sehen, wie ich reagieren würde.
Wir hielten vor einem Haus, das ich nicht kannte, ein kleines Cottage in einer Reihe solcher Häuser, mit einer ordentlichen dunkelgrünen Tür. Wir waren bestimmt eine halbe Stunde gefahren, vielleicht sogar länger. Er stellte den Wagen gegenüber ab, jenseits des orangenen Scheins der Straßenlaterne, und dann warteten wir mit abgeschaltetem Motor.
Es war kalt, aber ich wusste, dass es besser war, nicht zu fragen, weshalb wir da waren. Seine Handlungen erschienen nicht immer ganz, nun, vernünftig. Also saß ich auf meinen Händen, um sie zu wärmen, und wickelte mich in meinen großen Pullover ein. Alle Kleidung, die er mir brachte, waren zu große Secondhand-Teile. Dann würden sie eine Weile halten, sagte er mir.
Ich drehte das Gesicht zum Fenster, blies auf das Glas, um es beschlagen zu lassen, und malte eine Blume. Dann wischte ich sie wieder weg und starrte in die Dunkelheit. An der Haustür des Cottages gab es Bewegung, eine langsame Gestalt mit dunklen Schemen in den Händen – Müllbeutel.
Irgendwas in der Haltung des alten Mannes, seine müden Schultern, verriet es mir. Ich drückte meine Hand an das Fenster, beugte mich so weit vor, wie es ging. Bedächtig, nicht zu schnell, fuhr der Wagen weg, ohne eine Andeutung von Panik.
»War das Grandpa?«, erinnere ich mich, gefragt zu haben. »War das er?«
Er antwortete nicht, sondern fuhr einfach weiter, während ich versuchte, mich zu beruhigen.
Schon immer hat er meine Fragen ignoriert, als würde er sie gar nicht hören. Er zieht es vor, mir Dinge zu sagen – mich zu belehren. Zuerst war das eine der Eigenschaften, die ich an ihm mochte. Ich dachte, er sei so schlau, so sicher darin, zu wissen, was alle machen sollten und wo sie falschlagen. Die Banken, Politiker, Lehrer, meine Eltern. Ich.
Doch dieses Mal hörte ich nicht auf zu reden: »Warum hast du das gemacht? Er war es, das weiß ich.« Ich war kurz davor zu weinen, meine Stimme wurde immer schriller. »Geht es ihm gut? Er sieht so … so alt aus.«
Er wandte sich mir zu, seine Miene vor Wut verzerrt.
»Halt die Klappe«, blaffte er mich an. »Ich meine es ernst.«
Mit offenem Mund starrte ich ihn an. So sprach er sonst nie mit mir.
»Du wusstest, was es bedeuten würde.« Dann wurde seine Stimme weicher, und er sah wieder nach vorne. »Wir mussten beide Opfer bringen. Aber ist es nicht genug, dass wir zusammen sind?«
Darauf wusste ich nichts zu sagen.
»Doch«, antwortete ich schließlich stotternd. »Mehr als genug.« Ich wollte nur, dass er wieder normal wurde, so wie vorher. »Ehrlich, ich habe mich nur erschreckt, mehr nicht.«
Er benötigte so viel Zuspruch. Ich lehnte mich nach vorne und legte meine Hand über seine, die angespannt auf seinem Schenkel lag, spürte sie erst zucken, dann locker werden.
»Du bist mehr als genug. Das verspreche ich.«
Danach gab es keine Ausflüge mehr. Nicht für immer, behauptete er, nur, bis es sicherer war.
»Schau, wo das hinführt«, erklärte er mir. »Es hat uns nur beide aufgebracht.«
Du hast mich dahin gebracht, dachte ich. Aber natürlich sprach ich es nicht aus.