29. Kapitel
Sophie
D ieser Tage gibt es viel, woran ich nicht denken mag. Aber was mich wirklich schaudern lässt, wenn ich mich daran erinnere, ist mein früheres Ich.
Hier war ich so einsam, so vollkommen jeder Gesellschaft beraubt, dass ich immer so froh war, ihn zu sehen, wenn er auftauchte. Wie ein Hund, der noch dann mit dem Schwanz wedelt, wenn das Herrchen kommt, um ihn zu treten.
Selbst dann noch, als er sich veränderte. Manchmal war er mir gegenüber so kurz angebunden, wie er es draußen vorher nie war. Manchmal redete er kaum mit mir, wenn er kam, sondern stellte nur die Essenstaschen ab. Er ist beschäftigt, redete ich mir ein, das muss ich akzeptieren.
Aber auch wenn er blieb, war er nicht mehr der Gleiche. Es fühlte sich an, als sei nichts an mir richtig.
»Warum ist es hier so unordentlich?« und »Kannst du dir nicht die Haare bürsten? Du würdest dich dann wohler fühlen«.
»Ich weiß, und ich wollte ja gerade …«
Nur war ich immer so erschöpft, schlief jeden Tag ein. Was sollte ich schon tun? Aber ich wusste, dass ich das nicht sagen sollte.
»Es tut mir sehr leid«, sagte ich, während ich in Tränen ausbrach, so schnell inzwischen. »Ich gebe mir mehr Mühe.«
Aber er wollte mich nicht ansehen und mich schon gar nicht berühren. Manchmal sagte er, ich sei undankbar.
Auch darüber habe ich geweint.
Je länger ich hier drin bin, desto nervöser wird er. Ich ja auch.
Das ist mein dritter Sommer. Es ist schwierig, das genaue Datum zu wissen. Wir feiern kein Weihnachten, keine Geburtstage. Es hat mich nur aufgeregt, also hat er aufgehört. Ich hatte um einen Kalender gebeten, aus Papier, weil ich ja jetzt kein Handy mehr habe, aber der kam nie. Ich weiß, dass ich zwei Winter hier war. Die Tage sind so lang. Aber er mag es nicht, wenn ich mich langweile. Nein, falsch: Er mag es nicht, wenn ich gelangweilt wirke. Ob ich nun aus Frust über einen weiteren Tag in diesen vier Wänden weine, ist ihm egal, wenn ich ehrlich bin.
Ich habe einen Fernseher. Einen kleinen mit DVD-Player, und er hat mir Filme mitgebracht. Das war eine Erleichterung. Die Stille nagte an mir. Jetzt läuft er fast durchgehend, ich drehe ihn nur leiser, wenn ich mich schlafen lege. Eine Zeit lang dachte ich, dass ich vielleicht in den Nachrichten erscheinen würde, aber es war wohl schon zu spät: Er brachte ihn mir erst nach ein paar Wochen. Ich weiß nicht, was das bedeutet. Aber es ist schön, andere Stimmen zu hören. Ich habe mir angewöhnt, mit Teddy zu reden, ihm von meiner Familie und meinem Leben zu Hause zu erzählen, als ob er das verstehen könnte. Vermutlich ist es besser, als Selbstgespräche zu führen. Selbstverständlich mache ich das nicht, wenn er hier ist.
Ich lese die Bücher, die er mitbringt. Die Klassiker, »ordentliche« Bücher. Einige mochte ich sogar. Jane Eyre habe ich wieder und wieder gelesen. Sie ist inzwischen wie eine Freundin, meine Jane. Und ich mache Sport, Liegestütze und Sit-ups und Übungen, die ich mir ausdenke. Manchmal schalte ich einen Musiksender ein und tanze herum. Ich mag es, wenn meine Muskeln schmerzen, wenn der Schweiß auf der Haut trocknet. Es erinnert mich daran, dass ich noch echt bin. Und es lässt mich stark bleiben. Ihm gegenüber habe ich das nie erwähnt. Zuerst dachte ich, dass es albern klingt. Jetzt bin ich froh darüber.
An manchen Tagen habe ich den Drang herumzuspielen, einfach irgendwas mit den Händen zu tun. Am Anfang habe ich gemalt. Ich bat ihn um Papier und Stifte, und er brachte mir welche: Zuerst einen wunderschönen Skizzenblock; teure Malkreiden und Wachsmalstifte aus einem echten Künstlerbedarf. Aber er war wütend auf mich, als er sah, wofür ich sie benutzte. Keine schönen Landschaften, keine glühenden Porträts von ihm. Ich denke mir gern Dinge aus. Deshalb bin ich jetzt vorsichtig und verstecke die Sachen vor ihm.
Ich vermisse meine Mum. Natürlich vermisse ich alle, sogar die Leute, von denen ich dachte, ich könne sie nicht leiden. Unglaublich, aber ich vermisse die Schule, all meine Lehrer, wie die nette Mrs Vale und den mürrischen alten Mr Kethrick. Aber hauptsächlich vermisse ich Mum.
Es geht mir gut, wirklich. Immer dann, wenn ich es kaum ertragen kann, wenn mir alles zu viel wird, habe ich diesen Trick. Ich schließe die Augen und stelle mir vor, nichts davon sei passiert. Ich denke angestrengt daran, wie es früher war. Nicht an Menschen, das macht mich nur traurig.
Ich denke an den langweiligen Kram. Wie ich auf dem Bett sitze und meine Hausaufgaben mache, während die Geräusche des Radios in der Küche zu mir hochwehen. Auf dem Sofa eingerollt fernsehen, mit King schnarchend auf dem Teppich vor mir, während Regen in dicken Tropfen gegen das Fenster platscht. Die Szenen stelle ich mir ganz genau vor, damit ich sie niemals vergesse.
Nicht, wenn er da ist. Einmal hat er mich erwischt. Er kam herein, als ich an die Wand gelehnt auf dem Boden saß, die Augen geschlossen und beide Hände auf die Ohren gelegt. Das gefiel ihm ganz und gar nicht. Er will meine gesamte Aufmerksamkeit. Trotzdem mache ich das weiterhin, sogar wenn er denkt, ich wäre bei ihm. Wenn er mit mir zusammen sein will, kann ich in meinem Kopf verschwinden.
Früher dachte ich, das würde mich ihm sogar näherbringen. Er war immer so kontrolliert, so schwer zu fassen, trotz all der netten Dinge, die er da noch sagte. Und ich fühlte mich so besonders, so auserwählt.
Aber jetzt will ich ihm nicht nah sein, will gar keine Nähe mehr, auch wenn ich mich bemühe, mir das nicht anmerken zu lassen.
Während der Zeit hier drinnen hatte ich eine wichtige Erkenntnis. Vertrauen kann eine Waffe sein.
Ich habe ihm vertraut. Er kannte meine Geheimnisse, meine Ängste. Wie ich über die Schule dachte, über meine Eltern, wie viel sie stritten; ob Holly was von Danny wollte. Ganz alltäglicher Kram von Teenagern – auf eine Art gut, die ich damals nicht verstand.
Zu den Zeiten war das alles so viel. Mum und Dad im Streit, mehr als üblich. Der Umzug hierher hatte das nicht geändert, obwohl sie es gehofft hatten. Ich hatte keine guten Noten, und die Prüfungen dräuten am Horizont wie eine Katastrophe in Zeitlupe – ein Hurrikan oder Tsunami. Allein der Gedanke daran, wie sehr ich hinten lag … ich war keine Akademikerin wie Mum und Dad, nicht wirklich. Und dann Holly und Danny … das war so ein Durcheinander, wie eifersüchtig sie war, es war so peinlich. Ich konnte sie alle nicht glücklich machen, nicht mehr, also zog ich mich von ihm zurück. Damals erschien mir alles so wichtig.
Und dann kam er. Ich traf ihn über die Schule. Inzwischen weiß ich, wie sich das anhört. Aber zuerst war ich nur ein wenig verknallt. Warum mochte ich ihn, frage ich mich, weil er so sicher schien? Nichts würde geschehen; ich würde nicht verletzt werden. Er wirkte so sanft und so bestätigend.
Aber dann geschah es doch.
Ich war diejenige, die den ersten Schritt machte. Ich stellte mich auf die Zehenspitzen, meine Hand auf seinem Arm, und küsste ihn. Röte stieg mir ins Gesicht. Gerade erst hatte er mir gesagt, von oben herab, dass wir nichts machen konnten, egal, wie sehr wir es wollten, egal, wie sehr wie spürten, dass es Schicksal war … es fühlte sich an, als sei es an mir zu beweisen, dass wir doch konnten.
Also hütete er meine Geheimnisse, und danach hatten wir unser Geheimnis.
Aber nach all der Zeit, die ich zum Nachdenken hatte, bin ich nicht mehr so sicher, dass ich den Anfang gemacht habe oder ob er mir nur das Gefühl gegeben hat. Tatsächlich bin ich mir inzwischen in vielerlei Hinsicht sehr unsicher.
Es ist, als sei ich endlich aufgewacht, und ich kann kaum glauben, wie dumm ich war und wie verrückt das alles ist. Und wenn ich dem Gedankengang folge, dann breche ich zusammen und heule, und die Angst steigt wieder auf, und ich zittere und würge, und das geht nicht, überhaupt nicht, wenn er da ist, vor ihm.
Also tue ich das nicht, sondern atme nur langsam und bedächtig und reiße die Augen auf und sehe süß und hübsch aus, und die ganze Zeit denke ich, dass es noch nicht vorbei ist. Ich habe meine großen Augen und mein offenes Lächeln und nicke und sage nicht viel – das ist einfacher –, und denke meine Gedanken hinter der glücklichen Maske.
Denn jetzt soll er mir vertrauen.