33. Kapitel
Sophie
B
is zum Morgen habe ich mich entschieden. Es war an der Zeit für mich zu sagen – nein, klarzumachen –, dass ich gehen würde. Es war Zeit zu verschwinden. Im Sonnenlicht, das durch das Dachfenster fiel, konnte ich die letzte Nacht klein halten. Es wird gut laufen,
bestätige ich mir, ich kann das klären.
Aber er kam nicht. Weder in dieser Nacht noch in der danach. Meine Essensvorräte schrumpften. Die Milch wurde schlecht, also aß ich mein Müsli mit Orangensaft und bemühte mich, nicht in Panik zu verfallen. Als er früh am nächsten Abend auftauchte, kam er wohl direkt von der Arbeit, im Anzug.
Mein Herz machte wirklich einen Freudensprung, so erleichtert war ich, jemanden zu sehen. Dann erinnerte ich mich.
Ich ging es vernünftig an, kochte uns beiden erst mal eine Tasse Tee, während ich mir im Kopf die Worte zurechtlegte. Als wir beide auf dem Sofa saßen, erklärte ich, so ruhig ich konnte, es sei so weit, dass ich gehen sollte. Dass der Plan immer gewesen war, dass ich mich hier nur eine Weile verstecken würde, um uns Zeit zu verschaffen, alles zu organisieren. Dass es alle möglichen Orte gab, zu denen wir reisen konnten, jetzt, da alle glaubten, ich sei seit Monaten verschwunden. Niemand würde nach uns suchen.
»Wie wir es vorher gesagt haben«, erinnerte ich ihn. Das hatten wir, nur – nur fragte ich mich jetzt, was wir eigentlich geplant hatten, wie konkret das alles war. Es war nicht nötig gewesen, über Termine zu reden oder wann genau wir fortgehen würden. Einfach, nachdem Gras über die Sache gewachsen war … ich konnte mich nicht erinnern.
Sein Gesicht war ausdruckslos.
»Nein«, stellte er fest, mit fast schon milder Stimme. »Nein, du gehst nicht.«
»Aber warum nicht?«, fragte ich bewusst leise. Vernünftig. »Ich kann mich um mich selbst kümmern. Du kannst vorbeikommen und mich besuchen, egal, wo ich bin. Ein neuer Anfang, wie wir es besprochen haben.«
»Nein. Das ist unrealistisch. Dass du irgendwohin ziehst und dich einrichtest. Wo überhaupt? Auch da müsstest du dich verstecken. Jemand könnte dich sonst erkennen.« Er schüttelte den Kopf. »Das ist keine Option.«
»Aber du verstehst nicht.« Das wollte ich nicht sagen, aber die Wahrheit ergoss sich einfach aus mir. »Ich ertrage es hier nicht länger! Ich kann nicht mehr!«
Seine Miene wurde hart. »Sophie. Das ist das, was wir beschlossen haben. Was du wolltest.«
»Aber nicht so. Es sollte nur so lange gehen, bis wir alles vorbereitet haben, um uns Zeit zu verschaffen. Und jetzt bin ich sechzehn, das ist doch wichtig, oder nicht, sogar falls sie noch nach mir suchen?« Meine Stimme wurde laut. »Ich kann nicht für immer hierbleiben.«
»Es ändert gar nichts.« Er starrte mich mit kalten Augen an. »Du warst minderjährig. Vor Gericht gäbe es da keinen Zweifel. Ich bin mehr als zwanzig Jahre älter als du. Das bedeutet Gefängnis, das Ende meiner Karriere. Und ich kann nicht ins Gefängnis gehen.«
Das entsetzte mich. Aus seinem Mund klang es so furchtbar. So hatte er vorher nie darüber gesprochen.
»Aber das muss nicht sein … wir erklären es … wir waren verliebt. Sind verliebt.« Ein Blitz der Erkenntnis: »Ich kann verschwinden, auch wenn du das noch nicht kannst. Das denken sie doch sowieso.«
»Ohne Arbeit? Oder unter der Hand bezahlt, damit du nicht sagen musst, wer du bist? Das wäre nichts für dich, nicht langfristig. Und was würdest du dann machen? Nein«, stellte er fest, beinahe reumütig. »Du würdest am Ende doch zusammenbrechen und zu Mummy und Daddy zurückkriechen. Darüber habe ich schon nachgedacht. Es gibt keine Alternative.«
»Aber du könntest mir helfen … mir Geld geben …«
Als die Drohung kam, war sie so nüchtern, dass ich sie erst nicht verstand.
»Ich habe dir gesagt, dass ich nicht ohne dich leben kann, Sophie. Ich lasse dich nicht gehen.«
Es fühlte sich so irreal an. Das sind wir also, zum ersten Mal, ohne uns zu verstellen.
»Aber ich will hier weg«, bettelte ich. »Du kannst mich nicht ewig hier halten. Bitte …«
Wut stieg in mir auf, die geballten Gefühle von Wochen und Monaten des Verschweigens, immer runtergeschluckt.
»Es ist nicht deine Entscheidung«, erklärte ich mit allem Mut, den ich noch hatte. »Und ich will gehen. Jetzt. Gib mir die Schlüssel.«
Ungerührt sah er mich von der Couch aus an.
»Lass das, Sophie. Das meine ich ernst.«
»Gib mir die Schlüssel.«
»Das ist nicht lustig.«
»Du hast recht, das ist es nicht.«
Aus dem Augenwinkel sah ich sein Jackett über die Stuhllehne hängen. Direkt neben der Tür.
Ich weiß, dass es dumm war, aber noch immer verstand ich nicht wirklich. Ein Sprung dorthin, ich suchte nach dem Gewicht in den Taschen, zog sie dann hervor. Am Rande meines Blickfelds sah ich, wie er aufstand und zu mir kam, aber ohne Eile. Er fing mich ab, bevor ich sie auch nur im Schloss hatte. Einen Moment lang kämpften wir, dann entwand er sie meinem Griff.
»Nein!«, schrie ich. »Lass mich!«
Ich erstarrte wie betäubt.
Sein ganzes Gewicht lag auf mir, presste mir die Luft aus den Lungen, ich war rücklings auf dem Boden. Er verpasste mir eine Ohrfeige, nur eine.
Es war nicht mal sonderlich fest. Vermutlich war es mehr der Schock als sonst was.
»Es geht immer nur um dich, was? Was du willst«, fauchte er. Seine Stimme klang anders, als verrutschte irgendwie sein Dialekt. »Du kleine Schlampe.«
Mit der Zunge fuhr ich mir über die Lippe, schmeckte Metall. Noch immer konnte ich nicht begreifen, was gerade passierte.
»Ich gehe jetzt, Sophie, bis du dich wieder beruhigt hast.« Seine Stimme war wieder wie vorher, weich und gebügelt wie die eines Nachrichtensprechers. »Und wenn ich wiederkomme, benimmst du dich lieber.«
Er stand auf, ließ mich auf dem Boden liegen.
»Das wird hier ab jetzt anders laufen. Ich habe genug von deinem Geheule und den Beschwerden. Genug davon. Verstehst du mich?«
Ich konnte ihn nicht ansehen.
»Verstehst du mich?«
»Ja«, flüsterte ich.
Bis er weg war, blieb ich ruhig liegen, lauschte darauf, wie die Riegel vorgeschoben wurden. Langsam stand ich auf. Berührte die Seite meines Gesichts.
Dann drückte ich mein Ohr an die Tür, hörte seinen Schritten die Treppe hinab zu. Meine Beine zitterten.
Ich bin nicht wirklich verletzt. Ich hätte ihn nicht bedrängen sollen.
Aber ich wusste es. Ich wusste, dass es dieses Mal anders war, dass eine Grenze verletzt worden war. Sogar mehr noch als neulich, als sich seine Hände um meine Kehle schlossen, seine Augen ins Nichts starrten.
Jetzt? Jetzt wusste er genau, was er tat.
Eine Minute oder zwei wartete ich, bis ich sicher war, dass er gegangen war. Etwas sagte mir, dass er dieses Mal für eine ganze Weile nicht wiederkommen würde. Dann rannte ich zum Fenster, zog den Stuhl darunter, legte so viele Magazine darauf, bis ich es erreichte.
Ich gestehe, dass dies der Moment war, in dem ich endlich schrie. Fast nur, um zu sehen, ob jemand es hörte und kam, um mir zu helfen. Meine Kehle war noch wund von der Nacht. Dennoch fühle ich mich zuerst albern. Theatralisch, als sähe ich mich selbst in einem Stück. Das konnte doch nicht ich sein, in dieser Situation.
Aber lange hielt das nicht.
Und dann schrie und schrie ich und hämmerte gegen das Fenster, schlug gegen das Glas. Es zersplitterte nicht; nicht mal ein Kratzer. Schließlich, als meine Kehle noch roher war und brannte, hörte ich auf.
Ich lauschte. Von draußen drang kein Geräusch herein, kein leises Säuseln eines Motors oder so. Nicht mal die Vögel konnte ich durch das dicke Glas hören.
Und niemand kam. Damals nicht. Später, als ich es wieder versuchte, auch nicht.
Also kletterte ich wieder runter. Ich nahm Teddy in den Arm und kuschelte mit ihm. Ich weiß, dass das lächerlich klingt, aber so ging es mir immer besser. Fast, als hätte ich einen Freund hier drinnen.
»Es ist okay«, versprach ich ihm, auch wenn es natürlich mir selbst galt. »Es ist okay. Er wird verstehen. Es wird alles gut. Ich schaffe das.«
Aber darunter wiederholte sich ein Gedanke, den ich nicht ignorieren konnte.
Ich habe einen gewaltigen Fehler gemacht.