34. Kapitel
Kate
M öchtest du noch eine Tasse Tee?«
Dad beschäftigt sich wieder, nachdem sie gegangen sind. Das macht er immer, wenn er sich unwohl fühlt.
Charlotte verschränkt die Arme vor der Brust und schüttelt den Kopf. »Was ist noch los, Kate? Warum wolltest du, dass wir vorbeikommen, bevor … vor alldem hier?«
Wie Mum nimmt sie nicht den sanften Weg. Jetzt gerade fühle ich mich nicht in der Lage, damit umzugehen.
»Ich konnte euch das nicht erzählen, solange sie da waren«, fange ich an. »Und ich weiß, dass ich mich … ein wenig zurückgezogen habe. Aber ich glaube nicht, dass es nur ein Einbruch war. Neulich war auch jemand in meinem Garten. Und da gibt es noch mehr. Ich habe E-Mails von Sophie gefunden – jemand wusste, dass sie weglaufen wollte, und ich glaube, diese Person wollte mit ihr gehen.«
Es gibt eine überraschte Pause.
»Wer denn?«, fragt Charlotte.
Ich schüttle den Kopf. »Das weiß ich noch nicht, aber ich versuche, es herauszufinden. Aber das ist immer noch nicht alles. Moment, lasst es mich richtig erzählen. Von Anfang an.«
Und dann berichte ich: Alles strömt aus mir heraus, als wäre ein Staudamm geborsten. Ich beginne mit dem, was sie schon wissen: der Anruf von Sophie; dass sie meiner Meinung nach verängstigt geklungen hat, dass sie den Anruf nicht wie sonst beendet hat. Dann berichte ich von Hollys Aussagen über den Schwangerschaftstest, dass er in Wahrheit von Sophie war; Dannys Abstreiten, dass irgendwas passiert ist, und dieser Kommentar darüber, dass Sophies Dad sie abgeholt hat.
»Und ihr wisst, dass er sie nie abgeholt hat, also frage ich mich jetzt, wer das sonst gewesen sein könnte.«
»Mhm«, murmelte Charlotte mit vor Konzentration zusammengezogenen Brauen.
Jetzt erzähle ich den ganzen Rest: wie der Polizei Sophies Tagebuch zugespielt wurde; der Inhalt – die scheinbare Bestätigung, dass sie schwanger war.
»Und dann«, fahre ich fort, wobei ich Dad nicht ansehen kann, »hat sie das geregelt.«
Aber Danny, ihr Freund, war darüber nicht glücklich. Wie mich das dazu verleitet hat zu glauben, dass sie wirklich eine Spur hatten, dass ich herausfand, warum Sophie gegangen war, wie schmerzhaft das auch war.
Beide sind still, hören mir zu.
Aber dann geschah was Wichtiges: Ich konnte mich in ihr E-Mail-Konto einloggen – ein Konto, von dem wir nichts wussten, das sie in ihrem Tagebuch erwähnt hatte. Und darin waren die Nachrichten, in denen sie mit jemandem darüber sprach, wegzulaufen.
»Und dann gibt es da Nicholls – diesen Polizisten –, dem habe ich davon noch nicht berichtet.«
Ich erläutere, wie er mir gesagt hat, dass jemand die Hotline von der Telefonzelle in unserer Straße angerufen hat. Und wie wenig hilfreich ich ihn finde.
»Er ist vor Jahren selbst Schüler an Sophies Schule gewesen und hat das gar nicht erwähnt. Und dann habe ich ihn bei Nancys Haus gesehen …«
»Nicht so schnell, wer ist Nancy?«, unterbricht mich Charlotte mit gerunzelter Stirn.
»Stimmt, dazu bin ich noch gar nicht gekommen. Sie hat in Parklands gewohnt, da in dem großen Haus.« Ich weise Richtung Garten. »Und sie ist weggelaufen, so vor, oh, zwanzig Jahren, aber sie sieht genauso aus wie Sophie. Und ihr Abschiedsbrief klingt so ähnlich. Also nicht identisch, aber es gibt so eine Redewendung, die in beiden auftaucht. Lasst mich kurz Sophies holen, dann zeige ich es euch, ihr seht es dann mit eigenen Augen …«
Ich gehe in den Flur, halte an, drehe mich um. »Kommt ihr nicht? Ich habe sie im Wohnzimmer. Es ergibt alles Sinn.«
Sie bewegen sich nicht.
»Es tut mir leid, das war zu schnell.«
Ihre Mienen sind fast schon komisch identisch, sorgenumwölkte Augen, die Mundwinkel herabgezogen.
»Es ist okay«, füge ich sanfter hinzu. Ich will sie nicht schockieren. »Das macht mir natürlich auch Sorgen, es ist so viel auf einmal – und endlich bewegt sich wieder was. Aber ich habe das Gefühl, dass ich auf was gestoßen bin.« Ich muss sie überzeugen. »Sie ist da draußen, wisst ihr, und sie versucht, mit mir in Kontakt zu treten, mit uns, egal, was sie darüber gesagt hat, keinen Kontakt mehr zu wollen. Und ich weiß einfach, dass wir nur ein wenig mehr Schwung brauchen, wenn wir ein wenig Druck auf die Polizei ausüben können – oh, nicht auf die beiden, die hier waren. Und ganz sicher nicht auf Nicholls.«
Mir kommt ein Gedanke.
»Wo ist eigentlich die Nummer, die mir die Polizei gegeben hat? Denn mir ist neulich doch aufgefallen, dass was fehlt. Sophies alte Decke, ihre Schmusedecke, und ich dachte, wer kann das alte Ding schon wollen, außer … und ihr Teddy fehlt auch, nicht wahr? Aber wenn das alles zusammenhängt …« Ich halte inne, mein Blick geht ins Nirgendwo. »Aber das war damals. Mein Gott, bedeutet das, er war schon mal hier …?«
»Kate, hör auf.« Charlotte hebt abwehrend die Arme. »Wir müssen mit dir reden. Über all das hier.«
Sie hat recht, ich muss ihnen Zeit geben, das zu verdauen, aber …
»Du bist wie im Wahn, merkst du das nicht?«
»Was? Nein, bin ich nicht. Ich versuche nur, euch das zu erklären.«
In mir steigt wieder diese Angst auf: Wenn ich sie nicht erreichen kann, wird mir Sophie davongleiten …
»Aber Kate, Schatz«, wirft Dad ein. »Denk bitte nach. Fang ganz vorne an. Falls sie wirklich Angst hat, falls sie Probleme hat – warum die Hotline anrufen? Warum nicht einfach die Polizei anrufen?«
»Vielleicht will sie das nicht, ich weiß nicht, warum«, erwidere ich und verstehe in dem Moment, dass ich ihnen nicht sagen kann, was ich wirklich denke: dass dieser Anruf irgendwie für mich gedacht war. »Oder vielleicht hat sie Sorgen, dass es Ärger gibt …«
»Kate, ich weiß, wie schwierig das alles für dich war«, sagt Dad. »Aber …«
»Das ist falsch«, unterbricht ihn Charlotte. »Das alles, was du gerade gesagt hast … ist dir nicht bewusst, dass du paranoid klingst? Der Detective ist gegen dich, verhält sich seltsam? Was kommt als Nächstes, eine Vertuschung?«
Die Erkenntnis schlägt Wurzeln, all meine hoffnungsvolle Energie verschwindet.
»Ihr seid nicht hier, um mir zu helfen.«
Sie sehen sich an.
»Wir wollen dir helfen, Kate, natürlich wollen wir das«, erklärt Dad. »Aber wir haben das Gefühl, dass du das nicht bewältigst.«
»Nun, ihr liegt falsch«, erwidere ich.
Charlotte schüttelt ihr kurzes Haar, die Arme wieder wütend verschränkt. »Ich wünschte, du könntest dir selbst zuhören. Dich selbst sehen.«
Ich blicke an mir hinab, der Pullover, die bloßen Füße. Ich weiß, dass mein Haar ungekämmt ist.
»Dad, ich habe dir erzählt …«
Jetzt unterbricht er mich: »Du hast recht, die Geschichte wiederholt sich. Es tut mir so leid, Kate, wir hätten mehr für dich tun sollen, vorher, nachdem Mark dich verlassen hat und du all diesen Ärger hattest.« Er wechselt von einem Fuß auf den anderen. »Jetzt haben wir gehört, dass er eine neue Partnerin hat, also ist es vielleicht nicht allzu erstaunlich, dass es für dich gerade sehr schwierig ist …«
»Das ist mir doch egal! Ich meine, nicht völlig, aber verglichen mit dem hier.« Der herannahende Kopfschmerz kündigt sich an, diese Schwere hinter meinen Augen. »Deshalb seid ihr gekommen«, fahre ich stumpf fort. »Aber ich brauche keine Kindermädchen. Hilfe, ja. Um meine Tochter zu finden. Warum hört ihr mir nicht zu?«
»Kate!«, ruft Charlotte frustriert. »Diese … diese Geschichte , die du uns gerade erzählt hast, und dann? Jemand ist eingebrochen, ohne irgendein Anzeichen dafür?« Ich sehe, wie sie versucht, sich zu beruhigen, was nicht gerade ihre Stärke ist. »Ich habe Angst um dich, wirklich. Du hast Wahnvorstellungen. Du brauchst Hilfe, professionelle Hilfe. Er hat gesagt …«
»Charlotte«, wirft Dad ein, ein warnender Ton in seiner Stimme.
»Nein, Dad, es muss sein«, redet Charlotte weiter. »Kate, als du wolltest, dass wir die Überdosis nicht weiter verfolgen, dachte ich, wir würden dir helfen, aber das stimmte nicht. Wir haben das alles aus dem Ruder laufen lassen.«
»Wie kannst du das sagen?« Das lasse ich nicht zu. »Du weißt, dass das ein Unfall war, kein echter – Gott! – Versuch, mir was anzutun. Und ich bin okay: Ich habe kein Problem mit den Tabletten, ich bin vorsichtig.«
Warum ist sie so?
»Wisst ihr, ich nehme sie nur zum Schlafen, und in letzter Zeit nicht mal das.« Mir kommt ein ernüchternder Gedanke: »Was glaubt ihr denn, warum ich mitten in der Nacht aufwache und wen auch immer im Haus gehört habe?«
Was wäre gewesen, wenn ich eine Tablette genommen hätte, wie vorher so oft? Wenn mich das Knarren nicht geweckt hätte, sondern sich nur langsam und lautlos der Türknauf gedreht hätte, während ich weiterschlief … Ich unterdrücke ein Frösteln. Darüber kann ich gerade nicht weiter nachdenken.
»Alles, was ich herausgefunden habe, nach allem, was passiert ist: Warum glaubt ihr mir nicht?«
Charlotte wirft einen Blick zu Dad, dann zu mir.
»Du hättest richtige, professionelle Hilfe in Anspruch nehmen müssen, Kate. Einen Psychiater, nicht diese Trauerberaterin, die du eh nicht mehr siehst.«
Endlich kocht meine Wut über, die Belastung und Angst der Nacht, der Zorn über die Polizisten, alles läuft über.
»Ich weiß, warum du das machst. Du warst immer neidisch auf das, was ich hatte. Jetzt kannst du mich klein halten, und das konntest du gar nicht abwarten, was?«
Charlotte nimmt einen tiefen Atemzug, ihre Augen füllen sich mit Tränen. »Vielleicht war ich … eifersüchtig. Früher. Aber wer wäre das jetzt noch?«
Ich zucke zusammen.
Sie ringt um Fassung, ich kann beinahe sehen, wie sie sich beruhigt.
»Ich glaube nicht, dass dein Verhalten gesund ist; wir müssen das richtig angehen. Nicht hier, nicht so.« Sie geht in den Flur, nimmt ihre Handtasche. »Dad, ich gehe. Jetzt . Ich denke, du solltest mitkommen.«
»Kate, ich wollte nie …«
Er sieht mich flehentlich an.
»Wir reden später«, bringe ich hervor. Ich kann es nicht ertragen, ihn so aufgewühlt zu sehen. »Wir klären das. Machen wir einfach … eine kleine Pause.«
Als der Motor aufheult, bewege ich mich nicht, dann rast Charlotte davon, kümmert sich nicht darum, ob der Kies den Lack zerkratzt. Ich bin zu weit gegangen, wird mir bewusst, während ein anderer Teil von mir denkt: Nein, warum hat sie mir nicht geglaubt? Was ist nur in sie gefahren?
Während der Kopfschmerz hinter meiner Stirn pulsiert, lehne ich mich gegen die Arbeitsplatte.
Also bin ich wieder allein.
Nein, schlimmer.
Keine Polizei auf meiner Seite. Keine Familie. Nur ich.
Um sie zu finden.