35. Kapitel
Sophie
M
an sollte meinen, diese Nacht hätte alles geändert: seine Hände um meinen Hals. Und für mich tat sie das auch. Aber als er das nächste Mal kam, verhielt er sich, als sei nichts passiert, stellte einfach die Tüte mit dem Essen ab und packte aus. Also folgte ich seinem Beispiel. Ich wollte nicht. Aber es war einfacher.
Sicherer.
Ich gab vor, nicht zu bemerken, dass ihm meine Nervosität und Schreckhaftigkeit auffiel.
Und die Tage vergingen, wurden zu Wochen, dann Monaten, dann länger. Wenn er nicht da war, weinte ich. Weil er es nicht mochte, wenn ich weinte. Durch das Dachfenster sah ich dem Wechsel der Jahreszeiten am Himmel zu: weißer Winter; ein grünes Blatt im Wind, Verkünder des Frühlings. Wolkenfetzen, dann das lange Blau des Sommers, bis es grau wurde. Schließlich wieder das stumpfe Weiß des Winters.
Aber ich konnte nicht vergessen, was geschehen war. Nun, da ich hinter die Maske geblickt hatte.
Ich wusste, dass er es auch nicht konnte. Immer länger blieb er weg, ließ Tage zwischen seinen Besuchen verstreichen. Wenn er heutzutage kommt, dann nie für lang.
Aber das wirklich Kranke daran ist, dass wir noch immer so tun, als sei es nicht das, was es ist.
Dieses Frühjahr tauchte er abends auf und wirkte sehr zufrieden mit sich. Er hatte eine Plastiktüte dabei, aber darin war nicht die übliche Essenslieferung.
Als er sie mir gab, während ich auf der Matratze saß, sagte er nichts. Schon durch seine Aura der Erwartung wusste ich, wie ich mich zu verhalten hatte – alles unterhalb von Enthusiasmus wäre eine schlechte Idee gewesen.
Darin befand sich ein kleiner Haufen Stoff, pink und flauschig.
»Mein Deckchen, nicht wahr?«, stellte ich fest.
Ich zog sie hervor, um daran zu riechen. Zuhause. Dabei senkte ich den Blick, damit er die Tränen in meinen Augen nicht sah.
»Danke«, brachte ich hervor. »Aber wie … woher hast du sie?«
»Freust du dich nicht?«
In seiner Stimme war eine scharfe Kante, die mir inzwischen nur allzu vertraut war.
»Doch, natürlich«, erwiderte ich und versuchte, mein glückliches Gesicht aufzulegen. »Ich habe sie vermisst.«
Das zu sagen war falsch.
»Vielleicht war es doch keine so gute Idee. Ich gebe mir so viel Mühe, all diese netten Dinge für dich zu tun.« Er seufzte. »Deine Eltern haben dich verzogen, das ist das Problem.«
Ich hasse es, wenn er davon anfängt. Tatsächlich glaubt er das wohl wirklich.
Beim ersten Mal war ich entsetzt.
»Eine verzogene kleine Prinzessin«, hatte er mich genannt. Ich weiß schon gar nicht mehr, weshalb, vielleicht hatte ich das Zimmer nicht ordentlich genug aufgeräumt oder war nicht schnell genug aufgestanden, als er kam.
»Aber du hast gesagt …«
Meine Stimme versagte, als ich den Ausdruck seiner Miene sah, während ich an die vielen Male dachte, als er mir genau das Gegenteil gesagt hatte: wie unfair meine Eltern zu mir waren, dass sich jemand richtig um mich kümmern müsste. Jetzt reagiere ich gar nicht.
»Danke, wirklich. Es war so klug von dir, sie zu besorgen«, erkläre ich bedachtsam. Mir wird schlecht dabei, wie durchschaubar ich bin, aber seine Schultern entspannen sich. »Das hätte ich mich niemals getraut.« Auch das gefällt ihm. »Ich hätte angenommen, dass es schwierig sein muss, ins Haus zu kommen …«
Auf keinen Fall werde ich ihn fragen, wie er das gemacht hat.
»Es war nicht allzu schwierig.«
Er greift sich die Fernbedienung und schaltet um.
Also hat ihn jemand ins Haus gelassen? Mir fällt keine Ausrede ein, die er dafür hätte benutzen können. Aber welche andere Möglichkeiten gab es – dass er gewartet hatte, bis alle weg waren, und … was? Selbst die Tür aufbekam?
Ein Frösteln läuft meinen Rücken runter, als ich mich erinnere.
Einmal hatte er mich zu Fuß nach Hause begleitet, mich nicht wie sonst am Ende der Straße abgesetzt. Mum und Dad waren wohl unterwegs, ihre Autos standen nicht in der Einfahrt. Selbst dann kam er nicht mit bis zum Haus, weil er sah, wie die Sicherheitslampen durch mein Nahen angingen. Ich hatte gekichert, wusste ich ihn doch hinter mir in den Schatten, während ich im Gebüsch unter den alten Ziegeln nach dem Schlüssel suchte. Vor der Haustür winkte ich der Dunkelheit zu, sicher, dass er mich beobachtete.
So viele Jahre später beobachtet er immer noch mein Haus – meine Familie?
Auf jeden Fall war mir eines bewusst: Das war kein Geschenk. Es war eine Drohung.
Aber selbst dieser Tage ist er noch oft süß. Es gefällt ihm, so zu tun, als seien wir ein normales Paar. Solange ich genau das tue, was er will.
»Du bist glücklich, nicht wahr, Schatz, nur wir beide?«, hat er mich neulich abends gefragt, als er neben mir auf dem Sofa saß. Er sieht gern fern und fährt dabei mit seinen Fingern durch mein langes Haar.
Schon lange bitte ich nicht mehr um eine Schere. Er ist nicht dumm.
Sag ihm, was er hören will.
»O ja«, hatte ich geantwortet. Mir fiel der hohle Ton meiner Stimme auf, also versuchte ich es noch mal: »So glücklich.« Beinahe hätte ich da aufgehört. »Aber die Sache ist, ich finde, also jetzt, da so viel Zeit vergangen ist, können wir vielleicht mal schauen – was als Nächstes ansteht. Wohin wir gehen können, zusammen.«
Selbst in mir drin klang das schwach, besiegt. Aber ich kann nicht aufgeben, es zu versuchen.
»Mhm«, war seine Antwort, während er seinen langen Arm auf die Lehne des Sofas legte. Ich verbot mir zusammenzuzucken.
»Weißt du«, begann er, seine Stimme sanft in meinem Ohr. »Weißt du … jetzt sind es nur wir beide, nicht? Niemand sonst weiß, dass du hier bist. Sollte mich irgendwas von hier fernhalten, was auch immer …« Er strich über meine Schulter, zog kleine Kreise auf meiner Haut. »Niemand wüsste dann, dass du hier bist. Und was würdest du dann tun?«
Das hat er alles schon vorher gesagt. Dennoch wird mir kalt, und ich starre auf den flackernden Bildschirm.
»Wir müssen zusammenhalten«, gab ich zurück.
Weil das meine einzige Chance ist. Er muss mir vertrauen.