36. Kapitel
Kate
J
etzt, da sie weg sind, bin ich zugleich aufgedreht und erschöpft, bereit abzustürzen. Aber gerade gibt es nichts zu tun, außer ein wenig auf dem Sofa zu schlafen.
Als ich aufwache, ist es still im Haus, und die Sonne geht bereits unter, woraus ich schließe, dass es später Nachmittag ist. Zu leise wirkt es, nur Wind in den Bäumen, manchmal das ferne Brummen eines Autos auf der Straße.
Ich will raus hier. Eine schnelle Dusche, deren heißes Wasser mich etwas wacher werden lässt; unten höre ich das Telefon klingeln. Ich ziehe Jeans und ein T-Shirt an. Ich muss darüber nachdenken, was ich als Nächstes mache. Aber hier kann ich nicht bleiben. Mein Kopf bringt mich um: Ich spüre den Druck in der Luft, denn der Himmel ist nicht mehr so blau, sondern hat diesen schweren, leeren Schein – sicherlich wird es bald regnen.
Bevor ich gehe, nehme ich noch mein Handy. Schon zwei verpasste Anrufe von Charlotte und eine Nachricht auf der Mailbox. Während ich meine Handtasche nehme und meine Autoschlüssel hole, spiele ich sie ab.
»Kate, ignorierst du jetzt meine Anrufe?«
Sie klingt gestresst; nein, sie ist aufgebracht. »Ich muss dringend mit dir reden, Katherine.«
Katherine, wie Mum mich gerufen hat. »Ich lasse nicht zu, dass du mit mir das tust, was du mit allen anderen gemacht hast. Das lasse ich nicht zu. Ruf mich bald zurück, oder ich komme vorbei. Noch mal. Wir klären das.«
Ich hätte nicht gedacht, dass sie mich so schnell wieder nerven würde.
Und dann noch eine Nachricht: Ich brauche einen Moment, um die männliche Stimme zuzuordnen.
»Kate, Dr. Heath hier. Nick. Hör mal, ich hatte deine Familie in der Leitung – sie machen sich recht große Sorgen um dich. Wir glauben, es wäre eine gute Idee, wenn ich vorbeikäme und mal nach dir sehe. Bist du heute zu Hause? Ruf mich doch bitte zurück.« Er spult seine Mobilnummer ab. »Heute mache ich ohnehin meine Runden, also schaue ich auf jeden Fall vorbei.«
Ich fluche leise vor mich hin. Deshalb ruft mich Charlotte so bald, nachdem sie mit Dad gefahren ist, wieder an. Sie haben schon meinen Arzt mit hineingezogen. Dürfen sie das überhaupt? Ich erinnere mich, dass ich ihnen erlaubt habe, mit ihm zu sprechen, damals, als sie sich solche Sorgen gemacht hatten – aber läuft das nicht irgendwann aus? Keine Ahnung. Sie können nicht wirklich etwas tun? Oder? Mich irgendwo hinbringen. Wo ich nichts für Sophie tun könnte.
Das festigt meinen Entschluss – ich werde hier nicht darauf warten, dass sie vorbeikommen und mit mir reden –, und ich gehe raus zu meinem Wagen. Ich achte kaum auf die Straße, als ich aus der Einfahrt rechts abbiege, das Fenster runterlasse und an der Kreuzung halte, während sich alles noch mal in meinem Kopf abspielt.
Der gesichtslose Mann. Sophie. Nancy. Wo war die Verbindung zwischen ihnen?
Dieser Freund, Jay, hat Nancy vielleicht geschwängert. Und dann geschah was? Und jetzt, dreißig Jahre später, wiederholt sich die Geschichte? Es kann unmöglich derselbe sein. Unmöglich. Aber ich muss ihn irgendwie finden … Nancy ist der Schlüssel zu allem.
Hinter mir hupt jemand. Ich blicke auf – die Ampel hat auf Grün geschaltet. Ich gebe Gas, der Wagen ruckt vor. Ich muss von der Straße runter, ich bin viel zu abgelenkt, das ist regelrecht gefährlich.
Als ich im Dorf ankomme, parke ich vor dem Supermarkt: Mit einem Mal merke ich, dass ich Durst habe. Ich werde mir ein Wasser besorgen.
Kaum bin ich drinnen, denke ich wie immer, dass der Laden viel zu groß für so ein Dorf ist. Und dennoch kann man sich darauf verlassen, dass man jedes Mal jemanden trifft, den man nicht …
»Katie! Bist du das?«
Ich drehe mich um. Eine Sekunde benötige ich, um die beiden schlanken Blondinen in ihren Leggings und hellen Turnschuhen zu erkennen: Ellen Fraser, mit einem Korb am Arm, und Lindsey Brookland, die Freundin meines Ehemanns.
Ausgerechnet heute kann ich das nicht.
»Kate, wie geht es dir?«, fragt Ellen und wirft einen Blick auf Lindsey neben ihr. Aber Lindseys Kinn ist ein wenig erhoben, um mir zu zeigen, dass es nichts gibt, wofür sie sich schämen muss. »Alles okay? Du siehst …«
Lindsey unterbricht sie: »Kate, eigentlich habe ich versucht, dich zu erreichen. Aber du gehst nie ans Telefon …« Sie ist größer als ich und macht einen Schritt auf mich zu. »Aber wir können das auch genauso gut jetzt hinter uns bringen. Siehst du, Mark macht sich große Sorgen, alle machen sich große Sorgen. Du brichst ganz offensichtlich zusammen. Aber es ist wirklich an der Zeit, dass du loslässt und ich …«
Als ich ihrem Einkaufswagen einen kleinen Stoß gebe, der sie einen Schritt nach hinten zwingt, hält sie inne.
»Nein. Bitte nicht«, sage ich höflich, aber bestimmt.
Lindsey wird rot vor Ärger.
»Aber hast du jemals darüber nachgedacht, dir einen Anwalt zu nehmen oder hier auszuziehen …«
»Ich sagte, bitte nicht.« Etwas in meiner Stimme lässt sie zögern. »Du gehst deinen Weg und ich meinen.«
Wieder stoße ich gegen ihren Einkaufswagen, sodass er ihre Knie rammt. Sie gehen mir aus dem Weg.
»Kann man das glauben …«, höre ich Ellen leise hinter mir sagen, während ich gehe.
Tatsächlich verstehe ich mit einem Mal, dass es mir wirklich egal ist, dass sie mir wirklich egal sind – aber meine Sorgen kehren verstärkt zurück. Alle sind meinetwegen beunruhigt, wegen dem, was ich als Nächstes anstellen könnte. Aber was soll ich als Nächstes anstellen? Es fühlt sich an, als würden alle Türen vor mir zugeschlagen. Fragmente von Gesprächen dringen an meine Ohren, während ich seltsam körperlos durch die Gänge gehe.
»… warum sie Diät-Chips heißen? Weil man nur sieben in einer Tüte bekommt! Das ist ein Witz, also wirklich …«
»Äpfel, Milch, Küchenrolle. Äpfel, Milch, Küchenrolle. Da war doch noch was …«
»Mummy, schau mal, können wir die kaufen, bitte, Mummy?«
»Nein, ich bin immer noch hier.« Pause. »Würde ich gehen, ohne Bescheid zu sagen? Nein, ich bin noch hier.« Die Stimme eines Mädchens. »Du musst zurückkommen und mich abholen …«
Ich drehe mich um und sehe sie, das Handy noch in der Hand, wie sie zum Ausgang stampft, ein Bild von wehendem langen Haar und Groll, offensichtlich erzürnt darüber, vergessen worden zu sein.
»Ich bin noch da …«, hatte Sophie am Telefon gesagt, bei dem Anruf, der alles ausgelöst hatte. »Ich bin noch da.«
Das hatte bedeutet, dass sie noch am Telefon war, natürlich. Anders als dieses Mädchen.
Das Mädchen ist noch da. Sie war nirgendwo anders …
Mit einem Mal wird mir schwindelig, der Boden schwankt unter mir. Ich lehne mich gegen die Regale, Dosen fallen zu Boden.
»Vorsicht!«, ruft mir ein Mitarbeiter zu, der schon auf mich zuläuft. Er bleibt stehen: »Geht es Ihnen gut, Madam? Sie sehen ein wenig bleich um die Nase aus …«
Ich nicke, richte mich langsam wieder auf.
»Entschuldigung. Ja, mir geht es gut.«
Damit gehe ich weiter.
Natürlich ist Sophie weggelaufen. Das weiß jeder. Darüber gibt es keinen Zweifel, das war von Anfang an sicher. Es gab so viele Hinweise: ihr Abschiedsbrief, das Video vom Busbahnhof, die Postkarten. Der Anruf bei der Flaschenpost-Hotline, einem Sorgentelefon für Ausreißer, um Himmels willen.
Obwohl sie verängstigt klang, hatte sie mir kein »Ich liebe dich, Mo« geschenkt. Nur »ich bin noch da« …
Dazu das Tagebuch, das darauf hinwies, warum sie wirklich gegangen war. Nur falls, sagen wir mal, jemand Fragen stellte. Aber am Ende war das Tagebuch gar nicht das, was es zu sein schien.
»Ich bin noch da …«
Ich halte inne. Hinter mir öffnet und schließt sich die Tür, die Sensoren nehmen mich wahr, aber ich bewege mich nicht mehr.
Ich weiß es. Ich weiß, was mir die Postkarten sagen wollten. Es war die ganze Zeit da, direkt vor mir: Man muss sie nur richtig lesen. Es ist so einfach, dass ich laut loslache, dann aufhöre, von meinem eigenen Verhalten überrascht.
Kein Wunder, dass ich es nicht verstanden habe. Sophie hat sich nie für Kreuzworträtsel, Wortspielereien und all den Kram interessiert, den ich mochte. Sie war ein visueller Mensch, liebte Kunst, ihre Malerei. Und darüber hat sie versucht, mit mir zu kommunizieren, sogar jetzt noch.
Es waren nicht einfach Kritzeleien von Blumen auf ihren Nachrichten an uns. Oh, natürlich waren es Blumen, aber das war nicht die ganze Geschichte.
Ich kenne sie. Ich weiß jetzt, wo sie sind.
Stilisiert und symmetrisch wirken sie nicht so sehr wie reale Rosen. Aber das liegt daran, dass sie keine Rosen malt, sondern Schnitzereien von Rosen, die Art, die man sie in altem Mauerwerk sehen kann. Hübsche, gemeißelte Steinrosen, die sich zum Beispiel um ein großes viktorianisches Gebäude schlingen mochten, mit ordentlichen kleinen Blütenblättern, die Art von Detailfreude, die wir heute beim Bau unserer Heime nicht mehr aufbringen.
Langsam laufe ich los, Richtung Auto, dann schneller und schneller. Weil ich sie jetzt erkenne – ich weiß vollkommen sicher, wo ich sie gesehen habe.
Es war vor Parklands. Sophie hat die Rosen gemalt, die sich im Mauerwerk von Parklands befinden, hat mir das Motiv des Hauses geschickt. Ich würde wetten, dass man drinnen auch Rosen findet – in Parklands, dem Haus, in dem Nancy aufwuchs.
Denn Nancy war immer die Antwort.