37. Kapitel
Sophie
E
s gab nichts, was ich tun konnte, zumindest nicht am Anfang. Mir erschloss sich kein Ausweg: Ich musste es einfach durchstehen, sagte ich mir, es aussitzen. Ich erlaubte mir nicht, darüber nachzudenken, worauf ich wartete. Kein Zusammenbruch! Sollte ich die Kontrolle verlieren … irgendwas sagte mir, dass das keine gute Idee war. Also musste ich einfach auf eine Gelegenheit warten. Geduldig sein.
Und eines Tages im ersten Winter kam die Gelegenheit: Er sagte, es sei an der Zeit für eine weitere Postkarte.
Die erste war meine Idee gewesen, etwas, das wir vor meinem Weggang besprochen hatten. Wir hatten überlegt, wie wir zusammen sein könnten, ohne dass jemand nach uns suchte. Das Wort Polizei fiel dabei nie.
»Ich muss nur eine Nachricht nach Hause schicken, oder nicht?« Es erschien mir so einfach. »Damit sie sich keine Sorgen machen.«
»Wie?«
Wir saßen wie so oft in seinem Auto, denn er hatte mich abgeholt, damit wir uns ein paar Minuten stehlen konnten. Es war einfacher, als man denken würde, wenn einen niemand suchte.
»Nun, ich könnte anrufen.«
»Sie würden es zurückverfolgen. Du kannst ohnehin nicht direkt zu Hause anrufen. Das lenkt zu viel Aufmerksamkeit auf dich.«
Ich fühlte mich töricht.
»Dann ein Brief. Mit meiner Handschrift, dann wissen sie, dass er echt ist.«
Durch sein Schweigen wusste ich, dass er darüber nachdachte.
Aber ich mochte die Postkarten nicht. Es waren wohl so zwei Wochen vergangen, als er sie mir zeigte. Die frühe Phase. Selbst damals fühlte es sich nicht richtig an. Keine Ahnung, woher er sie hatte, vielleicht auf der Website eines Sammlers bestellt oder so. Sie wirkten so anonym. Spanien! war der Aufdruck der obersten.
Also sollten sie von mir denken, dass ich mich an sonnigen Stränden bräunte? Das wirkte auf mich wie ein Schlag ins Gesicht für alle, die ich zurückgelassen hatte.
»Das sind aber viele«, erinnere ich mich gesagt zu haben.
Er trug Latexhandschuhe, um keine Fingerabdrücke zu hinterlassen. Die Haare auf seinen Handgelenken waren dadurch zu sehen. Aus irgendeinem Grund wollte ich mir das nicht genauer anschauen. Es ließ alles so echt erscheinen, so albern das jetzt auch klingt – wenn man bedenkt, wie weit sich die Dinge schon entwickelt hatten.
Aber ich tat es, wie beschlossen. Ich schrieb die Nachricht, die er mir diktierte, Wort für Wort – »wir können da kein Risiko eingehen oder irgendein Detail verraten, du musst genau das schreiben, was ich dir sage« –, dann unterschrieb ich, wie immer mit dem kleinen Gänseblümchen. Es war so eine kurze kalte Nachricht, ich konnte mir nicht vorstellen, was Mum denken würde.
Ich hoffte nur, dass sie sich nicht allzu viele Sorgen machen würde.
Mir war nicht bewusst, dass er mich noch mal dazu bringen würde. Die Tage wurden schon länger, es wurde wohl Frühling. Ich konnte kaum glauben, dass ich immer noch da war, jedenfalls wenn ich mir erlaubte, das Verstreichen der Zeit überhaupt zu bemerken. Ohne zu wissen, was draußen vor sich ging, und er sagte mir nichts.
Wie vorher auch diktierte er mir die Nachricht.
»Weißt du«, erwiderte ich, »ich bin nicht sicher, ob ich so ein Wort überhaupt benutzen würde.«
Ich hatte darüber nachgedacht, nur falls er mir sagen würde, ich müsse noch eine schreiben. Zum Nachdenken hatte ich ja viel Zeit.
Irgendwie würde ich eine kleine Botschaft darin verstecken. Der erste Buchstabe jeder Zeile würde ein Wort ergeben: Hilfe. Oder vielleicht SOS. Was immer ich auch vor ihm verbergen konnte, das wusste ich ja nicht. Also machte ich Fehler – nicht alle absichtlich –, um das eine oder andere meiner speziellen Wörter unterzubringen. Aber jedes Mal ließ er mich von Neuem anfangen, und er wurde immer genervter.
»Es tut mir leid«, sagte ich mit Tränen in den Augen. »Es klappt einfach nicht.«
Es war nicht nur Schauspielerei. Diese Postkarten, diese Nachrichten nach Hause – sie machten mir Angst, denn sie verbargen unsere Spuren immer weiter. Wie sollte mich jemals jemand finden?
Aber er wurde wütend, und das war schlimmer. Weshalb ich schlussendlich genau das tat, was er wollte. Ich schrieb seine Worte, die öde, sorgfältig formulierte Nachricht.
»Ist das alles?«, erkundigte ich mich, als ich gerade unterschreiben wollte. Ich saß mit gekreuzten Beinen auf der Matratze, die Karte auf ein Buch gelegt. Und da sah ich sie, eine der kleinen Blumen auf der Wandvertäfelung hinter seinem Kopf. Ich hatte sie immer gemocht. Also malte ich sie einfach, die Rose mit ihrem kleinen inneren Blütenkranz statt meines üblichen Gänseblümchens. Es war nur eine schnelle Kritzelei.
Als ich ihm die Karte gab, tanzten Schmetterlinge in meinem Bauch.
Er sagte kein Wort, sondern las sie nur bedächtig, hielt sie in behandschuhten Fingern. Das war kein hohes Risiko, nicht wirklich.
»Das geht schon«, stellte er fest und steckte sie in seine Jackentasche, bevor er ging.
»Es wird alles gut werden, nicht wahr?«, flüsterte ich in Teddys Ohr, als ich allein war. »Alles gut, alles gut, alles gut.«
Zum ersten Mal seit Ewigkeiten fühlte ich mich leicht.
Selbstverständlich passierte gar nichts. Niemand kam. Aber es war ein gutes Gefühl, etwas zu tun, von dem er nichts wusste.
Also machte ich es beim nächsten Mal wieder, kopierte sie noch genauer von den Wänden: die abgerundeten, identischen Blumen, die in einer Reihe über die Wände des Zimmers liefen, die Blüten in ihrer Mitte angeordnet, sodass sie aussahen wie doppelte Rosetten.
Ich erlaubte mir nicht, wirklich zu hoffen. Und je länger ich hier war, desto schwieriger wurde es, sich überhaupt vorzustellen, dass noch jemand nach mir suchte. Wer sollte die Blumen auch erkennen? Mir war ja bewusst, dass niemand mehr herkam. Es war wie ein Märchen, in dem ich Brotkrumen-Spuren legte, die von Mäusen gefressen wurden. Aber es hinderte mich daran, jedes Mal zu verzweifeln, wenn er mir eine Postkarte gab, ließ mich mir selbst vorlügen, alles sei gut.
Und es war noch mehr: etwas zu tun, das er nicht wusste. Rebellion. Wie einen kleinen Muskel zu bewegen, den ich lange nicht gespürt hatte. Vielleicht Übung, auch wenn ich immer noch nicht genau weiß, wofür.