39. Kapitel
Sophie
A
lles verändert sich. So lange wollte ich so dringend, dass etwas passiert, aber jetzt ist es so, und es geht zu schnell. Und alles wegen des Anrufs, da bin ich sicher.
Vor etwa einer Woche teilte er mir mit, dass wir diesmal keine Postkarte verschicken würden. Stattdessen würde ich anrufen.
Mein Herz tat einen Sprung. Es funktioniert, er vertraut mir
. Ich hatte mir solche Mühe gegeben …
Dann sagte er, wir würden erst mal üben. Er würde mir beibringen, was ich sagen solle. »Was?«, blaffte er mich an.
Er hatte wohl die Enttäuschung gesehen, die ich zu verbergen versuchte.
»Denkst du etwa, ich lasse dich eine Botschaft nach draußen senden? Oder ihnen erzählen, was dir gerade in den Sinn kommt?«
Das war so nah an der Wahrheit, dass ich erstarrte.
Aber er wurde ruhig, fast schon vernünftig.
»Sophie, wenn du jemals etwas Dummes oder Gefährliches tust« – ich merkte, dass ich die Luft anhielt –, »weißt du, es wäre nur ein Augenblick für mich. Lange bevor die Polizei hierherkommt. Oder sonst wer.« Er sah mich nicht mal an. »Du verstehst doch, dass ich es tun müsste, für meine eigene Sicherheit. Ich kann niemanden in Gefahr bringen lassen.« Er schaffte es, fast traurig zu klingen. »Nicht mal dich.«
Und dann sagte er mir, was ich zu sagen hatte.
Eines Abends, entschied er, dass jetzt der richtige Zeitpunkt war. Er verschwand kurz und kam mit einem klobigen Handy wieder. Danach ließ er mich erst ein wenig warten, rief selbst jemanden an, beendete das Gespräch.
»Komm her«, befahl er endlich, und ich setzte mich neben ihn aufs Sofa. »Also, wirst du vernünftig sein?«
Ich nickte.
»Egal, was passiert?«
Ich verstand nicht, was er damit meinte.
»Egal, was passiert.«
Er wählte eine Nummer, legte das Telefon zwischen uns und schaltete den Lautsprecher ein.
»Hallo«, sagte die Stimme, dann Rauschen, schließlich: »… Flaschenpost …«
Ich wiederholte, was ich sagen sollte, wie ein Papagei. Der Empfang war furchtbar schlecht: Dauernd war der Ton weg, vermutlich wegen der dicken Wände. Die Frau war ein wenig älter, klang freundlich. Und ich war so erleichtert, nach all der Zeit einfach nur mal eine andere Stimme als seine zu hören.
»Ich muss schnell sein«, erklärte ich ihr. »Sie müssen ihnen sagen, dass sie sich nicht mehr um ihre Tochter zu sorgen brauchen. Dass sie … dass es mir
gut geht …«
Wieder Unterbrechungen in der Verbindung, dann kam ihre Stimme durch: »Wem? Wem soll ich das sagen?«
»Sie sollen sich keine Sorgen machen, wenn sie dann nicht mehr von mir hören, es schmerzt nur uns alle.« Diesen Teil hasste ich. »Mein Name ist Sophie Harlow«, fügte ich hinzu, als er nickte. »Meine Eltern sind Kate und Mark Harlow. Hallo? Hallo?«
»Sophie?«, fragte die Frau fast gedankenverloren. Dann wirklich ruhig: »Bist du das, Sophie?«
Ein Augenblick der Verwirrung, bevor man etwas versteht, wie eine Figur in einem Cartoon, deren Füße durch die Luft wirbeln, kurz bevor sie von der Klippe stürzt.
Das war nicht unser Plan – ich sah ihn an: keine Spur Überraschung in seiner Miene. Er nickte.
Mir wurde übel.
Natürlich. Selbstverständlich ist sie das. Das hat er die ganze Zeit vorgehabt. Mich mit ihr reden lassen, damit sie denkt, es geht mir gut …
»Bist du noch da?« Tränen stiegen in meine Augen. Halt dich ans Drehbuch. Ich konnte nicht riskieren, davon abzuweichen. »Bist du noch da?«
In dieser Sekunde traf mich die geballte Angst. Das ist es. Er verwischt alle Spuren.
»Ja, ja, ich bin noch dran.« Als ich es sagte, erkannte ich, dass dies mein Hinweis war – meine einzige Chance. Vertrau ihr. Ich gab dieser Phrase jede Unze Gewicht, das ich aufbringen konnte, als hätte ich die Worte in Stein gemeißelt.
Langsam und bewusst erkläre ich: »Ich bin noch da.«
Aber sie antwortete nur: »Ich liebe dich, So.«
Sie klang so traurig. Besiegt. Nicht wie Mum.
Die Leitung wurde still.
»Ich liebe dich, Mo«, wisperte ich. Seine Finger drückten den Knopf des Telefons noch einen Moment, einfach nur um sicherzugehen, dann nahm er es wieder an sich und entfernte den Akku mit geschickten Bewegungen.
Danach erklärte er keineswegs, warum er das so arrangiert hatte – und ich weiß es besser, als ihn danach zu fragen. Aber wenn er sie davon überzeugen will, dass es mir gut geht, sie aber nichts mehr von mir hören wird … was hat er dann als Nächstes vor?
Als er mir das Tagebuch zeigte, erschütterte er mich bis in mein Innerstes. Ich hatte es damals mitgebracht, als ich ging, und niemals mehr hineingeschrieben. Ich konnte ohnehin nicht schreiben, was ich wirklich empfand. Aber er hatte es wohl gefunden und mitgenommen.
Es war ja nicht so, dass ich dem Tagebuch alles anvertraut hatte. War mit dem Hund spazieren,
solche Sachen, kleine Erinnerungen nur für mich, die niemand sonst verstehen konnte, falls es mal jemand las – war mit dem Hund spazieren, und er hat mich am Ende der Straße abgeholt
. Und ich hatte recht behalten, denn Mum fand es. Damals war ich so wütend – aus Angst, etwas verraten zu haben. Aber ich war vorsichtig genug gewesen.
Dieses Mal hatte er schon vorher aufgeschrieben, was ich nur noch abschreiben sollte, während er über mir stand und es überprüfte. Ich verstand, während ich schrieb. All diese Sachen, die er mich schreiben ließ, dieser Haufen Lügen, über mich und Danny, wie wir das Baby losgeworden waren … irgendwer hatte herausgefunden, dass ich schwanger geworden war.
Aber diese bösen Sachen, die ich schrieb, würde die jemand glauben? Sie verbargen mich nur noch mehr, so als würde man Äste auf einen Körper im Wald legen. Ich weiß nicht, warum ich an so schreckliche Bilder denken musste.
Also schrieb ich so langsam wie möglich, versuchte mir was einfallen zu lassen. Dann war ich fertig, blätterte zurück, bevor ich es ihm zurückgab – und sah die erste Seite.
»Aber da fehlt ja mein Name«, protestierte ich.
»Was schlägst du vor, dass wir es mit einem Begleitschreiben an die Polizei schicken?«
»Nein, natürlich nicht«, pflichtete ich ihm bei. »Es ist nur … wie du immer sagst, die Leute haben mich längst vergessen.«
Auch wenn er nicht zugeben konnte, dass ich im Recht war, blätterte er irritiert darin herum und gab es mir dann wieder. »Schreib Namen und Adresse und so rein. Aber keine Fehler!«
Da tat ich es – ich schrieb meine E-Mail-Adresse hinein, aber es war die falsche.
Hier drinnen hatte ich einfach viel Zeit zum Nachdenken – darüber, was ich tun würde, falls ich jemals die Möglichkeit bekam.
Er hatte mir befohlen, unseren letzten Mailwechsel zu löschen, und ich hatte es getan. Aber direkt davor hatte ich auf »Weiterleiten« geklickt und alles in meinen Entwürfen gespeichert. Warum, kann ich wirklich nicht sagen. Er war so gründlich. Eventuell hatte mir die Endgültigkeit des Ganzen Angst eingejagt.
Damit würde ich nichts anfangen. Aber in der Nacht konnte ich nicht schlafen. Ich blieb auf, leise in meinem Zimmer, machte nur Unsinn. Bloß nicht darüber nachdenken, was ich vorhatte. Alles war vorbereitet. Fast alles, fiel mir ein, und ich schaltete den Computer ein.
Eigentlich wollte ich den Entwurf löschen. Aber ich tat es nicht, nicht richtig jedenfalls. Stattdessen eröffnete ich ein neues E-Mail-Konto, aus einem Impuls heraus, um alles darin zu verstecken. Es war weniger ein Plan als vielmehr … ein Souvenir. Ich glaube, ich wollte einfach eine Spur hinterlassen, auch wenn sie nur für mich selbst war. Der Beweis, dass das alles wirklich geschah.
Natürlich musste ich Antworten auf die Sicherheitsfragen finden. Nun, er kannte meine Antworten. Also richtete ich sie so ein, als wären es die Antworten von Mum. Ich redete mir ein, dass es ein kleiner Seitenhieb sei. Noch immer war ich wegen des Tagebuchs sauer. Aber vielleicht wusste ein Teil von mir einfach: Du kannst deiner Mum vertrauen.
Sogar noch als ich ihm das Tagebuch wieder aushändigte, spürte ich, wie dieses Grau über mich kam. Wem mache ich da was vor? Niemand wird das sehen.
Nicht zum ersten Mal wollte ich nur in der Zeit zurückreisen und mich selbst schütteln, mir ins Gesicht brüllen.
Das war alles so schrecklich, so komplett jenseits meiner Kräfte. Aber vielleicht … nur vielleicht …
Falls mich jemand finden kann, dann sie.