40. Kapitel
Kate
D ie Treppe macht einen langen Schwung bis zum offenen Absatz oben, unter hohen Bleiglasfenstern durch, die ebenfalls mit Brettern vernagelt sind. Einst war das wohl ein teurer Teppich, aber jetzt ist der dicke Stoff abgetragen und löchrig. Hier im ersten Stock hat irgendjemand die Vertäfelung hell gestrichen in einem fehlgeleiteten Versuch, die Räume aufzuhellen. Aber es sind die Badezimmer, die mehr als alles andere alt wirken, sogar im Vergleich zum klassischen Mauerwerk: Da ist eines so aus den Achtzigern, in Avocadofarbe, mit Rost unter den Hähnen.
Vom Absatz aus, der über der Eingangshalle thront, führen mehr sich windende Korridore zu weiteren heruntergekommenen Räumen, in denen der Unrat der vorherigen Bewohner verstreut liegt: ein schräger Klapptisch. Eine alte Sonnenliege, die sicher nicht für drinnen gedacht war. Stapel von Magazinen, National Geographic . Ich hebe eins hoch und schlage es auf, worauf ein kleines Insekt hervorkrabbelt. Schnell lasse ich es wieder fallen. Silberfischchen.
Danach gehe ich vorsichtig durch halb offene Türen weiter, da ich nichts mehr berühren will. Ich weiß nicht, warum leere Häuser so verdrecken – dicke graue Staubklumpen liegen in den Ecken.
Fast bin ich durch. Den Großteil des Hauses habe ich schnell angesehen und will schon wieder runtergehen, für einen letzten Blick, als ich eine Tür entdecke, die mir in einer Ecke entgangen ist. Aber der alte Eisenschlüssel lässt sich gut drehen, und die Tür führt zu einer schmalen Treppe mit niedriger Decke, die ich gleich emporsteige.
Jetzt bin ich wohl unter dem Dach, in einem kleinen Flur unter schrägen Wänden. Ich erkunde alles: Hier sind die Räume kleiner, mit seltsamen Proportionen. Dienstbotenräume vielleicht? Nein, erkenne ich, sie sind zu hübsch. Die Außenwände, noch original, sind mit dem gleichen Holz vertäfelt und mit Rosen dekoriert, wie die Präsentationsräume unten. Vielleicht waren das Kinderzimmer oder der Rückzugsort für die Dame des Hauses, in den man Zwischenwände eingezogen hat. Meine Schritte kratzen über den fadenscheinigen Teppich, als ich am Ende des Flurs ankomme.
Ich stehe vor der allerletzten Tür. Sie ist auch verschlossen, aber der Schlüssel steckt.
Durch den Schlitz unter der Tür scheint Licht hindurch, und es gibt einen Riegel oben und noch einen weiter unten.
Massive Stahlriegel, wie ich feststelle. Mit denen man die Tür nur von außen verschließen kann.
Die Härchen auf meinen Armen stellen sich auf. Gänsehaut, bemerke ich geistesabwesend.
Ich bücke mich zum unteren Riegel, dann schiebe ich den oberen zurück. Drehe den Schlüssel und spüre, wie sich das Schloss bewegt.
Ich öffne die Tür.
Schon ein Blick genügt: Der Raum ist leer. Jetzt sehe ich auch, warum es hier heller ist, noch bevor ich das Licht einschalte. Die neueren Zwischenwände haben die ursprünglichen Fenster des Dachgeschosses verdeckt, weshalb hier ein modernes Dachfenster eingebaut wurde. Man sieht den Himmel hindurch, ein violettes Rechteck. Man hat sich keine Mühe gemacht, es zu vernageln – ich gehe davon aus, dass niemand über das Dach einsteigen würde.
Sorgfältig sehe ich mich um, aber meine letzte Hoffnung schwindet.
Unter den Dachvorsprüngen winden sich die Rosen über die Vertäfelung. Hinter einer Tür am Ende des Raums finde ich eine Toilette samt Waschbecken; altmodisch in Schwarz und Weiß mit einer Kettenspülung. Vielleicht wurde das installiert, als sie hier einen Ort für die Kinder geschaffen haben, ein Spielzimmer oder so. Aber das war es dann.
Damit bin ich durchs ganze Haus.
Hier ist gar nichts.
Wahnvorstellungen, flüstert eine Stimme in meinem Kopf. Paranoid.
Sie ist nicht hier.
Inzwischen habe ich überall gesucht. Dieses Haus ist mir unheimlich. Kein Wunder bei seiner traurigen Geschichte. Vielleicht haben Nancy und ihre Schwester hier oben gespielt. Aber Sophie ist nicht hier.
Ich gehe zum Fenster, blicke hoch: Dicke Regentropfen fallen herab, einer nach dem anderen. Regen, endlich. Natürlich ist sie nicht hier. Was dachte ich denn: dass sie sich nur hinter irgendeiner Tür versteckt? Also glaubte ich, sie wolle mir sagen, dass alles mit Nancy zu tun hatte. Oder mit Nancys Haus. Dass es bedeutete, sie wäre wirklich hier. Sie meinte wohl was anderes, und ich habe sie falsch verstanden.
Jetzt ist es an der Zeit, nach Hause zu gehen. Der Wahrheit ins Auge zu blicken. Sophie ist weggegangen. Ich muss mit meiner Familie reden, vielleicht kann Dad – wenn ich die Polizei dazu bringe … Erschöpfung überwältigt mich. Ich weiß nicht, was ich tun soll. Ich versage. Sie hinterlässt mir diese Botschaften, und ich versage. Müde gehe ich zur Treppe.
Ich beginne, die Tür hinter mir zu schließen, so, wie ich sie vorgefunden habe.
Der Schmerz ist wie ein Biss. Ich reiße meine Hand weg – ein Splitter.
»Au!«
Im grauen Licht quillt ein Tropfen dunkler Flüssigkeit aus meiner Fingerspitze. Ich schiebe ihn instinktiv in den Mund, und weil ich neugierig bin, wo ich mir den Splitter eingefangen habe, schließe ich die Tür ein wenig.
Jemand hat vergessen, sie abzuhängen. Das ist mein erster Gedanke, als ich all die Zeichnungen sehe, die hinten an die Tür gepinnt sind.
Es müssen Dutzende Papierbogen sein, mit Reißzwecken befestigt oder mit Klebeband, und alle voll mit Buntstiftmalereien – Blau, Grün, Purpur, Gelb. Auf einem Bogen ist eine wacklige rote Spirale – eine Schnecke? Oder es war einfach nur eine lustige Form, wenn man kleine Finger und einen bunten Stift hat. Auf einem anderen ein Regenbogen-Fleck. Wer das auch immer gemalt hat, kann noch keine Strichmännchen – und es gibt keine Bäume oder Blumen oder Tiere. Aber irgendwer hat sich trotzdem die Mühe gemacht, sie alle zu sammeln. Genau wie ich mit Sophies ersten Malversuchen.
Ein weiteres Bild fängt meinen Blick ein, und ich gehe näher heran, um mir die großen Schneidezähne und die Cartoon-Augen anzusehen – ein Häschen, zum Ausmalen, von einem Erwachsenen mit geübter Hand mit Bleistift gezeichnet. Buntes Gekritzel zieht sich über die klaren Linien. Die Künstlerin hat ihre Initialen in die Ecke geschrieben – SH für Sophie Harlow, wie sie es immer getan hat –, aber ich habe ihren lockeren, selbstsicheren Stil längst erkannt.
Beinahe hätte ich sie übersehen. Es wäre einfach gewesen, so, wie die Tür offen stand. Man konnte sicher vergessen, dass die Bilder da hingen, wenn man den Raum ausräumte. Vielleicht ein wenig gehetzt, warum auch immer. Man konnte vergessen, auch hinter die Tür zu sehen, die flach an der Wand stand. Man konnte einfach daran vorbei hinausgehen, wenn einem andere Dinge im Kopf herumgingen.
Wie er es tat. Er hat sie vergessen. Er hat vergessen, sie mitzunehmen.
Nun knie ich auf dem Boden. Meine Beine waren zu schwach, registriert ein Teil meines Hirns, während ich beide Hände Richtung Tür ausstrecke. Das ist es. Sophie. Ich weiß es. Hier ist sie.
Mein wunderschönes Mädchen. Und ihr Baby.