41. Kapitel
Sophie
W as ich in den Abschiedsbrief schrieb, war keine Lüge. Ausreißen. Weglaufen. Ich mag das nicht. Es klingt feige, als könnte ich mich nicht den Konsequenzen stellen. Ich glaubte, etwas Mutiges zu tun. Aber wem mache ich was vor?
Ich brachte Holly dazu, den Schwangerschaftstest mit mir gemeinsam zu machen. Im letzten Moment brachte mich irgendein Instinkt dazu, allein ins Badezimmer zu gehen. Ich weiß wirklich nicht, wieso. Sie lief ohne Oberteil herum, ließ die Tür zum Plaudern offen, wenn sie aufs Klo ging, aber ich war anders. Und er hatte mich immer gewarnt, dass wir vorsichtig sein sollten, dass es unser Geheimnis bleiben musste.
Also glaubte sie mir. Irgendwie gelang es mir, mit einem Lächeln auf dem Gesicht herauszukommen.
»Negativ«, stellte ich fest, dann nahm ich einen tiefen Atemzug. Ich wickelte den Test in Toilettenpapier und steckte ihn heimlich in meine Tasche. Ich konnte ihn nicht im Haus lassen.
Noch immer weiß ich nicht, wie mir die Packung entgehen konnte. Ich war wohl zu aufgeregt. Holly nahm die Schuld auf sich. Sie war eine gute Freundin. Jetzt wünsche ich mir, ich könnte mit ihr reden. Aber ich spürte, dass er wissen würde, was zu tun war. Er war immer so fähig in allem.
Ich weiß noch, wie ich es ihm erzählte. Mum und Dad sagte ich, dass ich mit dem Hund spazieren gehen wollte, dann verschwand ich zum Ende der Straße. Sie glaubten mir alles. Ich lief zu seinem Wagen, der Regen strömte herab, ich schob King auf den Rücksitz und stieg vorne ein, während mein Herz wie wild schlug.
Danach war er so ruhig.
»Weil sie nicht ganz sicher sind«, erklärte ich. »Sie können reißen, habe ich gelesen, ohne dass man es merkt …«
Meine Stimme versagte. Natürlich wusste er das. Aber ich musste diese Stille füllen.
»Ich weiß. Keine Sorge, es ist alles gut.«
Ich war so erleichtert. Er schien nicht mal sonderlich überrascht zu sein.
Und ich sagte ihm, dass ich es behalten wollte. Ich sprach das Wort – Abtreibung – nicht aus. Es konnte den Gedanken realer machen, ihn als einzigen Weg erscheinen lassen.
»Bald werde ich sechzehn«, wiederholte ich immer wieder, während er nach vorne starrte. »Es ist okay. Wir werden klarkommen.«
Wir verbrachten so viel Zeit in dem Auto. Es gab sonst nicht viele sichere Plätze für uns.
Als er sich mir zuwandte, blieb sein Gesicht im Schatten. »Nein.« Er schüttelte den Kopf. »Du verstehst das nicht. Du warst da fünfzehn. Und das wird man herausfinden.«
Für einen Moment war es seltsam – als würde ich ihn gar nicht richtig kennen. Er wirkte so weit weg. Ich konnte nicht sagen, was er dachte.
Dann streckte ich den Arm aus, berührte ihn sanft an der Schulter. »Lass uns verschwinden«, schlug ich vor. »So wie wir es uns vorgestellt haben.«
Es war, als sei damit der Zauber gebannt.
»Das würdest du für mich tun?«, kam seine Stimme aus der Finsternis.
Ich wünschte, ich könne sein Gesicht sehen.
»Ja.« Es gab keine Zweifel. »Für dich.«
Ich wollte ihn nicht verlieren.
»Lass mich nachdenken«, bat er mich, aber er klang dabei zufrieden, schon spekulierend. Er beugte sich vor, um mich zu küssen, doch seine Augen blieben im Schatten. Dunkel mit Gefühlen, dachte ich. Es war so romantisch, wie wichtig ich ihm war. Die Sachen, die er sagte, so liebevoll und überraschend. Ich kann nicht ohne dich sein. Ich tue, was nötig ist. Ich lasse dich nicht gehen.
Und heute? Heute weiß ich es besser – er erinnert mich an etwas anderes. Seit ich es einmal gedacht hatte, bekam ich es nicht mehr aus meinem Kopf. Es war eine Naturdoku, die ich auf Granpas Fernseher geschaut hatte, als ich noch klein war, weshalb ich mich erschreckt hatte, als der große Fisch an der Kamera vorbeizog. Daran erinnert er mich, so seltsam das auch klingt. Er hat die Augen eines Hais. Lebendig und gleichzeitig doch tot.
Mich überfiel die Panik. Mein Bauch war noch flach, aber irgendwie auch hart dabei. Wenn ich allein im Bett lag, drückte ich meine Hand dagegen, spürte, wie fest er war. Schließlich erschien mir sein Vorschlag … nicht nur wie die beste Möglichkeit, sondern wie die einzige. Es wäre viel weniger aufwühlend, wenn sie nur nach mir suchten, erklärte er mir. Dann konnten wir alles zu unserer Zeit erklären – wenn wir bereit dazu waren.
»Wir müssen in ein Krankenhaus«, sagte ich oft.
Wir könnten das Land verlassen, schlug er vor, als wir unsere Pläne schmiedeten – alles wird gut. »Mach dir darüber keine Gedanken. Ich habe alles unter Kontrolle. Vertraust du mir nicht?«
Nie wusste ich genau, was ich darauf antworten sollte. Also versuchte ich, mir keine Sorgen zu machen, als ich erst mal hier drinnen war. Ich aß all das Grünzeug, das er mir brachte. Ich las die Bücher, die er mir gab. Mein Bauch fühlte sich an wie ein Fremdkörper, riesig und geschwollen und mit blauen Adern. Selbst da noch konnte ich es nicht ganz annehmen. Es war wie ein Traum.
Als es begann, an diesem kühlen Herbstabend, als die Schmerzen wirklich schlimm wurden, war er da. Damals sah er noch dauernd nach mir. Er leitete mich durch das Atmen und den ganzen Rest.
»Wir müssen los«, flehte ich, auch wenn ich wusste, dass ich ruhig bleiben musste. »Bald.«
»Noch nicht.«
»Bald.«
Irgendwann, als aus dem Tag Nacht wurde, verstand ich – ich würde nirgendwo hingehen, nicht jetzt. Ich glaube, das habe ich ausgesprochen. Da war alles schon so verschwommen. Vielleicht ahnte ein Teil von mir das bereits immer, derjenige, den ich tief vergraben hatte.
»Mach weiter so«, wiederholte er wieder und wieder. Ich wollte seine Hand nicht halten.
Es war gut. Ich stand es durch. Er verabreichte mir etwas gegen die Schmerzen. Weit weg hörte ich jemanden flüstern und verstand, dass ich es selbst war. Dann habe ich wohl geschlafen.
Irgendwann wachte ich auf. Es war wieder hell. Er war nicht da. Das Baby schlief in einer Wiege neben der Matratze. Vorsichtig auf einen Arm gestützt, betrachtete ich es, die kleinen Fäuste, die winzigen Wimpern. Ich streichelte es mit einem Finger. Seine Haut war so unglaublich weich. Langsam und sanft nahm ich ihn auf den Arm.
Er sagte mir, ich könne mir den Namen aussuchen. Allerdings wusste ich, dass er keine Familiennamen mochte: Mark wie mein Dad, oder Harlow. Aber mit einem Mal wusste ich es einfach: diese Knopfaugen, und so kuschlig: Teddy.
»Weißt du, das ist das Gute daran, so jung ein Baby zu haben«, erklärte er mir, als er wiederkam, »du wirst dich schnell erholen.«
Ich antwortete nicht. Es fühlte sich alles so … anders an. Er hatte gesagt, wir würden ins Krankenhaus fahren. Das hatte er versprochen.
Du hast gelogen, musste ich immer wieder denken, wenn ich ihn ansah – du hast mich angelogen  –, die große Gestalt am Fußende der Matratze, wie er die Handtücher und den Rest aufräumte. Wer bist du? Mit wem habe ich es zu tun?
Dann sah ich runter. Kleine Seestern-Hände, dunkle Augen. Auch wenn ich wusste, dass das Baby noch nicht wirklich etwas erkennen konnte, war es, als ob es mich anstarrte. Also drückte ich ihn an mich und sog seinen Säuglingsduft ein. Und da empfand ich es zum ersten Mal. Ganz still, nichts, was man von außen bemerken konnte. Ich wusste, dass er es nicht konnte. Aber meine ganze Welt verschob sich. Du kommst jetzt zuerst, kleiner Teddy.
Mit einem Mal war es vorbei, das spürte ich. Eine Welle purer Angst. So stark, dass es mir den Atem verschlug. Später verstand ich nicht, was über mich gekommen war, nach allem, was ich überstanden hatte, aber jetzt weiß ich es.
Ein Teil von mir verstand, was ich mir damals nicht ganz eingestehen konnte: was ich jetzt alles zu verlieren hatte.
Es gab nur einen Moment, in dem ich es vergaß, nur eine Sekunde lang. Dieser Morgen, nachdem er mich gewürgt hatte, als ich zur Tür sprang, schon beinahe draußen war – und dann diesen kleinen Schrei aus der Ecke hörte. Das war der Moment, als ich erstarrte, betäubt davon, dass ich ihn vergessen konnte. Teddy …
Dann war sein ganzes Gewicht auf mir, und ich hatte meine Chance vertan. Aber in Wirklichkeit hatte ich nie eine gehabt. Ohne das Baby konnte ich nicht gehen. Und jetzt kann ich nichts tun, was ihn gefährden könnte.
Ich war nicht die Einzige, die sich nach dem Baby veränderte. Selbst als er dafür sorgte, dass ich die Wiege in die Ecke stellte, weg von der Matratze, konnten wir Teddy weinen hören, wenn er Hunger hatte, also hörte er damit auf, hier zu übernachten, und kam seltener. Am Tag schlief ich viel, wie Teddy. Es ärgerte ihn, wenn er mich schlafend vorfand.
Aber es war noch mehr. Einmal hatte ich gerade das Baby gefüttert. Er war gereizt, weil ich nicht aufgestanden war, um ihn zu begrüßen.
»Musst du ihn die ganze Zeit im Arm halten?«, fragte er schroff. »Du verziehst ihn.«
»Ich verziehe ihn? Aber er ist doch nur ein kleines Baby«, erwiderte ich und kuschelte Teddy an mich.
Dieser Blick, den er mir zuwarf – so kalkulierend, als habe er gerade etwas verstanden.
Also spielte ich das herunter, was ich immer noch mache, wenn er da ist – wie sehr ich das Baby liebe, seine lachenden braunen Augen kleine Halbmonde über den properen Wangen. Jetzt, da er größer ist, kommt er schwankend zu mir herübergekrochen, legt seine pummeligen kleinen Arme um meinen Hals und gibt mir ungeschickt Küsschen. Wenn er da ist, muss ich das ignorieren. Weil er uns beobachtet.
Eigentlich ist es lächerlich. Man könnte fast lachen. Aber das mache ich nicht.
Wenn ich darüber nachdenke, fällt es mir schwer, nicht in Panik zu verfallen. Vor allem, wenn er unsere Abläufe ändert.
Es geschah diesen Winter, mein zweiter hier. Teddy und ich wachten auf, sahen Eis innen am Fenster und wussten, die Dunkelheit würde früh kommen. Teddy war so bleich. Ich tat mein Bestes, sorgte dafür, dass er im Lichtschein des Fensters spielte, aber es reichte nicht. Auch wenn er jetzt älter war als ein Jahr, wusste ich nicht, ob er so groß war, wie er sein sollte.
Also versuchte ich, das Thema so sanft wie möglich aufzubringen.
Ich mache mir Sorgen, erklärte ich ihm. Es ist nicht gesund, wenn ein kleiner Junge immer nur drinnen ist. Dein Junge. Dein Sohn.
Draußen hatte es immer gewirkt, als wollte er ihn unbedingt, aber hier drin beschäftigte er sich nie mit ihm. Vielleicht lag es daran, dass er mit Babys nichts anfangen konnte, dachte ich. Oder dass es nur ein Weg gewesen war, mich hierherzubekommen, ging mir später durch den Kopf.
Danach war er so vorsichtig, damit es nicht noch einmal passieren konnte.
Aber danach fing er an, Teddy mehr Aufmerksamkeit zu schenken, wenn er plapperte und krabbelte.
Eines Abends sagte er: »Ich habe über Teddy nachgedacht.«
Ich lag mit dem Rücken zu ihm an der Kante der Matratze. Ich glaube, es war eines der letzten Male, dass wir miteinander geschlafen hatten. Es tut mir nicht leid. Ich hatte schon mal überlegt: Vielleicht werde ich ihm zu alt. Aber das schiebe ich noch von mir weg. Bis ich hier raus bin.
»Oh?«
Er lehnte sich zu mir und legte mir einen schweren Arm auf die Hüfte. »Er ist jetzt ein großer Junge und wird immer größer.«
»Ja«, stimmte ich zu. »Du hast so recht. Er wächst und braucht frische Luft und Sonnenschein …«
»Deshalb«, unterbrach er mich, »werde ich ihn mitnehmen, wenn ich gehe.«
Mein Körper wurde ganz steif.
»Du … du willst ihn mitnehmen?«
»Ist es nicht das, was du wolltest?« Er sprach es so gelassen aus. »Frische Luft, eine Pause für dich.«
Und er tat es tatsächlich, während ich mit rasendem Puls unter der Decke kauerte. Er weckte Teddy, den schläfrigen, verwirrten Teddy, und nahm ihn mit nach draußen, mitten in der Nacht. Lange waren sie nicht fort, dieses Mal, während ich durch den Raum tigerte, bis sie mit einem kalten Windzug zurückkamen. Teddys Wangen waren kühl.
Er erzählte mir nicht viel darüber, was sie gemacht hatten: »Wir waren draußen. Er mag wohl Pflanzen.«
Natürlich konnte Teddy nichts berichten, auch wenn es ihm gut zu gehen schien. Nach einer Weile genoss er die Ausflüge wohl sogar.
So hatten wir den Anruf organisiert. Er nahm Teddy mit raus, gab ihm ein Stück Schokolade, um ihn ruhig zu halten. Nach ein paar Minuten kam er ohne wieder. Meine Angst las er sofort.
»Keine Sorge, du bekommst ihn zurück.«
Die Worte hingen unausgesprochen zwischen uns: Solange du genau das tust, was ich dir sage.
Aber ich kann nicht länger über die Vergangenheit grübeln. Trotz der Hitze ahne ich, dass sich der Sommer seinem Ende nähert: Es wird früher dunkel, die Schatten auf dem Boden werden immer länger. Ich glaube nicht, dass ich hier noch einen Winter ertragen kann, aber als er mir sagte, dass ich das nicht müsse, fühlte ich nichts außer Angst.
»Wir verschwinden bald von hier.« Er hatte mir den Rücken zugedreht, sodass ich sein Gesicht nicht sehen konnte. »Und?«, fragte er, als er sich mir zuwandte. »Freut dich das nicht? Ist es nicht das, was du immer wolltest?«
»Natürlich.« Ich stehe auf, zwinge Begeisterung in meine Stimme. »Das ist wunderbar. Wohin denn?«
Er schüttelte den Kopf, wobei er sich den Raum genau ansah.
»Du wirst es lieben.«
Da ist so eine neue Aura um ihn herum – fast schon Vorfreude. Er ist fröhlich, beinahe heiter.
Jetzt hat er mich allein gelassen, damit ich meine Sachen zusammenpacken kann. Es gibt nicht viel, nur ein paar Kleidungsstücke und Hygieneartikel. Ich brauche nur ein wenig Zeit, um innezuhalten und mich darauf zu konzentrieren, was ich tun muss, aber es ist alles so gehetzt.
Das ist gut für mich, endlich. Oder es ist sehr schlecht.
Aber ich rede mir ein, dass es positiv ist, dass wir gehen. Ich war so brav, oder zumindest denkt er das wohl. Ich muss nur weiter warten und aufpassen, bis meine Chance kommt.
Aber dann kommen die Gedanken zurück.
Er hat genug von dir. Er könnte dich loswerden wollen.
Die Härchen auf meinen Armen stellen sich auf.
Nein, sei nicht albern, du stehst auch das durch.
So wie ich bislang alles andere überstanden habe.
Dennoch kann ich meine Gedanken nicht aufhalten, frage mich, was das alles bedeutet. Wie er Teddy von mir fernhält, das Baby an sich gewöhnt. Mir das letzte bisschen Kontakt mit meiner Familie nimmt, mich dazu bringt, ihn zu beenden. Dieses Verwischen von Spuren. Diese plötzliche Eile, hier alles leer zu räumen.
Ich wüsste nicht, was es sonst bedeuten könnte.
Dass er etwas tun wird. Dass mich niemand jemals finden wird.
Dass dies das Ende für mich sein wird.