Teil 3
42. Kapitel
Kate
H
ier war sie. Hier waren sie beide. Und ich bin zu spät.
Ich habe sie verloren. Ich habe versagt. Und jetzt habe ich sie wieder verloren, für immer.
Die Gedanken kreisen ohne Unterlass durch mein Hirn, während ich wieder runtergehe. Es regnet jetzt richtig, die Tropfen prallen mit der geballten Energie eines Sommergewitters auf den Boden. Ich bleibe in der Eingangshalle, geschützt. Noch immer habe ich das Bild in der Hand, Sophies Zeichnung, die Ausmalversuche des Kinds. Mein Gesicht ist taub. Trüb frage ich mich, ob ich mich im Schock befinde. Aber ich muss weiter. Ich ziehe mein Handy hervor, um anzurufen. Wen? Dad. Nein. Charlotte. Nein, die Polizei. Ich muss … Beweise. Ich hätte nichts anfassen sollen. Aber dann sehe ich, dass ich eine SMS bekommen habe.
Hallo! Haben Sie es? Sagen Sie mir, was Sie denken. Was für ein Fund! Vicky x
Nach einem Moment fällt es mir ein: Vicky, die Schwester des Bibliothekars. Wovon redet sie? Wie auf Autopilot öffne ich meine E-Mails und scrolle runter; nichts zu sehen. Also schaue ich in den Ordner für Spam, warte, bis er lädt – und da ist sie, ihre E-Mail von gestern Abend.
Hey Kate,
das raten Sie nie! Nach unserem Gespräch dachte ich mir: Vielleicht habe ich es noch. Also bin ich zu meiner Mum, und raten Sie! Ich habe es gefunden! Es war wegen der Jubiläumsfeier, wir mussten alle raus auf den Sportplatz. Letzte Reihe – neben Nancy. Ich sagte doch, er war ein echter Kerl. Vx
Jay. Es fühlt sich an wie eine Ewigkeit: Sie wollte irgendwie seinen Nachnamen herausfinden. Ich bin wie ein Schwimmer, der vom Boden des Beckens auftaucht – zurück in die Wirklichkeit. Aber ein Teil von mir ist immer noch da oben in dem Raum. Er war so klein. Nur dieses winzige Dachfenster.
Ich klicke auf den Anhang. Mein Telefon friert ein, der rotierende Kreis sagt mir, dass es langsam lädt: verschwommene schwarze und weiße Schemen. Vicky hat das Bild wohl mit ihrem Handy abfotografiert – es lädt auf die Seite gekippt, scheint mir – Reihen deuten … was an? Ich drehe mein Telefon hin und her, bis es Sinn ergibt.
Ja, so herum ist es richtig, jetzt erscheinen auch Details. Teil eines Schulfotos. Sie hat sich nicht die Mühe gemacht, alles aufs Bild zu bekommen, nur einen Teil der Schülerschaft; vielleicht drei Dutzend kleine Figuren, aufgestellt in vier Reihen, dahinter grüne Wiese.
Die Gesichter sind winzig, kaum mehr als Flecken über dem Blau der Uniformen. Ich ziehe am Bild, um auf die hinterste Reihe zu zoomen, aber es wird zu groß – lediglich ein Gesicht füllt den Bildschirm aus.
Nancy. Lächelnd, die Schultern nach hinten geschoben.
Ich frage mich, ob es der gleiche Tag ist, an dem sie das Porträt aufgenommen haben, das in der Zeitung gelandet ist, denn ihr Haar ist genauso zusammengebunden. Ich sehe es mir genau an, suche nach Hinweisen, Spuren von dem, was mit ihr geschehen ist, aber natürlich gibt es kein Zeichen – nichts, was schreit: »Das ist das Mädchen!« Sie ist ein hübsches Mädchen, nicht mehr, nicht weniger, und so jung …
Vorsichtig ziehe ich das Bild nach rechts, nur eine Stelle, und warte, bis mein Telefon den Jungen präsentiert.
Ein Mopp dunklen Haars, helle Haut, schläfrige Augen. Er sieht jünger aus, als ich erwartet habe.
Vermutlich habe ich ihn mir immer etwas älter als mich selbst vorgestellt, ebenso gealtert. Aber damals war er natürlich ein Teenager, gerade mal sechzehn.
Da ist er. Jay.
Nein, das kann nicht sein.
Ich scrolle runter zu der Stelle, wo die Namen aufgelistet sind. Es ist fast unmöglich, sie zu lesen, sie sind nicht scharf, und das glänzende Fotopapier hat die Kamera geblendet, ein heller Streifen direkt über den Buchstaben. Ich lese quer, um den richtigen Namen zu finden … Billingsley, E – ich kneife die Augen zusammen –, Elisabeth. Curran, Helena. Mein Blick wandert weiter: Kerrigan, Nancy, da ist sie. Und neben ihr, Nicholls … ich vergrößere noch mehr, versuche, die verschwommenen Buchstaben zu lesen. Nicholls, Benjamin.
Da ist er, rechts neben Nancy, am Ende der Reihe. Benjamin Nicholls.
Ich denke: Sie vertut sich. Vicky hat sich vertan. Das ist nicht Jay.
Dann: Es ist lange her, kein Wunder, dass sie da was verwechselt hat, nach all den Jahren. Und ich weiß ja schon, dass Nicholls hier aufgewachsen ist, nicht wahr? DI Ben Nicholls, Ehemaliger, der immer noch zur Schule kommt, wie mir Maureen, die Sekretärin, so stolz mitgeteilt hat.
Gleichzeitig rechnet ein anderer Teil meines Hirns alles aus. Jay war damals wie alt? Sechzehn? Sechsundzwanzig Jahre später, dann wäre er … Anfang vierzig? Wie ich. Wie Nicholls. Also konnte es durchaus sein, dass sie im selben Jahrgang waren. Vielleicht sogar befreundet.
Wieder scrolle ich hoch, meine verschwitzten Finger hinterlassen Spuren auf dem Glas. Ich ziehe am Bild, bis sein Gesicht alles ausfüllt, grobkörnig bei der Vergrößerung.
Kinn gereckt, selbstbewusst, starrt er mich durch die Jahrzehnte an. Jetzt kann ich die Ähnlichkeit mit dem Mann, den ich kenne, deutlich sehen. Dieses dichte Haar, alle Jungs hatten damals diese Frisur. Jetzt hat er einen professionellen Kurzhaarschnitt. Er ist älter geworden – sein Gesicht ist natürlich von mehr Falten durchzogen. Wie lange ist das noch mal her, über fünfundzwanzig Jahre? Das macht die Zeit mit einem.
Und dann endlich fallen meine Gedanken zusammen, ergeben eine Art Sinn.
Jetzt gibt es überhaupt keinen Zweifel mehr.
DI Nicholls. Benjamin Nicholls. Benji.
Jay.
Okay, keine Panik. Denk nach.
Das ist unmöglich. Nicht ausgerechnet ein Polizist.
Jemand, der von einer alten Tragödie betroffen war, könnte sicher entscheiden, neu anzufangen, einen alten Namen abzulegen. Und es gab keinen Grund für ihn, mir von seiner Vergangenheit zu berichten, von einem vermissten Mädchen vor fast dreißig Jahren.
Aber jetzt gehen mir unzusammenhängende Bilder durch den Kopf. Maureen, in der Schule: »Er hält Vorträge für die Schüler … er ist besonders bei den Mädchen sehr beliebt.«
Nicholls, bei unseren ersten Treffen: »Ich bin auf dem Laufenden, was den Fall angeht, ich habe die Akte schon gelesen.«
Und doch, gleich von Anfang an, irgendwie … seltsam. Unzufrieden damit, dass ich zu involviert bin.
Und dann, wie er mir von den seltsamen Anrufen erzählte, aus der Umgebung meines Hauses, die mich verrückt wirken ließen. Weiß sonst jemand von ihnen? Gab es die wirklich?
Sagen wir mal, er hat Sophie an der Schule gesehen. Hat das, Nancys Ebenbild zu entdecken, etwas in ihm losgetreten, eine alte Obsession angefeuert? Er sah eine Gelegenheit … um was zu tun? Die Vergangenheit zu wiederholen?
Und dazu der Anruf, als ich ihm berichtete, was Holly mir über den Schwangerschaftstest gesagt hatte, wie er mich warnte: »Aber ich würde Sie bitten, keine Ermittlungen auf eigene Faust anzustellen. Das ist selten … hilfreich.«
Es war eine deutliche Warnung.
Und ich habe ihn hier getroffen.
Der dunkle Schemen vor dem Sonnenlicht, als ich ihn hier sah, direkt hier, am Haus.
»Dennoch würde ich Ihnen raten, nicht auf eigene Faust nach Eindringlingen zu suchen.«
Meine Verwunderung darüber, seinen Wagen nicht gesehen zu haben.
»Man kann da hinten am Weg parken.« Er weist an Parklands vorbei. »Es gibt einen kleinen Pfad, der bis zur Straße führt.«
Mein Magen rebelliert. Losgelöst von allem frage ich mich, ob ich mich wohl übergeben muss. Mein Fokus lag so darauf, hier entdeckt worden zu sein. Er hat behauptet, das Haus überprüft zu haben. Hat er? Oder war er das die Nacht zuvor in meinem Garten, wie er nach mir sah? Neugierig vielleicht. Bevor er zurückging – zurück zu Parklands. Zurück zu Sophie. Ein Polizist hatte keine Probleme zu erklären, was er bei einem leeren Haus machte. Und er wüsste, wie man hineinkommt.
Ich bin so in meinen Gedanken verloren, dass ich wie angewurzelt dort stehe. Deshalb höre ich wohl nicht das Geräusch, so leise, einfach nur sanfte Schritte auf der Veranda. Das Licht verändert sich, der bleiche Schein in die Halle wird dunkler, während ich auf das Display in meiner Hand starre.
Ich blicke auf.
Der Schemen in der Tür blockiert das Licht.