43. Kapitel
M
ein Geist wird ganz leer. Ich trete einen Schritt zurück, sehe mich nach Fluchtwegen um.
Und dann passen sich meine Augen der Dunkelheit an, und ich erkenne: Es ist nur Dr. Heath – Nick –, der sich neugierig umsieht.
»Oh, Gott sei Dank! Ich dachte …«
Meine Knie sind schwach, wie Wasser.
Er wirkt beschämt, hat die kleine Notiz, die ich an meiner Haustür gelassen habe, in der Hand.
»Oh, es tut mir leid, falls ich störe. Ich hatte deinen Zettel am Haus gesehen – wir können einen anderen Termin ausmachen, wenn es gerade schlecht ist …«
Unpassenderweise verspüre ich den Drang zu lachen, ein Reflex der Erleichterung nach dem Schrecken.
»Die Nachricht ist für meine Schwester.« Ich wollte nur nicht, dass sie sich noch mehr Sorgen machte, wenn ich nicht sofort ans Telefon ging. »Ich habe ganz vergessen, dass du auch vorbeikommen wolltest. Aber jetzt geht es.«
Ich atme tief ein. »Du musst mir helfen. Sie war hier, genau in diesem Haus, auf dem Dachboden, die ganze Zeit. Ich weiß das, ich habe Bilder gesehen, die sie gemalt hat. Verstehst du? Das ist der Ort, wo sie war, die ganze Zeit. Wo er sie eingesperrt hat.«
Seine Miene ist argwöhnisch, als erwarte er, dass ich jeden Moment zusammenbreche.
»Okay, langsam. Wer hat wen hier eingesperrt?«
»Es ist Jay. Nancys Freund, der Freund des Mädchens, das hier gelebt hat, DI Nicholls – es ist ein und dieselbe Person. Er ist mit dem Fall betraut. Ich habe es gesehen. Ich habe ein Foto! Verstehst du?«
Er wirkt verunsichert. »Kate, ich bin nur vorbeigekommen, um nach dir zu sehen, und finde dich hier vor, in diesem heruntergekommenen Haus. Das ist Hausfriedensbruch!
«
Als ob das so schlimm wäre. Ich packe seinen Arm.
»Ich weiß, wie das aussieht, aber du musst mir glauben. Sie war genau hier, meine Tochter, Sophie …«
»Sophie
war hier?« Er sieht an mir vorbei, als könne er sie hinter mir entdecken. »Wie meinst du das … hast du die Polizei angerufen?«
»Nein, ich … ich kann nicht. Da ist etwas sehr Seltsames im Gange, und ich glaube, es liegt an ihm. Der Polizist, er steckt hinter alldem.« Ich halte ihm mein Telefon vor die Nase. »Schau, das ist er, da bin ich sicher, sieht genauso …«
Er sieht auf das Display, dann wandert sein Blick zu mir, seine Stirn ist in Falten gelegt, als versuche er, ein Puzzle zusammenzufügen. »Und das ist dieser Detective, der nach deiner Tochter sucht?«
»Ja, der da.«
»Aber der war gerade erst hier.«
»Was?«
»Ich habe ihn gesehen, gerade als ich zu dir abgebogen bin. Er fuhr von hier weg, in seinem Wagen. Vor ein paar Minuten.«
Wir nehmen das Auto von Dr. Heath. Er hatte mich zugeparkt.
»Das geht schneller«, hatte er festgestellt. Er wirkt wie benebelt, behandelt das wie einen ganz normalen Teil seines Arbeitsalltags, aber er nimmt mich ernst, begleitet mich. Eine große Wahl habe ich ihm nicht gelassen, als ich ihn halb hinter mir her über die Schwelle zog, fort von Parklands.
»Bitte, wenn ich falschliege, liege ich falsch, aber wenn ich recht habe … bitte vertrau mir einfach erst mal. Ich erkläre später alles, aber bitte …«
Es war sinnlos, es weiter zu versuchen, also ließ ich ihn los, wollte an ihm vorbei …
»Na gut, dann gehe ich allein.«
»Nein, es ist okay. Ich helfe dir. Nur … nur langsam.«
Jetzt fährt er vorsichtig aus der Einfahrt, sieht in beide Richtungen. Ich will schreien: Gib Gas, gib Gas, mein rechtes Knie zuckt vor Anspannung.
»Er ist also sicher hier langgefahren?«, frage ich erneut.
Er biegt nach links ab.
»Ja, die Richtung, zum Park.«
»Vielleicht wollte er dorthin? Es gibt viele Orte im Wildpark, der ist so groß …«
Was hat Lily noch mal gesagt? Dass die jungen Leute in den Park gingen.
»Es ist eine gerade Straße«, stellt er fest. »Keine Abzweigungen, also werden wir ihn irgendwo parken sehen, wenn er da ist. Oder er fährt zurück, dann sehen wir ihn auch. Halte die Augen offen.«
Er klingt so ruhig, beruhigend. Aber mein Geist galoppiert. Die Haustür war offen, als ich ankam. Bedeutet das, er kam von dort? Hat sie mitgenommen, vielleicht in Eile, und deshalb vergessen abzuschließen? Sollte ich einfach die 999 anrufen und ihnen erklären, dass ihr Detective in meinem Fall alles vertuscht hat?
»Wenn ich bei der Polizei anrufe, kann Nicholls das über Funk mitbekommen?« Ich habe keine Ahnung, wie das alles funktioniert. Meine Stimme wird zu einem Schluchzen: »Ich weiß nicht, was ich tun soll.«
»Sag mir, was du weißt.«
Seine Ruhe erfasst auch mich. Jetzt versuche ich, es ihm zu erklären, so schnell ich kann. Es ist eine Erleichterung, die Last meines Wissens weiterzugeben, was mich in dieses leere Dachgeschoss geführt hat, wo ich die Zeichnungen hinter der Tür fand.
»Und alles ist irgendwie verbunden, dieser Jay, ich meine Nicholls, ich glaube, er hat irgendwas mit Nancy gemacht und dann Sophie versteckt, sie irgendwie dazu gebracht, das zu tun, was er wollte. Er ist hier aufgewachsen, das hängt alles zusammen.«
Ich sehe starr nach vorne, will nicht den Ausdruck des Unglaubens bemerken.
»Glaubst du mir?«
Jetzt sehe ich ihn an. Seine Miene ist grimmig.
»Ja. Ja, das tue ich. Ich sollte nicht, aber ich tue es. Zumindest … stimmt irgendwas an der ganzen Sache nicht.«
Ich lehne mich im Sitz zurück.
»Die Polizei, ich weiß nicht, ich habe keine Ahnung, wie er da so eingebunden wurde in die Ermittlungen, aber er ist überall. Ich kann kaum erwarten, dass sie endlich die Augen öffnen. Wenn er sie fortgebracht hat – das kann nicht weit weg sein …« Und wenn er was anderes getan hat? Wenn ich ihm genug Angst eingejagt habe, dass er was Dummes gemacht hat – nein, nicht daran denken. »Wenn wir ihn einholen – falls er im Park ist –, werden wir schon sehen, was er vorhat.«
»Ja«, antwortet er. »Ich glaube, das ist klug. Wir sehen, wohin er gefahren ist, erst mal, um sicherzugehen. Dann rufen wir die Polizei an.«
Ich bin so erleichtert, dass mich endlich jemand ernst nimmt – keine Ausrufe, keine ungläubigen Fragen, nur Akzeptanz.
Einen Moment lang sacke ich erschöpft in mich zusammen; ich bin leer. Wir schweigen. Der Regen prasselt nun noch härter gegen die Windschutzscheibe. Fast ist es gemütlich in dem Wagen, und die Normalität des Augenblicks trifft mich. Wir könnten auch ein Paar auf dem Weg zum Supermarkt sein, wäre da nicht die Geschwindigkeit, mit der er fährt; die Hecken kratzen über die Flanke des Autos. Er ist sehr konzentriert, während wir die sich schlängelnde Landstraße entlangrasen. In meiner Tasche summt es – ich ziehe mein Telefon hervor und schaue drauf: eine Sprachnachricht. Wie automatisch klicke ich sie an und halte es an mein Ohr, der Ellbogen gegen das Fenster gestützt,
»Hallo«, kommt die freundliche Stimme einer Frau. »Hier spricht Valerie von der Praxis in Amberton. Wegen Ihrer Anfrage wegen der Rezepte für Mrs Green.« Lily. Papiere werden bewegt. »Alle ihre Akten sehen gut aus« – also nichts Dringendes, und ich will schon auflegen –, »aber können Sie uns bitte zurückrufen, wenn Sie Zeit haben? Dr. Heath sollte nicht ihr behandelnder Arzt sein, weil er ja verwandt ist – oh« – ein kleines Lachen –, »das war für mich bestimmt, nicht für Sie, Entschuldigung. Aber rufen Sie uns an. Tschüss!«
Ich hänge auf – und sehe, wie er mir einen Blick zuwirft.
»Mit wem hast du gesprochen? Ich dachte, du wolltest mit der Polizei abwarten?«
»Stimmt. War nur eine Sprachnachricht.«
Ich lege das Telefon in meinen Schoß. Also geht es ihr gut, und ihre Akten sind in Ordnung, nun ja, das würden sie immer sagen, auf jeden Fall liefert das natürlich keine Antworten. Typisch. Aber mit Dr. Heath verwandt? Inwiefern? Vielleicht ist sie seine Tante? Oder Cousine? Ärzte sind so vorsichtig, mit all diesen Verschwiegenheitsklauseln und Patientengeheimnissen und ihren Akten. Lass dich nicht ablenken.
»Also, wenn wir dort ankommen …«, fange ich an. »Wenn wir dort ankommen …«
Ich bringe den Gedanken nicht zu einem Abschluss.
Es gab keinen Grund, warum Lily wissen sollte, dass er mein Arzt ist. Aber er hätte es mir einfach sagen können, immerhin habe ich ihn direkt gefragt. Ich habe nach Lilys Tabletten gefragt, gesagt, dass ich mir Sorgen mache, und seine Antwort war, dass er sich darum kümmern würde.
Jetzt werfe ich ihm einen Blick zu, wie er sich auf die Straße konzentriert. Im Profil verliert sein Gesicht die offene Freundlichkeit.
Ich kenne ihn nicht wirklich. Der Gedanke kommt wie aus dem Nichts.
Aber es stimmt. All diese Sorgen um meine Familie, die beflissenen Fragen nach meinem Wohlergehen, meiner Gesundheit, haben ein Gefühl von Intimität geschaffen, wie eine gemeinsame Vergangenheit, seit wir hierhergezogen sind. Und doch. Er weiß sehr viel über mich. Ich hingegen weiß wenig über ihn, außer dass er nach einiger Zeit von woanders hierherkam. Aber wo war er davor?
Ich starre auf die nasse Straße vor uns.
Dr. Nick ist mit Lily verwandt. Dementsprechend ist er derjenige, der ihr die Tabletten gibt, die sie verwirren. Vergesslich machen. Unsicher darüber, was um sie herum vorgeht. In dem Haus, um das sie sich früher gekümmert hat.
Und Lily kannte Nancy. Sie war viel länger Hausmeisterin von Parklands, als ich zuerst dachte. Also kannte Dr. Heath Nancy auch? Er ist auch ungefähr in Jays – ich meine Nicholls’ – Alter.
Und dann ist da der ältere Mann, der Sophie von der Schule abholt. Jemand, dem sie vertraut. Dem wir vielleicht alle vertraut haben. Das dunkle Auto, in das sie eingestiegen ist. Die Motorhaube vor mir ist blau, dunkelblau, und wir werden langsamer, damit wir nicht die Einfahrt in den Wildpark verpassen – es ist eine scharfe Abzweigung auf den Parkplatz. Und ich denke, Dr. Heath muss wie alt sein? Anfang vierzig? Also auch etwa Nancys Alter.
Es ist einfach zu unglaublich.
Aber jetzt biegen wir auf den Parkplatz vor dem Eingang ab, der fast leer ist, nur ein Wagen am anderen Ende.
Mein Telefon liegt noch in meinem Schoß.
Ich halte den Kopf hoch erhoben, als würde ich nach vorne sehen, blicke aber hinab. Ich fange an, die Nummern einzutippen, ohne große Bewegung, heimlich. Als gäbe es einen Grund, warum ich niemanden anrufen dürfte. Du glaubst doch nicht an diesen lächerlichen Einfall …
»Wen rufst du an?«
Seine Stimme ist monoton.
»Ich will nur meiner Schwester sagen, wo ich hingefahren bin; sie wird nach mir suchen, weißt du, und du hast meine Nachricht an sie mitgenommen …«
»Gib mir das.«
»Nur einen Moment.«
»Ich sagte, gib mir das.«
Meine Finger zittern jetzt, ich treffe die Tasten nicht. Er ist es, er ist es …
Der Schlag schleudert meinen Kopf gegen das Seitenfenster, das Glas klatscht gegen meinen Schädel. Ich falle nach vorne gegen den Sicherheitsgurt, dunkle Flecken tanzen vor meinen Augen. Ich höre mich keuchen. Das Telefon rutscht mir aus den Händen, die jetzt schlaff herabhängen, meine Augen schließen sich, weshalb ich nur spüre und nicht sehe, wie er zwischen meinen Beinen danach sucht.
Viel zu schnell gleitet alles davon, und die Welt wird schwarz.