45. Kapitel
I hr Haar ist länger. Natürlich. Und sie ist so bleich unter all dem Schmutz. Sie hat keine Schuhe an, nur gräuliche Socken, ein zu großes T-Shirt unter dem Pullover, dazu eine Jogginghose. Sie ist auch größer geworden.
Meine Augen füllen sich mit Tränen. Sophie. Sie lebt. Wirklich. Wilde Freude erfüllt mich – dann Angst.
»Sophie …«
Ich gehe mit ausgestreckten Armen einen Schritt auf sie zu.
»Bleib stehen.«
Das Messer ist auf mich gerichtet, ich erstarre.
Über dem Klebeband sind ihre Augen voller Furcht, wie bei einem in der Falle sitzenden Tier. Auch ihre Hände sind mit dem Band gefesselt, ungelenk an den Handrücken aneinandergebunden.
»Deshalb wirst du die Tabletten schlucken«, sagt er ruhig und sachlich. »Weil ich ihr sonst wehtun werde.«
Jetzt verstehe ich endlich.
»Du musst das nicht tun. Du kannst weggehen. Du musst nicht. Ich werde niemandem was sagen. Lass uns einfach gehen und …«
Er gestikuliert ungeduldig.
»Lass das, Kate.« Er seufzt, als wäre ich ihm lästig. »Natürlich würdest du es erzählen. Sieh dir doch nur an, was du bis jetzt schon alles angestellt hast.«
»Ich wollte nur herausfinden, was geschehen ist«, erwidere ich mit gefasster Stimme.
»Wir wollten zusammen sein. Nicht wahr, Sophie?«
Sie nickt. Er hat sie gebrochen, erkenne ich, mein armes Mädchen.
»Aber du konntest sie einfach nicht gehen lassen. Und dennoch konntest du sie auch nicht finden, oder? Direkt nebenan, und du hast es nie bemerkt. Du hast ihr gegenüber versagt, bis jetzt«, wiederholt er meine eigenen Worte. »Das hast du mir gesagt. Aber jetzt hast du deine Chance: deine Chance, sie zu retten. Alles richtig zu machen, genau so, wie du wolltest.«
Sie zu retten  … ich halte inne. Und was kommt dann? Ein Halb-Leben mit ihm, verborgen irgendwo? Oder Schlimmeres?
Alles richtig zu machen . Ich bin nicht perfekt. Aber nichts davon war meine Schuld.
Mein Hass schlägt ihm entgegen, während ich ihn anstarre. Es war nicht meine Schuld. Sophie hat nicht mich verlassen, nicht für immer; sie hat nur einen Fehler gemacht. Sie sollte nach Hause zurückkommen. Ich bin keine schlechte Mutter.
Er war das. Er hat mir das angetan, es uns angetan. Meiner Tochter. Er hat unsere Leben auseinandergerissen.
»Deshalb also«, fährt er fort, »wirst du genau das tun, was ich dir sage. Nimm die Tabletten.«
»Das würdest du nicht tun.« Mein Mund ist so trocken vor Angst, dass mir die Zunge am Gaumen klebt. »Du willst ihr nicht wirklich wehtun. Nancy war ein Unfall.«
Nein, ich kann ihr nicht so nahekommen, um sie dann wieder zu verlieren. Er geht einen Schritt auf Sophie zu, hebt eine Hand.
»Du würdest nicht …«
»Nein, ich will das alles nicht. Nie will ich das. Aber sie war ein böses Mädchen, nicht wahr, Sophie? Eine Enttäuschung, ohne dass ich es bemerkt hätte. Und bis deine Mutter es mir erzählt hat, wusste ich nicht mal davon, all deine kleinen Tricks, um von mir wegzukommen.«
Über dem hässlichen silbernen Tape sind ihre Augen tränennass.
»Genau deshalb«, wendet er sich wieder an mich, »wirst du es tun. Dann können wir von vorne anfangen. Dann wird alles ganz anders, denke ich.«
»Jetzt!«
Er geht auf sie zu, hält das Messer an ihre Wange, nah am Auge, übt beinahe sanft Druck aus. Eine kleine rote Perle quillt unter der Spitze hervor, rinnt wie eine Träne herab.
»Aufhören!«, rufe ich, dann: »Es wird alles gut, Sophie.«
Kein Spiel auf Zeit mehr. Zumindest hat sie so eine Chance. Ich schraube den Deckel ab, mühe mich mit zittrigen Fingern an der Kindersicherung. Ich könnte mich übergeben, denke ich. Oder sie ausspucken. Oder im Mund verstecken.
»Ich werde dich genau beobachten. Zeig mir deine Hände.«
Er war schon immer schlau.
»Woher weiß ich es?«, frage ich und sehe ihn an. »Woher weiß ich, dass du ihr nicht trotzdem wehtust?«
»Das weißt du nicht. Aber Sophie wird ein braves Mädchen sein. Sie weiß, was passiert, wenn sie das nicht ist. Nicht wahr?«
Schnell nickt sie.
Endlich sehe ich sie an: »Überlege, Süße. Tu, was immer du tun musst, um zu überleben. Um mehr bitte ich dich nicht.«
Ich bin so langsam wie möglich. Vielleicht überlebe ich es, denke ich, das letzte Mal hat es auch funktioniert. Aber dann sehe ich, dass da sicher fünfzig Tabletten in dem Fläschchen sind. Viel mehr als damals. Das ist genug, kein Zweifel. Und ich werde hier sein, langsam in der schmutzigen Ecke dieses leeren Gebäudes einschlafen, wo mich niemand findet.
Die erste Tablette liegt auf meiner Zunge, ich schlucke. Ich muss würgen, Tränen füllen meine Augen. Ein hartes Husten, dann ist sie wieder in meinem Mund.
Seine Augen sind weit aufgerissen, man sieht viel Weiß.
»Ich habe dir gesagt, keine Tricks. Wenn du irgendwas versuchst …«
Ich schüttle den Kopf. Tränen rinnen über Sophies Wangen, folgen der Spur des Bluts.
»Ich versuche gar nichts. Ich kann sie nur nicht schlucken.«
»Tu es. Noch mal!«
Also versuche ich es. Aber es passiert wieder. Ich kann die Tablette nicht mal in die Kehle bekommen; ich bin auf allen vieren, huste sie wieder hervor, mein ganzer Körper zuckt. Er ist jetzt aufgewühlt, geht hin und her.
»Es ist okay.« Beruhig ihn. »Ich brauche nur etwas Wasser.«
»Wasser?«
»Ja.«
Ich brauche das Wasser. Wenn er abgelenkt ist, wenn er den Raum verlässt …
Aber er sieht von mir zu Sophie, mit einem Mal unsicher. Sie starrt ihn an, ihre Augen sind ganz groß, und er trifft eine Entscheidung.
»Also hol welches.«
Zuerst bewegt sie sich nicht.
»Los. Hol. Eine. Flasche. Wasser. Vom. Stapel.«
»Ich kann sie holen«, werfe ich ein.
»Du bleibst, wo du bist.« Er richtet die Klinge wieder auf mich.
Wie stark er wohl ist. Aber ich kann kein Risiko eingehen, nicht, wenn er meiner Tochter so nah ist.
Sie geht durch die Tür und verschwindet aus meinem Blickfeld. Aus dem anderen Raum ertönt ein dumpfer Schlag, als ob etwas umgefallen ist. Sie wird Mühe haben, so, wie ihre Hände gefesselt sind.
»Beeil dich«, ruft er. Aber da kommt sie schon wieder, etwas Verbogenes im Arm. Eine dieser großen Wasserflaschen aus Plastik. Wie lange will er sie hier behalten? Sie rutscht aus ihrem Griff, als würde sie gleich wieder fallen.
Ungeduldig entreißt er sie ihr, dann kommt er zu mir. Ich spanne mich an, stütze mich gegen die Wand, einen Fuß gegen die kühlen Ziegel gedrückt, als er mir die Flasche mit ausgestrecktem Arm hinhält.
»Nimm das.« Er ist jetzt ganz nah, will genau sehen, was ich tue. »Keine Tricks. Keine Tabletten im Ärmel verschwinden oder fallen lassen.«
In seinen Augen funkelt fast schon Hunger.
Das kann nicht sein. Aber es passiert, und ich kann es nicht aufhalten.
Ich nehme ihm die Flasche mit beiden Händen ab, kann sie kaum zusammen mit den Pillen halten. Alles geschieht in Zeitlupe. Es wird passieren.
Er ist jetzt so nah, dass ich sein Aftershave riechen kann, holzig, vermischt mit dem Geruch der Erde. Ich spüre das Gewicht der Flasche in meinen Händen. Ich sehe Sophie hinter ihm, ihr Blick auf mich gerichtet. Ich fühle die Kühle der feuchten Luft. Den Druck unter dem Plastik in meiner Hand, und Sophie, ihr Ausdruck schwankt nicht. Wir tun, was er will. Ich sehe, wie ihr Blick zu der Flasche in meinen Händen gleitet, dann wieder zu meinen Augen.
Also tue ich, was er verlangt. Ich halte die Flasche gegen meinen Körper gedrückt, positioniere sie genau richtig, drehe den Verschluss. Das Wasser spritzt hervor, klatscht auf seine Brille; Sophie hat die Flasche geschüttelt. Er zuckt zurück, reißt reflexartig die Hände hoch, um die Gläser abzuwischen, nur einen Moment, bevor er sich fängt.
Aber es reicht, reicht so gerade eben, da ich die Flasche schon habe fallen lassen, um mich gegen ihn zu werfen, auf die Hand mit dem Messer, danach zu greifen, mit ihm zu ringen, mein ganzes Gewicht an seinem Arm, ihn zu Boden ziehend. Jetzt sind wir beide am Boden, sein Arm unter mir, mein Gewicht auf ihm. Mit einem Mal habe ich das Messer, meine Nägel graben sich in seine Haut, und er lässt tatsächlich los, und ich werfe es so weit weg, wie ich kann. Aber er ist stark, natürlich.
»Du Schlampe, du verfickte Schlampe«, kreischt er und wirft mich unter sich, die Brille halb vom Gesicht hängend, seine Miene eine Maske rasenden Zorns. Dann hat er mich.
Ich werfe einen Arm hoch, mein Ellbogen trifft knirschend etwas, aber er drückt ihn wieder runter, bekommt beide Arme unter seine Knie. Dann legen sich seine Hände um meine Kehle, er kniet über mir, seine Schwere zerquetscht mich, seine Augen voller Hass. Ich spüre seine Finger, hart und stark, sein Gewicht dahinter. Und jetzt ist Sophie hinter ihm, viel zu nah, sie muss weg, sie will helfen, aber ihre Hände sind gefesselt; ich kann ihre gedämpften Schreie hören, ihr Gesicht ist rot unter dem silbernen Klebeband; sie versucht, ihn von mir wegzuziehen, ihre Hände packen seine Schulter, rutschen ab; sie kann nicht richtig zugreifen, und er hält für einen Moment inne, schlägt nach ihr, und sie fliegt durch den Raum, zurück in den Schmutz.
Solange seine Hände von meiner Kehle weg sind, sauge ich Luft ein, fülle meine kreischende Lunge, aber noch immer kann ich mich nicht bewegen. Meine Beine treten nutzlos umher, suchen nach Halt im Dreck. Dann ist er wieder über mir, beide Hände noch fester als zuvor, sein Wille ist so deutlich. Sophie steht auf, und es ist nichts zwischen ihr und der Tür, der Weg ist frei, dennoch dreht sie sich um, angsterfüllt, ihre Augen auf mich gerichtet. Ich kann keine Wörter bilden, deshalb will ich ihr mit Blicken sagen: Geh!
Aber sie flieht nicht, kommt einen Schritt näher, die falsche Richtung, sie muss laufen, bevor sie versteht, was passiert, und ich habe solche Angst um sie.
Geh! Geh! Geh!
Dann entscheidet sie sich, ich sehe es in ihrem Gesicht, sie nickt, ihre Miene eine Grimasse unter dem Band. Ihre Schritte sind unsicher von dem Schlag, aber sie bewegt sich weg von uns. Seine Finger winden sich noch enger um meine Kehle, er ist still und ruhig über mir: Er wird mich umbringen, genauso, wie er Nancy umgebracht hat, und mein Blickfeld wird enger, dunkel an den Rändern. Ich habe solch entsetzliche Angst, aber in mir singt auch eine Stimme, weil sie weg ist, ich kann sie nicht mehr sehen, während das Blut in meinen Ohren dröhnt. Wenn sie wegläuft, kann sie frei sein.
Aber ich muss ihn hier beschäftigen, solange ich kann, oder er wird ihr nachlaufen, es wäre alles umsonst  – der Gedanke durchströmt mich, während er sich über mich beugt, er ist jetzt so nah, sein heißer Atem schlägt mir ins Gesicht, und – ja!  – ich reiße den Kopf hoch, treffe seine Nase und spüre etwas brechen. Eine warme Flüssigkeit spritzt über mein Gesicht, und ich winde mich unter ihm, befreie einen Arm, nur für einen Moment, und ich werfe ihn von mir, suchend, greifend, nach irgendwas, einem Stein, aber da ist nichts, nur der harte, blanke Boden. Er ist so still, seine Augen starren mich an, seine Finger wieder um meine Kehle, enger und enger …
Und dann ist da plötzlich das Messer, ich weiß nicht, woher es kommt, ich habe es weit weggeworfen, ohne daran zu denken, es zu benutzen. Aber jetzt ist es da, und ich kann nicht glauben, dass das passiert, fast bin ich wie entrückt, sehe mir selbst von außen zu, aber ich sehe, wie es zwischen seine Rippen gleitet, bevor er es bemerkt.
Er grunzt. Jetzt die flüssige Hitze zwischen unseren Leibern, so schockierend warm. Er ist so schwer, seine Finger noch auf meiner Kehle, aber sein Griff wird schwächer, der Druck lässt nach. Mit einem Mal kann ich ihn von mir runterrollen, ihn ganz von mir werfen; ich krieche unter ihm hervor.
Seine Augen sind glasig im Schock, er sieht hoch, versteht noch nimmer nicht, was gerade geschieht, bis er langsam eine Hand da hinlegt, wo das Messer steckt, nah am Herzen.
Das Blut ist dunkel auf dem Boden, sickert bereits in die Erde.