46. Kapitel
W
ir sind draußen. Von ganz weit weg höre ich Sirenen heulen. Es ist jetzt dunkel, der Regen nur noch ein Nieseln, das mich wäscht. Noch nie habe ich mich so frei gefühlt. Ich fühle mich gut, mehr als das, losgelöst von der Welt, vermutlich besser, als ich sollte, reite immer noch die Welle von Adrenalin und Energie. Sie ist hier, sie ist hier,
mein ganzer Leib jauchzt in dem Wissen. Aber es geht ihr nicht gut, das kann ich sehen. Meine Tochter verdreht die Hände neben mir, das Klebeband rutscht zusammen, ist aber immer noch fest, und ich weiß, was ich tun muss. Ich gehe hinein und hole das Messer, wische es an meiner Jeans ab, dann durchtrenne ich das Klebeband, sorgsam darauf bedacht, nicht ihre Haut zu berühren.
»Schhh, es ist alles gut. Alles gut.«
So sanft wie möglich ziehe ich das Klebeband von ihrem Mund. Die Haut darunter ist rot, ihre Lippen trocken.
»Mum.«
Die Stimme ist dünn vor Angst. Ich umarme sie. Die Sirenen sind jetzt näher, klingen schriller.
»Sophie. Alles ist gut, Sophie. Es wird alles gut. Lass uns gehen.«
Ich gehe los, stütze sie, halte sie noch im Arm – lasse sie nicht mehr los. Ich spüre ihr Gewicht in meinem Arm, rieche ihr Haar, aber sie zittert und zieht sich zurück, die Augen wild aufgerissen, ihr Mund ein Schrei.
»Mum«, bringt sie hervor. »Mum, er hat Teddy. Er hat Teddy!«
Einen Augenblick lang verstehe ich nicht. Er hat Teddy, wiederholt sie wieder und wieder. Und ich begreife es einfach nicht, vor meinem geistigen Auge erscheint ein Stofftier.
»Teddy? Das ist okay, wir besorgen dir einen neuen …«
Sie muss im Schock sein nach allem, was passiert ist. Wie ein Kind, das nach seinem Teddy brüllt.
Aber sie packt mich mit erstaunlich festem Griff.
»Nein, Mum, nein
. Er hat ihn mitgenommen. Teddy. Er hat mein Baby mitgenommen. Mein Baby.« Ihre Stimme wird lauter, verzweifelter. »Was hat er mit ihm gemacht? Mit Teddy?«
Das betäubt mich einen Moment lang, dann durchflutet mich die Erkenntnis. Danach ist es, als wäre das Wissen schon immer da gewesen wäre.
»Sophie, ich weiß. Ich weiß, wo Teddy ist.«
Wir nehmen seinen Wagen, der Schlüssel steckt noch.
»Er hat ihn nirgendwo hingebracht«, erkläre ich. »Er ist in Sicherheit, ich weiß, wo.«
Die Fahrt dauert nur wenige Minuten, aber es fühlt sich viel länger an. Ich beginne zu beten, halte Sophies Hand, während ich mit der anderen lenke. Wir reden nicht: Gerade gibt es keine Worte. Lieber Gott, bitte, bitte … mehr Form kann ich meinen Gedanken nicht geben, bis wir vor dem Cottage anhalten. Ich renne hinein.
»Lily«, rufe ich, als ich die Tür aufreiße. »Lily!«
Keine Antwort. Vielleicht liege ich falsch. Ich renne durch die Räume ins Wohnzimmer. Sophie ist direkt hinter mir, atmet zu schnell, ein halbes Schluchzen. Vielleicht …
Und da ist Lily, vornübergebeugt, in der Ecke beim Fenster. Sie streckt sich und lächelt ein breites, frohes Lächeln.
»Oh, Kate«, sagt sie. »Genau passend zum Tee.«
Sie lässt eine Hand fallen, ein sanftes Tätscheln auf den Kopf der kleinen Gestalt, die sich an ihrem Rock festhält.
»Vorsicht mit den klebrigen Fingern, Schatz. Oh, ich bin so froh, dass du da bist, Kate. Darf ich dir meinen lieben kleinen Jungen vorstellen?«