48. Kapitel
Kate
S ie fanden Nancy.
Es war Nicholls’ Idee, in dem Gebäude zu suchen, in das er uns gebracht hatte – ich hörte zufällig, wie Kirstie es einem Kollegen erzählte. Sie ist wieder da und hilft uns. Es war nur ein Bauchgefühl, aber ein korrektes: unter der festgestampften Erde nachzusehen, warum Heath genau diesen Ort gewählt hatte, nachdem er Sophie aus dem Dachgeschoss geholt hatte. Es war, wie Heath vorging, sich selbst wiederholend, seinen eigenen Schritten nachlaufend – der Versuch, mit der Gegenwart seine Vergangenheit in Ordnung zu bringen.
Mir tut Nancys Schwester Olivia leid. Es ist eine Sache, eine Vermutung zu haben, aber eine ganz andere zu wissen, dass jemand, den du liebst, nie zurückkommen wird …
Sie war nicht tief vergraben. So ganz genau ließ sich nicht feststellen, wie er es getan hatte, aber mit unserem Wissen über ihn – er hat sie wohl erwürgt. Sie glauben, sie wollte ihn nur dort im Park treffen, als alle im Bett waren. Vermutlich hatten sie sich vorher schon dort getroffen. Teenager, die einen Ort für sich suchten.
Aber dieses Mal kam nur er zurück.
Danach hat er wohl entweder die Schlüssel seines Vaters oder die seiner Mutter – Lily – genommen, um in Nancys Haus zu gelangen. Beide hatten welche, da sie oft dort arbeiteten. Niemand wusste von ihm und Nancy: Es wäre peinlich gewesen, um es freundlich zu sagen, falls ihre Eltern herausgefunden hätten, dass sie sich mit dem Sohn der Bediensteten traf. Ich frage mich, ob ihr das gefiel, ein kleines bisschen wenigstens – die Aufregung eines Geheimnisses.
Später hat er einfach so weitergemacht wie vorher, verschwand unbeachtet im Hintergrund. Vielleicht half er, die Gerüchte über Jay zu verbreiten, wir wissen es nicht. Aber wenn ich daran denke, was er mir angetan hat, erscheint es mir wahrscheinlich.
Aber ich eile zu weit voraus. So viel ist seitdem geschehen. Seit Sophie zurückgekommen ist.
Mein Haus war sehr voll. Es gab Lichter in der Einfahrt, und noch mehr Autos kamen, überall Leute, die so viele Fragen stellten. Jemand hatte mir eine Decke übergelegt. Ich stellte fest, dass ich in der Sommernacht fröstelte, mit heftig zitternden Händen.
Endlich hatte ich Charlotte ruhiggestellt. Sie bekam keinen geraden Satz heraus.
»Kate, ich hatte so große Sorgen …« Sie hockte sich vor mir hin, um mir eine weitere Tasse Tee zu reichen. Ihr Gesicht war blass. »Als du nicht hier warst, dein Auto aber schon … ich dachte …«
»Ich weiß. Uns geht es gut.«
Aber ich konnte es ebenfalls kaum glauben.
Und dort, inmitten von allem, die Sonne, um die wir uns alle drehten, war Sophie, ganz nah bei mir auf dem Sofa im Wohnzimmer. Sogar die Polizisten spürten es – ich hörte es in ihren Stimmen: so etwas wie Ehrfurcht. Teddy saß auf ihrem Schoß, ein kleiner Junge mit großen Augen bei so vielen Menschen. Sie hatten ihm die Fernbedienung zum Spielen gegeben – er liebt es, Knöpfe zu drücken –, während ich das Reden übernahm, mit Sophie stumm an meiner Seite. Irgendwann schlief sie mitten in all dem Trubel ein. Sie musste so erschöpft sein.
Zwei Jahre, drei Monate und elf Tage hatte sie auf Zeit gespielt, nach Möglichkeiten gesucht, nach Öffnungen in seiner Rüstung. Die Botschaft im Anruf versteckt. Die E-Mail-Adresse im Tagebuch. Die Zeichnungen auf den Postkarten. Und dann ihre letzte Rebellion, kurz vor Ende, so simpel, dass es wie Dummheit wirkte. Es war dumm, so ungeschickt, so riskant, noch immer wird mir angst und bange, wenn ich daran denke – das Wasser fallen zu lassen in der Hoffnung, dass er herausspritzen würde, um seine Aufmerksamkeit für einen Herzschlag abzulenken.
Ihre Augen, die mir das mitteilten – um unsere letzte Chance zu ergreifen.
Ein Polizist war bei Lily; ich hatte nachgesehen.
Am Ende passte alles wie ein Puzzle zusammen.
»Mein kleiner Junge.«
Sie hatte sich nichts eingebildet. Ja, sie war konfus, aber es war mehr als das: Diese Medikamente, die sie mehr verwirrten, als normal sein sollte, die ihre natürliche geistige Schärfe stumpf werden ließen.
Und dann waren da meine Träume, als ich kindliches Gelächter wie von Sophie hörte. Natürlich. Es war Sophies Kind.
»Manchmal nahm er ihn mit raus«, berichtete sie uns. »Nachts.«
Aber Heath war nicht immer nur draußen gewesen. Er hatte Teddy auch mit zu Lily genommen. So konnte er Sophie besser kontrollieren, ohne sich um den Kleinen kümmern zu müssen. Und so gewöhnte sich Teddy daran, dass jemand anderes bei ihm war. Deshalb hatte Heath entschieden, ihn dort zu lassen. Bevor er …
Um die Gedanken loszuwerden, drücke ich Charlotte an mich. »Wirklich, es geht mir gut. Hast du schon Dad erreicht und es ihm gesagt?«
Ich will nicht, dass sie sich Vorwürfe macht, denn am Ende war sie für mich da. Am Nachmittag war sie vorbeigekommen, wie sie es mir gesagt hatte, und hatte den Wagen in der Einfahrt vorgefunden, aber ich war nicht zu Hause. Sie ging hinein, fand alles verlassen vor. Vermutlich hatte sie uns nur um ein paar Minuten verpasst.
Als Nächstes rief sie mich an, aber mein Telefon klingelte ungehört im Fußraum seines Autos. Charlotte geriet in Panik beim Gedanken daran, was ich getan haben könnte.
»Etwas Dummes«, ist alles, was sie dazu sagt.
Also rief sie die 999 an, und die schickten zwei Beamte im Polizeiwagen vorbei. Aber das reichte ihr nicht; sie ging in die Küche und fand Nicholls’ Karte, neben das Telefon gesteckt. Also rief sie auch ihn an.
Daher suchte man bereits nach uns, ein Polizeiwagen in meiner Einfahrt, als wir im Auto von Heath ankamen und ins Cottage rannten. PC Kaur, der schon mal nach dem Einbruch gekommen war, fand uns dort. Seine Kinnlade fiel runter, als er mich sah, blutverschmiert und dreckig. Als er Sophie hinter mir sah, wurde sein Mund noch größer, ihre geisterhafte Blässe, mit dem kleinen Jungen mit den zu langen Locken im Arm.
»Da ist eine Leiche im Park«, berichtete ich Kaur. »Im Nebengebäude, das dem Parkplatz am nächsten ist. Es handelt sich um Dr. Heath.«
Ich wiederholte das immer wieder, je mehr Leute ankamen und sich in der Einfahrt versammelten.
»Dr. Heath«, sagte ich wieder und wieder. »Er war es. Er hat Sophie entführt.«
Dann erblickte ich Nicholls, der mit zerknülltem Anzug aus meinem Haus kam.
»Und er hat Nancy ermordet«, sagte ich über ihre Köpfe hinweg.
Das ließ ihn innehalten. Für einen Moment sah er so jung aus wie auf dem Schulfoto. Er wusste es noch nicht, begriff ich da.
»Es tut mir leid«, fuhr ich sanfter fort. »Sie ist tot. Und er ist der Mörder. Nick Heath.«