49. Kapitel
E s wird keine Gerichtsverhandlung geben. Nicholls hat mir das neulich morgens mitgeteilt, als er an meinem Küchentisch saß, in seinem Anzug, nachdem er uns herumgefahren hatte. Er hatte es über Kontakte im Crown Prosecution Service erfahren: Niemand will eine Mutter vor Gericht zerren, die klar in Selbstverteidigung gehandelt hat.
Eine Menge Aufmerksamkeit richtet sich auf mich. Alle wollen mit mir reden, vom Frühstücksfernsehen bis hin zu seriösen Zeitungen.
Ich habe geredet und geredet, bis ich heiser war. Die Polizei war höflich, aber gründlich, ging meinen Bericht immer wieder mit mir durch. Aber sie glaubten mir von Anfang an – ich sah es in ihren Augen. Sophie und Teddy wurden natürlich nur mit Samthandschuhen angefasst, bekamen Sozialarbeiter zugewiesen, und man ließ ihnen »Zeit, um zu heilen«, wie man sagte. Zu ihrer Zeit kann sie der Welt ihre Geschichte erzählen, falls sie das möchte.
An jenem Morgen dachte ich, Nicholls würde nach dem Überbringen der guten Neuigkeiten und dem Erkundigen nach uns wieder gehen. Sie spielten im Garten, und wir beobachteten sie eine Weile durch das Fenster, während wir unseren Kaffee tranken. Aber er schien nicht in Eile zu sein, also erwähnte ich es einfach. So vieles war mir bewusst geworden, durch die Polizisten, die mich befragten, oder aus dem, was in den Zeitungen stand, aber ich wollte es von ihm hören. Es war unsere erste Gelegenheit zu einem echten Gespräch – er musste sich aus den Ermittlungen zurückziehen, als klar wurde, dass Nancy und Sophie zum selben Fall gehörten. »Wissen Sie, einen Moment lang glaubte ich, Sie hätten Sophie in Ihrer Gewalt«, erklärte ich. »Ich sah das Schulfoto von Nancy mit Ihnen und habe erkannt – Sie sind Jay.«
Eine kurze Weile schwieg er. »Ich war Jay«, korrigierte er mich dann sanft. »Als wir wegzogen – meine Familie ging in den Süden –, nannte mich niemand mehr so. Es sollte ein Neustart werden. Aber ich mochte es hier immer.« Er wandte sich mir zu. »Heath muss auch auf dem Bild sein, das hätten Sie gesehen, wenn Sie es sich genauer angesehen hätten. Ihm war das wohl bewusst.«
»Hätte ich nur die Zeit gehabt …«
Ich erinnerte mich wieder an den argwöhnischen Blick, als ich ihm sagte, es sei Jay – Nicholls –, der Sophie in Parklands gefangen gehalten hatte, und damit preisgab, dass ich nicht ihn verdächtigte. Da hatte er sich wohl entschieden, was er mit mir machen wollte.
»Ich schätze, es war sicherer, mich zu dem einsamen Gebäude zu bringen, statt irgendwas hier zu versuchen.«
Aber mit einem hatte ich recht: Es war nicht ganz zufällig, dass ausgerechnet Nicholls Sophies Fall übernommen hatte.
»Es brachte eine Saite in mir zum Klingen, nehme ich an. Unter anderem deshalb bin ich zur Polizei gegangen. Damals kam es mir vor, als würde sich niemand um sie kümmern, als sie verschwand.« Er zog eine Grimasse. »Ich meine natürlich Nancy. Auch wenn ich meine Vergangenheit nicht gerade offen vor mir hertrug. Man sagte, wir hätten uns gestritten – das stimmte nicht. Aber die Leute reden.«
Ich nickte und fragte mich, ob Heath das nicht aus Versehen ein wenig mit vorbereitet hatte.
»Ich wechselte zwischen den Einheiten, vor ein paar Jahren. Ich war bei den wichtigen Fällen dabei, arbeitete näher am Stadtzentrum. Bis dahin hatte ich nicht wirklich was von Sophie mitbekommen. Erst letztes Jahr bin ich dann zu der Einheit versetzt worden, näher an Amberton und, nun ja, dem Ort, in dem ich aufgewachsen war.«
»Als dann Sophies Anruf kam«, fuhr er fort und rieb sich den Nacken, »da fühlte es sich so nah an, auf unterschiedliche Art. Ich wollte sichergehen, dass wir alles getan hatten, was möglich war. Aber es erschien sehr eindeutig. Dann tauchte das Tagebuch auf, deutete an, dass es um ihre Schwangerschaft ging und ihren beschissenen Freund« – ich lächle, als er zur Abwechslung mal nicht so perfekt professionell klingt –, »und ich dachte, kein Wunder, dass das Mädchen nicht nach Hause will.«
»Das habe ich gemerkt.«
Er zog die Stirn in Falten. »Das hätte ich nicht so kommunizieren dürfen. Aber ich fragte mich tatsächlich, ob Nancy auch so was passiert war. Dass sie Angst vor dem hatte, was ihre Eltern sagen und tun würden.«
»Das wollte Heath, dass alle denken, wir hätten bei Sophie versagt.«
»Ja. Trotzdem … irgendwas daran … es war zu glatt, wie das Tagebuch genau dann auftauchte. Also hielt ich die Augen offen. Als Sie sagten, jemand sei in Ihrem Garten gewesen, und ich begriff, wo Sie wohnten, da kam ich vorbei und sah mir Nancys Haus an …«
»Wo ich sie traf«, warf ich ein. »Und dachte, Sie wirken …«
»Verschlagen«, sprach er es an meiner Stelle aus. »Vielleicht. Ich redete mir ein, dass ich nur meinen Job machte, aber es war mehr als das. Es ließ mich nachdenken – was hätte ich damals anders machen können, nach Nancys Verschwinden. Weil es für mich nie einen Sinn ergeben hat. Wie auch immer, ich blieb aufmerksam. Als dann diese Anruflisten kamen, erschien es mir, als ob Sie …«
»Durchdrehen«, stellte ich trocken fest. »Und sie wussten von meiner Geschichte.«
»Ihr Ehemann hat es erwähnt, als er kam, um über das Tagebuch zu sprechen.« Er sah nach unten.
Ich kann mir vorstellen, welche Richtung Mark der ganzen Sache gegeben hat. Es ist einfacher, jemand anderem die Schuld in die Schuhe zu schieben, als bei sich selbst nachzusehen
Und natürlich war da noch Heath, der mit seinen Lügen meine Familie gegen mich einnahm.
Noch so eine Sache, die im Nachhinein ans Licht kam. Nachdem ich aus Versehen die Überdosis genommen hatte, hatte ich ihm als meinem Arzt offiziell erlaubt, in Kontakt mit meiner Familie zu treten. Er behauptete, es sei eine gute Idee. Und ich hatte es nie rückgängig gemacht, nicht mal daran gedacht. Also hatte er sich hinter einer Fassade der Besorgnis versteckt und sie über meinen Geisteszustand auf dem Laufenden gehalten, sie dazu angehalten, nach mir zu sehen und ihm Bescheid zu geben – nur für den Fall, dass ich zum Beispiel schlecht auf Marks neue Freundin reagiere, hatten sie eigentlich schon davon gehört? Ohne Alarm schlagen zu wollen, nein, gar nicht, aber er machte sich einfach Sorgen …
So fand er heraus, was ich so trieb, und konnte später fruchtbaren Boden vorbereiten. Falls mir jemals was passieren sollte …
Alle vertrauen schließlich einem Arzt.
Einige deuteten an, mit viel Taktgefühl, dass ich mich vertun könne: dass ich zu viel aus meinen Träumen herauslas. Und ich werde es wohl nie wirklich sicher wissen. Diese dunkle Gestalt, von der ich geträumt habe, die sich über mein Bett gelehnt hat … die Polizei sagt, dass es sehr unwahrscheinlich war, dass es ein zu hohes Risiko für ihn gewesen wäre, mehr als einmal in mein Haus einzudringen.
Aber ich weiß es. Ich erinnere mich an die Nacht, in der ich aufwachte und diese Präsenz spürte, wartend, atmend, auf der anderen Seite meiner Schlafzimmertür – die mich schlafend vorzufinden erwartet hatte. Er hatte mich angewiesen, die Tabletten weiterhin zu nehmen.
Heath stellte seinen Wagen für gewöhnlich hinter Parklands ab, glauben wir, um nach Sophie zu sehen, nahm diesen Pfad, den Nicholls erwähnte, als ich ihn dort traf. Und wenn jemand den Wagen des Doktors auf einer Straße stehen sah, nun, Allgemeinmediziner machen zu allen Tages- und Nachtzeiten Hausbesuche.
Man nimmt an, dass er schon vor langer Zeit Kopien der Schlüssel von Parklands anfertigen ließ. Vielleicht schon, als Nancy noch dort lebte: ein Teenager, der an einem ruhigen Nachmittag die Schlüssel seiner Eltern vom Tisch im Hausflur stahl.
»Es war ein guter Schutz«, riss mich Nicholls aus meinen Gedanken zurück in den hellen Morgen. »Aber als ich erfuhr, dass Sie einen weiteren Einbruch gemeldet hatten, machte ich weiter – ich sagte, ich würde mir das genauer ansehen. Dann endlich kamen die Anruferlisten. Das braucht Wochen, wissen Sie?«
»Und?«
»Und der Anruf ließ sich nicht zurückverfolgen, wie ich es erwartet hatte. Es war nur eine Mobilnummer, die Sie bei der Hotline angerufen hatte zu der Zeit, die Sie uns gesagt hatten. Das Telefon war nicht registriert, aber das war nicht überraschend, es war Prepaid. Es wurde ziemlich lokal benutzt, der Anruf ging über einen Funkmast hier in der Nähe. Aber die decken ein großes Gebiet ab.«
»Der Empfang hier draußen ist übel«, fügte ich hinzu.
»Dennoch, das fühlte sich falsch an. Sehen Sie, das Telefon wurde nur an dem Abend benutzt: für zwei Anrufe, nur ein paar Sekunden nacheinander.«
»Der Testanruf, um zu sehen, ob ich da war …«
»Und dann war es Sophie. Darüber dachte ich tatsächlich gerade nach, als Ihre Schwester anrief und mir sagte, sie könne Sie nicht finden, also kam ich direkt vorbei. Aber es tut mir sehr leid, ich war beinahe zu spät.«
»Es war, als wollten Sie mich loswerden.«
»Ein wenig. Es ist einfacher zu ermitteln, wenn nicht …« Er lässt es unausgesprochen. »Aber es war mehr als das. Ich fühlte mich mit der ganzen Sache nicht wohl. Es erinnerte mich zu sehr an meine eigene Vergangenheit, und ich befürchtete, dass mich das von meinen Aufgaben ablenkt.«
Ich wechselte das Thema: »Und Sie hatten ihn – Heath – seit Schulzeiten nicht mehr gesehen?«
»Nein. Selbst wenn, ich hätte gerade noch seinen Namen gewusst, um ehrlich zu sein, geschweige denn, wo er aufwuchs. Ich wusste nichts von ihm und Nancy. Niemand wusste etwas.«
Andere Dinge kamen ans Licht, teilweise in Zeitungen, teilweise erfuhren wir es von der Polizei. Nach der Universität ging Heath ins Ausland, dann zog er viel umher, verlor dabei anscheinend seinen weichen Cheshire-Dialekt. Es gab Beschwerden, Andeutungen über ungebührliches Verhalten bei einigen jungen Patientinnen. Zu freundlich. Aber dann zog er weiter, wurde irgendwo anders Vertretungsarzt. Als er schließlich zurück nach Amberton zog, lebte er zurückgezogen. Weshalb niemand in der Praxis daran dachte nachzusehen, ob eine der älteren Patientinnen des ruhigen jungen Doktors seine Mutter war – und das war ohnehin nur eine Kleinigkeit.
Doch dann erfuhr er, dass Nicholls sich des Falls angenommen hatte: Ich habe es ihm ja selbst gesagt. Und ich wette, er hat sich an ihn erinnert. Bestimmt erschien ihm die Gefahr, entdeckt zu werden, jetzt zu groß.
»Wie geht es Mrs Green?«, erkundigte sich Nicholls und unterbrach meine Gedanken.
»Lily geht es gut, denke ich. Es ist schwierig einzuschätzen, aber sie wirkt viel heller. Klarer.«
Wir wissen nicht genau, was Heath mit den Medikamenten vorhatte, die er ihr gab. Er hatte ihr gesagt, dass sie immer dann eine Tablette nehmen sollte, wenn sie ein wenig verwirrt war oder sich verloren fühlte. Sie sorgten jedenfalls dafür, dass sie konfus blieb. Aber vielleicht war sie schwerer zu kontrollieren, als Heath gehofft hatte. Stellte zu viele Fragen über den kleinen Jungen, oder vielleicht war es unsere Freundschaft, die ihm Sorgen bereitete – was konnte ihr alles herausrutschen? Wie leicht wäre es, dass sie sich vertut, zu viel von ihrer starken Medizin auf einmal nimmt …
Weil er sich nach Vertretungsstellen außerhalb von Cheshire erkundigt hat, wie man jetzt weiß, denken wir, er wollte irgendwo mit Teddy neu anfangen. Sie haben sein Haus durchsucht, ein ordentliches Reihenhaus am Stadtrand von Amberton, und einiges aus der Dachkammer gefunden: Teddys Kleidung und Spielzeug, in Taschen auf dem Speicher.
Es dauerte eine Weile, bis ich herausfand, für wen Lily Teddy wirklich hielt – ich wollte sie nicht aufregen.
»So ein lieber Junge«, sagte sie leicht wehmütig. »Ein guter Junge, unter der Schale.« Sie redete von Heath. Er hatte ihr vorgelogen, dass Teddys Mutter eine gefährdete Patientin war, die einfach ein wenig Hilfe dabei brauchte, ihn zu versorgen. Aber man dürfe niemandem was erzählen. »Die Behörden, du weißt schon«, erklärte sie mir mit großen Augen. »Sie nehmen ihn sonst mit.«
Und irgendwie ist es ja sogar wahr. Heath verbarg sein Geheimnis in der Öffentlichkeit. Sie hatte vor langer Zeit gelernt, nicht von ihrem Sohn zu erzählen, der seine bescheidene Herkunft gern verschwieg. Das war dann sogar praktisch, als er nach Amberton zurückkehrte und niemand unangenehme Fragen stellte.
Doch ich frage mich, wie viel sie über ihn wusste oder im Laufe der Jahre erraten hatte. Ich erinnere mich daran, wie sie zu Beginn so tat, als kenne sie Nancy nicht. Natürlich würde die Hausmeisterin nicht über die Familie schwatzen, für die sie arbeitete, und später war da die traurige Vergangenheit. Und doch. Ich weiß, wie weit wir gehen, um jene zu beschützen, die wir lieben.
Am Ende lass ich es einfach sein.
Ihr neuer Sozialarbeiter hat ihr gesagt, dass er tot ist, aber sie haben ihr die Details erspart. Sie scheint zu glauben, dass Heath in einen Kampf geraten ist. Auch jetzt noch ist sie manchmal verwirrt, aber sie wurde aus dem Krankenhaus entlassen, wo man sie beobachtete. Sie ist in eine neue Wohnung gezogen, wo sie betreut wird, und wir besuchen sie manchmal, Teddy und ich, und einmal sogar Sophie. Ich habe das in die Wege geleitet: Heaths Vermögen fiel an sie, wie es korrekt war. Er musste gehen, sage ich ihr, wenn sie fragt, und einmal – ich hoffe, sie kann mir die Lügen vergeben – »Oh, richte ihm bitte meine Grüße aus.«
Auch einiges von Sophies Sachen hat man gefunden. Er hatte es schon zur Müllkippe gefahren. Falls er hätte tun können, was er wollte, glaube ich nicht, dass er sie mitgenommen hätte.
Mit einem Mal wollte ich nicht mehr darüber nachdenken. Ich setzte den Kessel wieder auf.
»Also, halten Sie noch Vorträge an der Amberton Grammar? Maureen würde es sehr begrüßen.«
Nicholls sah überrascht aus, dann lachte er. »Vielleicht. Sie sollten vermutlich auch einen halten.«