50. Kapitel
S
ie sagen, dass sich Sophie, wenn man alles bedenkt, außergewöhnlich gut erholt. Ich habe nie wirklich verstanden, wie stark sie ist. »Ihre Jugend, vielleicht«, meint die Therapeutin, Sally. »Teddy. Und die Hoffnung, dass Sie sie finden würden.«
Ich habe wieder Termine. Es ist gut, und Sophie denkt, es wird mir guttun.
Und Teddy? Er ist ein kleines Bündel der Freude. Natürlich mussten wir das Haus kindersicher machen. Es ist jetzt voller Menschen. Mark ist überraschend oft hier. Sophie gefällt das, alles ist für mich machbar, und er tut mir schon leid. Er ringt mit dem Wissen, dass er aufgehört hat, nach ihr zu suchen – dass er sie aufgegeben hat. Aber vielleicht, dachte ich neulich, war es nicht unser Fehler. Es kam aus dem Nichts, aber etwas in mir lockert sich langsam.
Er ist in ihrer Nähe immer noch nervös, und er versucht weiterhin, sich bei mir zu entschuldigen. Ich versuchte, großzügig zu sein, wirklich, ich versuchte es, aber es kam an einen Punkt, an dem ich nur noch wollte, dass er aufhörte.
»Mark, ich vergebe dir. Nur bitte – hör auf, mir wie ein waidwunder Welpe durchs Haus zu folgen, und setz uns einen Tee auf.«
»Nun«, erwiderte er, den Wind aus den Segeln genommen, »es ist nicht nötig, so unhöflich zu sein.«
Unglaublich, aber ich hörte ein leises Lachen jenseits der Tür. Wir wandten uns um, beide rot im Gesicht. Ich hatte nicht bemerkt, wie Sophie in die Küche gekommen war und uns beim Streiten zugehört hatte.
»Ihr beiden ändert euch wohl nie, was?«
Aber es schien ihr nichts auszumachen. Und die Wahrheit ist, er muss mich nicht um Verzeihung bitten. Niemand muss das.
Ben kommt auch hin und wieder vorbei. Nicholls, meine ich natürlich. Tatsächlich ist er eine angenehme Gesellschaft – lustig, auf eine trockene Art. Maureen von der Schule hatte recht: Da war etwas an ihm, wenn man genauer darüber nachdachte.
Ich weiß nicht, ob daraus mehr wird. Jetzt genügt mir ein Freund. Er weiß, wie es ist, wenn in der Vergangenheit eine Dunkelheit ist, die nicht verschwindet.
Ich hatte so ein Glück. Fast kann ich es nicht fassen.
Wenn ich nachts allein bin, das große Haus wieder still, und alle anderen schlafen und ich in diesem treibenden Zustand zwischen Wachen und Schlafen bin, dann spüre ich es: diese altbekannte kalte Angst, die mich wieder packen will.
Wenn ich die Augen schließe, spüre ich es in den Knochen: Sophie kommt nie wieder. Die Fragen, die uns umtreiben – wo, warum, was wäre wenn? –, werden nie beantwortet. Da bist nur du, ganz allein, wartend. Keine Veränderung, keine Enthüllung, keine Tochter, die wie im Märchen wiederkehrt. Nur noch mehr lange Jahre zu überdauern …
Dann fange ich mich und merke, dass ich es wieder tue. Denn auch wenn diese ewigen Jahre des Verlusts ein Ende gefunden haben, auf eine gewisse Art werden sie für mich nie ganz vorbei sein. Sie haben den dünnen Schleier gelüftet, zwischen der sicheren normalen Welt, die, in der die meisten von uns leben, und der Welt, von der ich weiß, wie sie sein kann – ein Ort scharfer Kanten und Gefahren, an dem schlechte Menschen mir und meinen Lieben wehtun wollen. Also schließe ich die Arme um mich, ganz fest, und versuche, nicht über diese Nacht im Spätsommer nachzudenken, als das Sommergewitter kam.
Es ist leichter, als man denken könnte. Sie stellen keine Fragen mehr, alle offiziellen Angaben wurden gemacht. Es gab einige unangenehme Artikel über die ersten Ermittlungen, wie sie von dem Abschiedsbrief und den Postkarten hereingelegt wurden. Der Rest: Flüstereien darüber, dass es eine Untersuchung geben solle, ob Lektionen gelernt wurden.
Aber hat Heath uns nicht alle getäuscht? Das ist die Frage, die ich mir stelle, während ich jedem versichere, dass wir das alles als Familie hinter uns lassen wollen. Dass wir es erst wieder betrachten, wenn es ein gutes Stück in der Vergangenheit liegt. Vielleicht. Und alle akzeptieren das. Es ist überraschend, was Menschen glauben.
Die meisten jedenfalls.
Es war nur etwas, das Ben ganz zu Beginn sagte, als ich noch die ganze Zeit auf der Wache verbringen musste. Ich saß vor einem dieser kleinen Räume und trank zuckrigen Kaffee aus dem Automaten. Der Anwalt, der dabeisaß, war kurz für ein Telefonat verschwunden, als er vorbeikam, um Hallo zu sagen.
Er fragte, wie es mir ginge.
»Es geht mir gut«, erwiderte ich wahrheitsgemäß. »Ich kann mit alldem umgehen.«
Dass das hier nach den letzten zwei Jahren ein regelrechter Spaziergang für mich war, musste ich nicht sagen.
»Natürlich können Sie das.« Er streckte die Beine aus. »Das war Heaths Fehler, nicht wahr? Er hat Sie unterschätzt.«
»Wie meinen Sie das?«
Ich wandte mich ihm zu.
»Genau das, was ich gesagt habe«, stellte er locker fest. »Zu denken, dass Sie Sophie jemals loslassen würden. Das hat er nicht verstanden. Dass es nichts Stärkeres gibt als diese Verbindung. Es gibt nichts, was eine Mutter nicht für ihr Kind tun würde. Für ihr Baby. Gar nichts.«
Da war etwas in seinen Augen, das es mir verriet. Nicht nur Mitgefühl … eine Frage.
»Sie haben recht«, antwortete ich und konnte nicht wegsehen. »Gar nichts.«
Der Polizist DS Hopper kam zurück und teilte mir mit, dass wir wieder hineingehen sollten, um die Befragung fortzusetzen, falls ich bereit sei. Also hörten wir an der Stelle auf. Ich bezweifle, dass wir jemals wieder darüber reden werden.
Es gab keinen Plan von mir und Sophie. Sie war dafür nicht in der Verfassung. Schon von Beginn an gingen sie einfach davon aus. Meine Kleidung war blutdurchtränkt. Und ich … ließ sie. Sophie war so jung, so verletzlich, so traumatisiert. Natürlich war ich es.
Und ich erzählte ihnen alles, genau so, wie es passiert war, bis zum Ende.
»Dann sah ich das Messer«, wiederholte ich so oft in den folgenden Tagen, als wir wieder und wieder alles durchgingen. »Es fühlte sich so irreal an. Aber ich hatte keine andere Wahl, ich konnte ihn nicht aufhalten.«
Weil es das war, was er mich gelehrt hatte: die Lüge unter der Wahrheit verbergen.
Vom ersten Moment an, als ich entschied, wieder hineinzugehen, wusste ich, was ich zu tun hatte. Ich nahm das Messer, wischte die Klinge an meiner Jeans ab und ebenso den Griff, bevor ich ihn umschloss, um sicherzugehen, dass meine Fingerabrücke überall waren.
Ich sage mir, dass es das Richtige war. Dass ich keine Wahl hatte, dass ich meiner Tochter gegenüber nicht wieder versagen konnte. Nicht nach dem, was sie für mich getan hatte.
Er kniete auf mir, seine Hände auf meiner Kehle, als ich einen Arm befreien konnte und nach etwas suchte. Nach einem Stein, irgendwas. Aber es gab nichts, nur nackte Erde. Nichts.
Und dann sah ich sie: über seiner Schulter, das Messer ungeschickt in der noch gefesselten Hand. Sie ist nicht gegangen. Sie ist nicht gegangen – sie hat es nur geholt,
begriff ich mit aufsteigendem Entsetzen. Ich hatte es weit geworfen, so weit ich konnte, ohne einen Gedanken daran zu verschwenden, es zu nutzen, einfach nur, damit er es nicht mehr hatte. Ich konnte nicht glauben, was geschah, fast war ich wie entrückt, beobachtete sie nur von außerhalb meines Körpers, so voller Angst – er wird sie bemerken, er wird sie hören
–, aber nichts davon geschieht, er ist wie von Sinnen, also erscheint sie einfach hinter ihm und stößt es ihm leise, fast schon delikat, zwischen die Rippen, bevor er begreift, was passiert.
Er grunzt. Er ist so schwer, seine Finger noch auf meiner Kehle, aber ihr Griff wird schwächer, der Druck lässt nach. Mit einem Mal kann ich ihn von mir runterrollen, ihn ganz von mir werfen; ich krieche unter ihm hervor.
Seine Augen sind im Schock glasig, er sieht zu uns beiden hoch, unsere Gesichter spiegeln unser Grauen. Langsam legt er eine Hand dahin, wo das Messer steckt, nahe seinem Herzen, und dann versteht er: wer ihm das angetan hat. Was er verpasst hat.
Das Blut ist dunkel auf dem Boden, sickert bereits in die Erde.
Weil sie zurückkam.