Kapitel Sieben

B lackstone wandte das Gesicht von dem scharfen Graupel ab und zog sich hoch, bis sein Fuß den nächsten Halt fand. Seine Hände waren vom kalten Wind schon ganz steif. Er bewegte sich langsam, tastete mit den Fingerspitzen nach etwas, woran er sich festkrallen konnte. Seine Hosen waren bereits am Knie aufgerissen, die Haut zerschrammt. Seine Augen brannten. Wie lange hatte er bis hierher gebraucht? Er schaute nach unten. John Jacob war zehn Fuß unter ihm und folgte dem Weg, den er vorgab. Blackstone war bewusst, dass der langsame, strapaziöse Aufstieg an ihren Kräften zehrte. Es hatte keinen Sinn, noch höher hinaufzuklettern. Sie hatten kaum fünfzig Fuß bewältigt, und ihnen lief die Zeit davon. Bald würde die Kolonne zum Stillstand kommen, wenn er und John Jacob nicht ein größeres Wagnis eingingen.

«John!»

Sein Knappe blickte auf, die Augen gegen den Graupel zusammengekniffen.

«Komm neben mich. Wir können nicht noch höher.»

John Jacob nickte, streckte eine Hand aus, fand einen Halt und zog sich hoch. Langsam schloss er zu Blackstone auf. Der bemerkte, dass die Hände seines Knappen schon blutig waren. Er schaute in die Richtung, wo sie seitwärts an der Felswand entlangklettern mussten, um hinter den Feind zu gelangen. Dann fiel sein Blick auf seine eigenen Hände, die an den Fels geklammert waren – sie sahen nicht besser aus als die seines Knappen. Wenigstens hatte die Kälte auch ihr Gutes, sie betäubte den Schmerz. John Jacob hatte ihn beinahe erreicht, da löste sich an der Stelle, wo er sich gerade festhalten wollte, ein Brocken aus der Felswand. Jacob drohte rücklings abzustürzen. Blackstone griff nach seinem fuchtelnden Arm, doch der entglitt ihm, bis er das Handgelenk zu fassen bekam. Blackstone packte mit aller Kraft zu. Seine Schultermuskeln fühlten sich an, als müssten sie zerreißen. Die Kraft in seinen Fingern ließ nach. John Jacob hing in der Luft, weder Hand noch Fuß hatten einen Halt. Er sah auf. Schüttelte den Kopf.

«Lass mich los, sonst reiße ich dich mit in den Abgrund. Lass los. Tu es!»

Blackstone schüttelte den Kopf. «Such einen Halt!»

Der Knappe streckte den freien Arm aus. Es fehlte ein kleines Stück. Blackstone spannte die Rückenmuskeln an. Er konnte das Handgelenk kaum noch halten. Sie hatten nur einen Versuch. Er nahm all seine Kraft zusammen, presste sich gegen den Berg und zog John Jacob in die Felswand. Der frei hängende Mann drehte und wand sich, sodass Blackstone noch mehr abverlangt wurde. Der spürte, wie seine nasse Hand von Jacobs Handgelenk abrutschte, dann glitten die Finger durch seine. John Jacob klammerte sich an den Fels, das Gesicht fest dagegen gepresst, rang nach Luft und stieß mit jedem Atemzug die Angst aus.

Er schaute Blackstone an und nickte.

Blackstone schob sich seitwärts an der Felswand entlang. Es war unmöglich abzuschätzen, wie lange es dauern würde, die zweihundert und mehr Schritt zurückzulegen, um hinter den Feind zu gelangen.

 

«Ich habe Sir Thomas aus den Augen verloren», rief Renfred.

«Wie weit war er gekommen?», fragte Longdon, den Blick fest auf die Männer gerichtet, die den Weg versperrten.

«Die halbe Strecke, vielleicht mehr.» Renfred trat geduckt neben den Bogenschützen. «Will, wir müssen den Abstand zwischen uns und denen halbieren. Im Schutz des Unwetters kann es gelingen. Du schießt, wir rennen und suchen uns eine neue Deckung. Dann warten wir, bis Sir Thomas hinter ihnen ist.»

Longdon zog noch eine Handvoll Pfeile aus seinem Sack. «Deine Männer sollen sich bereithalten.»

Nebel wirbelte aus der Schlucht herauf und mischte sich in den Graupel. Trotz der Entfernung waren die Gestalten hinter der Barrikade und dem Schildwall schemenhaft auszumachen, als der Wind den weißen Vorhang für einen Moment teilte. Ein Mann wagte es, sich aufzurichten. Eine schnelle Bewegung, und schon flog der Pfeil, den Longdon eben noch nicht einmal aufgelegt hatte, durch die Luft. Der Wind lenkte ihn ab, sodass er sein Ziel verfehlte und dicht neben dem Kopf des Mannes von der Barrikade aus Steinbrocken abprallte. Der Mann duckte sich rasch wieder.

Longdon fluchte, doch er vergeudete keine Zeit damit, sich über den launischen Wind zu ärgern. Pfeil auflegen, Bogen ausziehen, lösen. Pfeil auflegen, Bogen ausziehen, lösen. Die ersten zwölf, in rascher Folge abgeschossen, durchschlugen die feindlichen Schilde. Der Wind trug einen Schrei heran. Wenigstens einer der Gegner war getroffen. Als der zwölfte ellenlange Pfeil von der Sehne schnellte, brüllte Longdon den Männern zu: «Jetzt!»

Renfred rannte als Erster los. Sie mussten eine Spalte in der Felswand finden, die ihnen Schutz bot.

Doch es gab keine.

Hundertzehn Schritt vor Will Longdons Position warf Renfred sich auf den Boden, das Gesicht in den Schmutz gedrückt. Seine Männer hinter ihm taten es ihm gleich. Sollten die Armbrustschützen sie laufen gesehen haben, dann konnten sie jetzt nur hoffen, dass die Männer es nicht wagen würden, sich aufrecht hinzustellen, um auf die hilflos am Boden liegenden Gegner hinunterzuschießen.

Renfred schaute sich um und sah Will Longdon mit einer Handvoll Pfeile im Gürtel, den nächsten schon aufgelegt. Er stand geduckt, bereit, ebenfalls loszurennen. Wartete auf eine Gelegenheit, die nichtsahnenden Gegner zu töten. Wartete auf Blackstone.

 

John Jacob war nur drei Schritt hinter Blackstone. Mit den Füßen auf einem schmalen Felssims kletterten sie seitwärts, so schnell sie es wagen konnten, ohne den Halt zu verlieren. Die Brust an die Felswand gepresst, nutzten sie mit den Händen jeden dürftigen Halt, der sich ihnen bot. Von unten drangen Stimmen zu ihnen herauf. Männer schrien erschrocken auf, jemand rief, es gebe Verletzte. Unter den Angreifern müsse ein Bogenschütze sein. Der Graupel war inzwischen in Schnee übergegangen. Der Wind wurde immer stärker. Blackstone kletterte weiter, bis er zwanzig Schritt hinter den kauernden Männern war, dann begann er den quälenden Abstieg. Die Muskeln in seinen Armen und Beinen schrien förmlich. Er rutschte ab. Klammerte sich fest. Fluchte, als er sich die Haut an Bein und Hand noch mehr aufriss. Doch es war nichts. Eine Verletzung in der Schlacht verursachte ganz anderen Schmerz. Das hier war kaum mehr als ein Kratzer.

Er ließ sich die letzten sechs Fuß fallen, federte den Aufprall mit gebeugten Knien ab, und schon war seine blutige Hand am Griff des Wolfsschwerts. Es bedurfte keiner Worte. Es galt zu töten. Sie rannten los.

Ein Dutzend schnelle Schritte, und schon waren sie dicht hinter den Verteidigern. Plötzlich tauchte ein Mann aus dem Schneesturm auf. Er öffnete den Mund, da spaltete ihn der narbengesichtige Geist bereits von der Schulter bis zum Brustbein. Im nächsten Moment war John Jacob an dem Gefallenen vorbei. Stahl schepperte. Männer schrien. Blackstone war an seiner Seite. Sie schlugen und parierten, deckten sich gegenseitig, während sie tödliche Streiche austeilten, doch die Verteidiger fuhren herum und gingen wild entschlossen zum Gegenangriff über. Bald würden sie beide überwältigt werden. Im Schneesturm konnten sie kaum die Männer direkt vor sich erkennen. Es war unmöglich auszumachen, von wo der nächste Angriff kommen würde. Dann übertönte trotziges Geschrei den heulenden Wind – Renfred führte seine Leute über die Barrikade.

Auf dem schmalen Weg war kaum Platz zum Kämpfen. Die Männer waren einander so nah, dass sie nicht einmal ihre Schwerter schwingen konnten. So gingen sie im Nahkampf mit Messer, Axt und Streitkolben aufeinander los. Schlugen die Gegner mit Fäusten bewusstlos. Andere wurden zurückgedrängt, vom Pulk getrennt. Immer näher an den Rand des Abgrunds gezwungen. Mancher verlor das Gleichgewicht und stürzte über die Kante, und ihre Schreie gingen im Heulen der Bestie unter, die durch die Schlucht tobte, Schnee vor sich hertreibend.

Dann belohnte das Schicksal Blackstones Wagemut. Es hörte auf zu schneien. Die Wolken verzogen sich, für kurze Zeit wurde zwischen den Gipfeln der Himmel sichtbar. In plötzlicher Klarheit bot sich ein grausiges Bild: Der Boden war blutgetränkt, Leichen lagen kreuz und quer. Ein paar der Feinde schleppten sich auf allen vieren davon, tödlich verwundet.

Will Longdon saß auf der Barrikade und wischte sein Bastardschwert an der Tunika eines getöteten Gegners ab. «Thomas, hier war mein Kriegsbogen ausnahmsweise kaum zu etwas nutze. Manchmal taugt geschliffener Stahl doch besser.»

Blackstone betrachtete die sieben Toten, die von Pfeilen durchbohrt dalagen. Unter solchen Bedingungen eine herausragende Leistung. «Ja, du solltest zusehen, dass du auch mit dem Schwert in Übung bleibst, Will.»

Renfreds Männer gaben den verwundeten Gegnern den Rest und stießen ihre Leichen zusammen mit den übrigen in den Abgrund.

«Wie viele Männer haben wir bei dem Angriff verloren?», erkundigte Blackstone sich bei Renfred.

«Drei.»

«Wen?»

«Bartholomew, Dene und Tricart.»

«Gute Männer, die für eine schlechte Sache ihr Leben lassen mussten», bemerkte Blackstone. Sie hatten seit drei Jahren und länger in Renfreds Kundschaftertrupp gedient. Der deutsche Hauptmann würde den Verlust spüren.

«Wir binden sie auf ihre Pferde und begraben sie, wenn wir über die Berge sind», entschied Blackstone.

Die Männer räumten die Barrikade weg, während Will Longdon die Pfeile einsammelte, die noch zu gebrauchen waren. Der Himmel verdüsterte sich bereits wieder. Finstere Wolken zogen heran. Blackstone spürte den auffrischenden Wind im Gesicht. Ein Rinnsal Blut lief ihm aus einer Kopfwunde über die Stirn in seinen Bart. Der Wind trieb es ihm aus dem Gesicht.

«Ich sehe, Thomas, ich werde wieder mal Nadel und Faden hervorholen müssen.»

«Du hast nur sieben mit dem Bogen erlegt, Will. Mir scheint, die lange Zeit in der Küche des Château de Langoiran hat dir nicht gutgetan.»

«Ich habe blind geschossen.»

Blackstone nahm eine Handvoll Schnee vom Boden auf und drückte ihn an seine Kopfwunde. «Wenn du wieder sehen kannst, darfst du meine Wunde nähen.»