D ie Kolonne folgte Blackstone vorsichtig über den schmalen Pfad. Killbere traf mit Blackstones Männern ein, die ihre Pferde am Zügel führten und sich dabei zwischen den Tieren und der Felswand hielten. Falls ein Pferd scheute, sollte es seinen Reiter nicht mit in den Abgrund reißen. Killbere betrachtete den blutfleckigen Schnee, der seine eigene Geschichte erzählte.
«Wie viele haben wir verloren?», fragte der alte Ritter mit lauter Stimme, um den Wind zu übertönen.
«Vier», antwortete Blackstone.
«Und wie viele haben wir getötet?»
«Sechsundzwanzig. Wahrscheinlich ein paar mehr – als wir angriffen, sind einige über die Kante gestürzt.»
Killbere wischte sich mit dem Ärmel den Rotz ab, der ihm aus der Nase lief. «Dann haben wir keinen allzu hohen Preis gezahlt», bemerkte er. «Wie schlimm sieht es vor uns aus?»
«Renfred ist wieder kundschaften gegangen. Noch zwei Stunden, dann erreichen wir den höchsten Punkt. Von da an wird der Weg breiter. Sie haben die Stelle für den Hinterhalt geschickt gewählt.»
«Chandos und John of Gaunt kommen nach», sagte Killbere, der gegen die beißende Kälte und das Schneegestöber die Schultern hochgezogen hatte. «Der Prinz bleibt auf der französischen Seite des Passes, bis das Wetter aufklart.»
«Da kann er Tage warten», prophezeite Blackstone. «Schnee und Graupel werden nicht über Nacht aufhören. Das heißt, ich muss umkehren, um ihn zu holen. Verdammt! Ich hätte nie gedacht, dass mal der Tag kommt, an dem ich für ihn die Amme spielen muss.»
«Thomas, meine Eier schmerzen. Meine Lunge fühlt sich an, als würde ich Glasscherben atmen. Bei diesem teuflischen Wind kann ich kaum was sehen. Das Schneetreiben ist der reinste Hexenkessel. Können wir das später bereden, wenn ich nicht mehr kurz davor bin zu sterben?»
Blackstone deutete in die Richtung, wo John Jacob und Will Longdon mit ihren Pferden warteten. «Wir gehen über den Pass und dann runter ins Tal. Dieser Hinterhalt hat uns kostbare helle Stunden gekostet.»
Killbere war zu vergrätzt, um sich lobend zu Blackstones Erfolg zu äußern. Er zog sein Pferd hinter sich her. «Dann warst du wohl zu langsam, Thomas. Mir scheint, du wirst allmählich alt.»
Ihnen blieben noch vier Stunden Tageslicht. Blackstone steigerte das Tempo, damit die Männer weiter hinten in der Kolonne noch vor Einbruch der Dunkelheit über die Berge kamen.
Das Heulen des Windes klang wie gequälte Seelen: Unheilvolle Klagelaute verlorener Geister, die Pferde in Schrecken versetzten und Männer dazu brachten, Gebete vor sich hin zu murmeln, während sie mit der Witterung und ihren schwer bepackten Reittieren kämpften. Auf dem unebenen Grund stolperten immer wieder Männer und verloren die Kontrolle über ihre Rosse, die scheuten und unter panischem Wiehern in die Tiefe stürzten. Wer zusammenbrach und nicht mehr weiterkonnte, wurde zum Sterben zurückgelassen. Die Kolonne durfte nicht aufgehalten werden. Endlich überwanden sie den höchsten Punkt, und zum Glück wurde der Weg von hier an tatsächlich breiter. Jetzt gingen die Männer im Windschatten ihrer Pferde, sodass die mächtigen Leiber der Tiere sie gegen heftige Böen und Schneegestöber abschirmten. Unter sich sahen sie auf den zerklüfteten Felsen die zerschmetterten Leichen derer, die bei dem Hinterhalt umgekommen waren. Je weiter die Soldaten hinabstiegen, umso mehr beruhigte sich das Wetter. Die nebelverhangenen Gipfel waren ein gefahrvoller, lebensfeindlicher Bereich gewesen, und wenn die Männer nun Blicke über die Schulter auf die lange Kolonne hinter sich warfen, sahen sie gespenstische, erschöpfte Gestalten, die eben erst der Gewalt der Berggötter entkamen.
Die tiefer gelegenen Hänge waren weniger kahl, statt schroffer Felsen gab es hier Wald, und die Berge gingen allmählich in sanftes Hügelland über. Der Schnee wich Regen, und während die durchnässten Männer wieder aufsaßen, trösteten sie sich mit dem Gedanken, dass sie die Berge lebend hinter sich gebracht hatten. Als sie nach und nach die Talsohle erreichten, ritten Blackstones Leute neben der Kolonne auf und ab, um sie weiter anzutreiben. Sie durften jetzt nicht anhalten, denn sie mussten den Weg für die Hunderte hinter ihnen freimachen, die den Abstieg noch vor sich hatten.
«Thomas!», rief Will Longdon und ritt in leichtem Galopp auf ihn zu. «Reiter. Hunderte.» Er zerrte an den Zügeln. «Renfred sagt, sie zeigen Banner und Wimpel. Wenn es Trastámara ist, kann er uns hier in offenem Gelände überrumpeln. Wir sind wie ein Haufen Bauern mit Bauchgrimmen auf der Suche nach einer Latrine.»
«Wie weit sind sie noch entfernt?», wollte Blackstone wissen.
«Sie werden vor der Dunkelheit hier sein.»
«Fünfzig Bogenschützen und ebenso viele Waffenknechte werden sie nicht aufhalten, Thomas», sagte Killbere. «Sie werden durch unsere Reihen hindurchreiten und uns umzingeln. Wir sind völlig ungeordnet.»
«Gilbert! Das spielt keine Rolle. Bring unsere Männer in Formation. Will, du kommst mit mir. Halfpenny weiß, was er zu tun hat.» Blackstone wendete rasch das Bastardpferd und ritt mit Longdon im Galopp an der Kolonne entlang nach hinten, wo Chandos und John of Gaunt ihre Männer anführten. Die beiden Befehlshaber sahen aus, als hätten sie eine Woche lang nicht geschlafen, und ihre angespannten Mienen zeugten von dem strapaziösen, gefahrvollen Weg, der hinter ihnen lag.
«Meine Herren, ich brauche Eure Bogenschützen. Bewaffnete Männer reiten in hohem Tempo auf uns zu», sagte Blackstone ohne Umschweife.
Der jüngere Bruder des Prinzen verzog das Gesicht – Blackstone hätte nicht sagen können, ob über die Forderung oder wegen seines nassen Sattels. «Ich befehlige meine Bogenschützen, ich allein und kein anderer.»
Blackstone bändigte mit Mühe das Bastardpferd, das mit seinen gelben Zähnen nach John of Gaunts prächtigem Renner schnappen wollte. Der scheute. Der Bruder des Prinzen hielt sich im Sattel, wenn auch nur mit Mühe.
«Mein Bruder hat mich in Bezug auf Euch schon vorgewarnt. Ihr seid respektlos. Euer Pferd ist bösartig und verdient die Peitsche.»
«Wer Hand an mein Pferd legt, wird diese Hand verlieren. Ich brauche Eure Bogenschützen jetzt. Wenn es feindliche Reiter sind, die da nahen, bleibt uns nicht genug Zeit, Gefechtslinien zu bilden. So können meine Männer ihnen nur kurze Zeit standhalten. Reitet mit mir oder überlasst mir Eure Männer.»
John of Gaunt war für seine Vorliebe für Prunk und Pomp berühmt, und daraus erwuchs Arroganz. Aufgrund seiner Stellung in der königlichen Familie war er unanfechtbar der nächste Kriegerprinz nach Edward. Angesichts von Blackstones Unverschämtheit fiel ihm die Kinnlade herunter. Ehe er sich wieder gefasst hatte, lenkte Sir John Chandos sein Ross zwischen ihn und Blackstone.
«Herr, ich würde Sir Thomas mein Leben anvertrauen und habe es bereits bei mehr als einer Gelegenheit getan. Und wenn dies eine weitere solche Gelegenheit ist, dann würde ich seiner Bitte entsprechen. Gebt ihm Eure Bogenschützen.»
«Das nennt Ihr eine Bitte, Sir John? Es war wohl eher eine Forderung.»
John of Gaunt blieb kaum die Zeit, den Blick von dem berühmten Kommandeur zurück auf Blackstone zu richten und mit einem Kopfnicken sein Einverständnis zu geben. Will Longdon hatte bereits wieder sein Pferd angetrieben und ritt auf die lang gezogene Reihe der Bogenschützen zu, die vom Berg herabstiegen.
Blackstone wendete ohne ein Wort des Dankes sein streitbares Ross, um sich wieder Killbere anzuschließen.
Eine kleine Weile später kehrte Longdon mit den ersten zweihundert Bogenschützen zurück, die den Fuß des Berges erreicht hatten. Sie banden ihren Pferden die Beine zusammen, dann rannten sie zu Blackstone, der mit seinen Männern eine Verteidigungslinie gebildet hatte. Die starken Böen hatten nachgelassen, und die Männer hatten den Wind jetzt im Rücken. Das verschaffte den Pfeilen der Bogenschützen zusätzliche Reichweite.
Longdon befahl den beiden Centenaren, die ihre Männer hergeführt hatten, in Stellung zu gehen. Hundert Mann an jeder Flanke. Seine eigenen Leute standen zwischen Blackstones Männern. Von den Bogenschützen aus Cheshire, die John of Gaunt mitgebracht hatte, kam kein Widerspruch. Unter den einfachen Kriegern stand Blackstones Name in hohem Ansehen.
«Dort sind Renfred und seine Männer», rief Jack Halfpenny.
Killbere blinzelte ins Zwielicht. «Spürst du das, Thomas? Die Erde bebt. Da kommen noch mehr als nur Renfred und sein Kundschaftertrupp.»
Renfred führte seine Männer hinter Blackstones Gefechtslinien. «Ich konnte nicht erkennen, wer es ist, Sir Thomas. Sie reiten in leichtem Galopp.»
Das Tal erstreckte sich mehrere Hundert Schritt weit vor ihnen, dann verdeckte ein Gebirgsausläufer teilweise die Sicht. Bald würden die herannahenden Männer dahinter zum Vorschein kommen. Blackstone schaute sich um. Chandos und John of Gaunt waren noch immer weit hinter ihnen und brachten nun ebenfalls ihre Männer in Formation. Eine Armee zu versammeln, dauerte seine Zeit. Hier ging es zwar nur um zwei Kommandeure und ihre Männer, aber sie würden dennoch nicht rechtzeitig bereit sein, falls der Feind sofort zum Angriff überging. Plötzlich drehte der Wind und wehte Nebel von den Bergen herab. Schon konnte man nur noch fünfhundert Schritt weit sehen, und bald würden die wartenden Männer in Dunst eingehüllt sein.
«Will!», brüllte Blackstone. «Schießt, sobald ihr könnt. Wer immer da kommt, wird sein Tempo verringern, wenn er einen Wald aus Pfeilen aus dem Boden aufragen sieht.»
In der Ferne waren jetzt graue Schemen auszumachen. Reiter kamen um den Gebirgsausläufer herum in Sicht, fünfzig nebeneinander, sechs Reihen tief. Wimpel und Banner flatterten so heftig im Wind, dass man sie nicht erkennen konnte. Blackstone sah, wie Will Longdon vor die vorderste Reihe trat, damit die Bogenschützen ihn sehen und hören konnten. «Pfeil auflegen! Bogen ausziehen!»
Die Männer bogen die Rücken durch, muskulöse Arme zogen die starken Bogen aus.
«Lösen!»
Der Anblick der Pfeile, die wie eine Wolke hoch aufstiegen und dann niedergingen, zog wie immer die Blicke der Krieger an. Blackstone und Killbere legten den Kopf in den Nacken und hörten das Geräusch der Schäfte wie ein Flüstern. Blackstone spürte, wie ihm der Mund wässrig wurde. Es war wie die Begierde nach einer Frau. Er fühlte sich in die Zeit zurückversetzt, da er selbst in den Reihen der Bogenschützen gestanden hatte, er erinnerte sich an das Gefühl, wenn Angst sich mit dem Verlangen mischte, zu töten und selbst zu überleben. Unwillkürlich griff er nach dem Talisman an seinem Hals. Arianrhod, die Göttin des silbernen Rades: eine schlichte Frauengestalt in einem Rad aus Silber, die Arme erhoben, die Hände über dem Kopf zusammengelegt. Sie beschützte den Träger in diesem Leben und begleitete seine Seele ins Jenseits, wenn die Zeit gekommen war. Ein sterbender Bogenschütze hatte ihm das Medaillon einst geschenkt, als Blackstone ein sechzehnjähriger Bogenschütze gewesen war, der in den Straßen von Caen kämpfte. Neben der heidnischen Gottheit hing das kleine Kruzifix von Blackstones verstorbener Frau. Blackstone hob es an die Lippen. Die Vergangenheit begleitete ihn ständig. Ebenso wie seine Liebe zu ihr.
Die Reiter waren bis auf fünfhundert Schritt heran, als die Pfeile vor ihnen niedergingen. Blackstones Männer glaubten zu hören, wie sich die Spitzen in die Erde bohrten. Die vordersten Reiter zügelten abrupt ihre Rosse. Befehle zum Anhalten wurden gebrüllt. Verwirrung ergriff von Mensch und Tier Besitz. Die nachfolgenden Pferde brachen zwischen denen hindurch, die zum Stehen gekommen waren, dann zerrten auch ihre Reiter an den Zügeln und rissen die Köpfe der Tiere herum. Der Ansturm war zum Stillstand gekommen, und sie waren noch immer außer Reichweite der Bogenschützen.
Blackstone beobachtete das Chaos. Die Reiter trugen Wappenröcke über Kettenhemden, und als sie sich bald in diese, bald in jene Richtung wandten, konnten die Wartenden ihre Banner ausmachen.
«Herr im Himmel», stieß Killbere hervor und spuckte aus. «Ein Jammer, dass sie nicht in Reichweite gekommen sind.»
«Dann würden wir jetzt in der Scheiße stecken», erwiderte Blackstone. Er ging den Reitern entgegen, einen Arm erhoben zum Zeichen, dass er in friedlicher Absicht kam. Killbere und John Jacob begleiteten ihn. «Denn unser Prinz wäre gar nicht erfreut gewesen, wenn wir den König von Navarra getötet hätten.»