H enry beschleunigte seinen Schritt und bog in eine schmale Gasse ein. Nach Jahren in Oxford waren der Student und sein Beschützer mit den Abkürzungen und Schleichwegen der Stadt vertraut. Hugh Gifford nutzte sie als Fluchtwege, um seinen kampflustigen Schützling notfalls auch gegen dessen Willen in Sicherheit zu bringen, wenn Streitereien aus dem Ruder liefen und der junge Mann in Gefahr war, ernsthaft verletzt zu werden. Zehn Minuten, nachdem er sich in seiner Kammer von dem nackten Mädchen verabschiedet hatte, betrat Henry das Merton College.
Ein Sekretär schaute aus einer Tür, als er ihre Schritte hörte. Er hob eine Hand. «Wartet hier.»
«Sollte das hier schlecht ausgehen, landest du im Burgverlies», prophezeite Gifford. «Wenn der Warden erfährt, dass du mit seiner Nichte im Bett warst, wird es dir nichts nutzen, dass mein Herr Warwick und der König schützend ihre Hände über dich halten.»
«Wie sollte er denn davon erfahren?»
«Vielleicht hat die Dienerin des Mädchens es ihm hinterbracht. Es kann sich für eine Bedienstete lohnen, ihre Herrin zu verraten.»
«Dann musst du einen Fluchtplan schmieden, Hugh. Falls die Büttel im Raum sind, schlage ich vor, wir fliehen über die Stadtmauer, dann querfeldein über das Grasland und suchen uns eine Stelle, wo wir den Fluss überqueren können.» Henry de Sainteny grinste. «Hugh, du brauchst dir keine Sorgen zu machen. Es geht doch nur um die Berichte meiner Tutoren, weiter nichts.»
Ehe Gifford noch etwas erwidern konnte, öffnete sich die Tür, und die beiden wurden hereingerufen.
Der Warden des Merton College saß hinter seinem Schreibtisch und blickte auf. Seit de Sainteny an die Universität gekommen war, wurde er stets von seinem bewaffneten Beschützer begleitet. Anfangs hatte man diese Maßnahme hinterfragt, doch der Warden hatte nichts weiter erfahren, als dass in Avignon bereits ein Mordanschlag auf den jungen Mann verübt worden sei. Nun, da er sich von seinen Verletzungen erholt hatte, brauche er Schutz, hieß es. Selbst in der Gegenwart des Warden?, hatte er gefragt. Selbst da. Folglich musste der Jüngling wohl eine bedeutende Person sein. Warden Durant kümmerte es nicht weiter. Die Gebühren wurden gezahlt. Und ohnehin machte es keinen Unterschied, wenn der Waffenknecht mit der gebrochenen Nase im Hintergrund an der Wand Aufstellung nahm, während de Sainteny aufgefordert wurde, näher zu treten. Üblicherweise fanden alle Unterredungen auf Latein statt, und William Durant wusste, dass Gifford der Sprache nicht mächtig war. De Sainteny hatte sie schon beherrscht, bevor er nach Oxford gekommen war, und nun brachte er seine Entschuldigung vor.
Henry neigte den Kopf. «Master Durant, ich bitte um Verzeihung für meine Unpünktlichkeit.»
«Wie ich hörte, wart Ihr in Eure Studien vertieft», erwiderte Durant. Er breitete die Berichte vor sich auf dem Tisch aus, dann hob er kurz den Blick zu dem jungen Mann, der mit gesenktem Kopf vor ihm stand. «Was genau habt Ihr denn studiert, Master de Sainteny?»
«Ptolemäus’ Almagest , Warden.»
Durant starrte ihn an. Henry beschlich leise Unsicherheit. Sein Instinkt sagte ihm, dass Durant ihm nicht glaubte. Hatte er die Frage allzu geflissentlich beantwortet? War seine Antwort zu prompt gekommen?
«Ich höre immer wieder, dass Ihr anderweitige Interessen verfolgt», sagte Durant. «Abseits des Studiums gelehrter Schriften. Und ich bin nicht erfreut darüber.»
Henry blickte fest und ohne zu blinzeln in das strenge Gesicht des Warden, doch bei dessen nächsten Worten entspannte er sich wieder.
«Ihr verbringt noch immer zu viel Zeit in Wirtshäusern, Master de Sainteny. Sogar immer mehr Zeit. Und Ihr und Euer Beschützer übt Euch nach wie vor im Schwertkampf, wie schon seit Jahren. Das geziemt sich nicht für einen Gelehrten.»
«Master Durant, da es verboten ist, innerhalb der Stadtmauern ein Schwert zu tragen, gehen wir hinaus in die Wiesen und Wälder.»
Durants Blick glitt nun wieder über die Seiten mit den Berichten von Henrys Tutoren. «Ihr steht im Verdacht, Euch auf Wirtshausschlägereien mit Stadtvolk einzulassen und an Verfolgungsjagden und Kämpfen in Hintergassen beteiligt gewesen zu sein. Die Büttel haben keine handfesten Beweise, aber man hat Euch im Auge. Ihr lauft Gefahr, verhaftet zu werden. Ich warne Euch, derlei wird hier nicht geduldet.»
Henry senkte wieder den Kopf, um angemessen zerknirscht zu wirken.
William Durant ordnete die ausgebreiteten Berichte. «Abgesehen davon loben Eure Tutoren wieder einmal Eure Auffassungsgabe und Eure Kenntnisse, aber wir sind einhellig der Ansicht, dass Ihr allzu selbstgewiss seid. Und es hat den Anschein, dass Ihr nur ein Mindestmaß an Aufwand treibt, was bereits genügt, um nahe an die Leistungen der besten Studenten heranzureichen.» Er seufzte. Henrys Werdegang an der Universität erzählte eine wohlbekannte Geschichte. «Grammatik, Rhetorik, Dialektik, Arithmetik, Astronomie.» Wieder seufzte er. «Stets genügt Ihr gerade den Ansprüchen. Würdet Ihr Euch mehr anstrengen, dann könntet Ihr ein herausragender Student sein.»
«Danke, Master Durant. Mir fällt das Studium wirklich nicht leicht», log Henry.
Der Warden beugte sich vor. «Wir hatten gehofft, da Ihr aus Avignon zu uns kamt, wo der Papst residiert, würdet Ihr Euch vielleicht zum Studium der Theologie oder des Kanonischen Rechts hingezogen fühlen, aber die Kirche wäre wohl kaum so nachsichtig wie wir hier. Wir denken daher, Eure Zukunft könnte im gemeinen weltlichen Recht liegen. Wer seine Gaben gezielt nutzt, für den tun sich Möglichkeiten auf. Ihr könntet nach Bologna gehen. Die dortige Universität ist berühmt für ihre Rechtsgelehrten. Andererseits, wenn Ihr in Oxford bleibt und Euch eifriger Euren Studien widmet, könntet Ihr auch den Grad des Magister regens erwerben und für zwei Jahre hier lehren. Oder Ihr könntet Hofmeister eines Edelmannes werden, dem Gericht vorsitzen und den Grundbesitz verwalten. Ein angesehenes Amt und ein würdiges Resultat für jene, die Euch das Studium hier ermöglichen.»
«Danke, Master Durant. Ich bin mir noch nicht darüber im Klaren, wohin das Schicksal mich führen wird.»
William Durant nickte zum Zeichen, dass die Unterredung beendet war. Henry ging zur Tür. Gifford trat bereits auf den Korridor hinaus.
«Master de Sainteny», rief Durant.
Henry wandte sich um.
Gifford hörte, wie Durant etwas zu Henry sagte, der dem Warden zunickte und die Tür hinter sich schloss.
«Gibt es Ärger? Worüber habt ihr da drin überhaupt geredet?»
«Dass ich zu viel trinke und mich im Schwertkampf übe. Ich soll eifriger studieren. Er sagt, ich könnte Hofmeister bei einem Edelmann werden. Ich kann mir nichts Schlimmeres vorstellen.»
«Nichts von dem Mädchen?»
Henry schüttelte den Kopf.
«Er hat dich an der Tür noch einmal zurückgehalten. Was hat er da gesagt?»
«Fato prudentia major.»
Gifford runzelte die Stirn.
«Die Vernunft ist stärker als das Schicksal», übersetzte Henry.
«Dann weiß er vielleicht doch Bescheid und will dich warnen. Du solltest dir die Sache mit diesem Mädchen noch einmal überlegen, bevor dir das Schicksal einen Dolch in den Rücken stößt. Ein gedungener Mörder findet sich jederzeit.»
«Nein, darum geht es nicht. Der Warden meint, ich soll durch Studium und logisches Denken meine Bestimmung finden.»
«Und was heißt das?»
«Es heißt, ich habe Durst, und meine Bestimmung ist, im Wirtshaus zum Bären zu trinken.»