D ie volle Wucht eines Sturms auf dem nördlichen Atlantik hatte die Nicholas , eine Kogge von dreißig Tonnen, getroffen, als sie um die Landspitze des Finistère segelte. Das kleine Schiff kämpfte gegen den tosenden Wind an, während die fünfzehn Matrosen das zum Zerreißen gespannte Segel einholten. Vier Männer gingen über Bord, als eine gewaltige Woge die Kogge beinahe zum Kentern brachte. Das aufgewühlte Meer trieb das hilflose Schiff immer näher an die felsige Küste. Schreie gingen im Heulen des Windes unter, und Blut floss über das schwankende Deck, da Matrosen von herabfallenden Spieren zerschmettert wurden. Henry und Gifford hatten sich ihre Schwerter auf den Rücken geschnallt, als die ersten größeren Wogen den kleinen Kahn wie eine Nussschale in die Höhe hoben und dann ins Wellental hinabstürzen ließen. Zur Sicherheit hatten sich die beiden mit Stricken festgebunden. Doch dann wurde die Kogge mit grauenerregendem Knirschen auf Felsen geworfen, die spitz wie Sägezähne waren, und Matrosen wurden in das brodelnde Wasser geschleudert. Da erkannten die beiden, dass die Stricke ihnen leicht zum Verhängnis werden konnten – wenn die Kogge sank, würden sie mit ihr untergehen.
Also schnitten sie sich los und klammerten sich stattdessen an, wo immer sie Halt fanden. Sie waren noch eine halbe Meile vom Ufer entfernt, als das Deck sich erneut hob und ein heftiges Schlingern sie ins Wasser warf. Gifford sah, wie sein junger Schützling durch die Luft geschleudert wurde und zwischen weißer Gischt in der aufgewühlten See verschwand. Gleich darauf wurde auch er unter Wasser gezogen. Er wand sich und kämpfte hilflos gegen die Gewalt des Meeres an, stieß mit den Beinen an einen Felsen, dann mit der Schulter. Er drückte sich kräftig mit den Füßen ab, durchbrach endlich die Oberfläche und rang nach Luft. Salzwasser brannte ihm in den Augen. Da sah er Henry Blackstone mit dem Gesicht nach unten in der bewegten See treiben. Gifford warf sich nach vorn, ohne auf seine Verletzungen zu achten, und bekam den jungen Mann am Gürtel zu fassen. Mit der Kraft eines Kriegers drückte er den schlaffen Körper mit beiden Armen an sich wie ein Kind und ließ sich mit ihm von den Wellen in Richtung Ufer treiben. Brusttief im Wasser, wurde Gifford von der Brandung gegen glatt geschliffene Felsen gespült. Er fand eine Spalte; die Strömung drückte noch immer gegen seine Beine, aber die Felsen boten einen gewissen Schutz vor der Gewalt des Wassers. Gifford hielt Henry aufrecht und ohrfeigte ihn mehrmals. Henrys Kopf hob sich mit einem Ruck. Seine Augen öffneten sich. Er erbrach einen Schwall Salzwasser über seinen Retter. Vom Tosen der Brandung taub, sah er nur, wie Gifford den Mund öffnete und schloss. Henry schüttelte den Kopf.
«Atme, Junge! Atme!»
Endlich hörte Henry seinen Beschützer, nickte und sog Luft ein, mit einer Hand an dem Felsen abgestützt. «Es geht schon wieder. Alles in Ordnung.»
Henry klammerte sich an Gifford, als eine Welle den stämmigen Waffenknecht anhob und ihn davonzutragen drohte, den Felsen am Ufer entgegen. Dort erhoben sich hinter dem Strand Sanddünen, und zwischen Büscheln zähen Grases war ein Pfad zu erkennen. Henry strebte ans Ufer, doch Gifford hielt ihn zurück.
«Nein!» Er zeigte mit dem Finger.
Eine Fischerbarke lag auf den Strand gezogen, und dahinter sammelte sich im seichten Uferwasser Treibgut. Landvolk lief von den Dünen herab auf den Strand, um einzusammeln, was von Wert war. Wäre die Kogge auf dem Rückweg von Bayonne gewesen, dann hätte sie Fässer mit Gascognerwein an Bord gehabt. Doch so, wie die Dinge lagen, gab es nicht viel zu erbeuten. Drei Männer von der Besatzung der Kogge schleppten sich zweihundert Schritt von Henrys Platz hinter den Felsen stolpernd an Land. Die Fischer schlugen die verletzten Schiffbrüchigen nieder und töteten sie mit Knüppeln und einem Falchion. Frauen fledderten die Leichen, während die Männer Taue, Holz und alles, was sonst von dem Wrack noch zu gebrauchen war, aus dem Wasser bargen.
Henry und Gifford warteten, zitternd in eiskaltem Wasser und Wind. Ein Regenschauer zog über sie hinweg, die Tropfen prasselten auf den Sand. Das Unwetter gewann erneut an Kraft, der Himmel verfinsterte sich. Als schließlich die Sonne untergegangen war und der Mond durch die dahinjagenden Wolken brach, war in seinem kalten Licht zu sehen, wie die letzten Männer ihre Beute über den Pfad davonschleiften.
«Komm», sagte Henry. «Dort irgendwo muss ein Dorf sein.»
Sie wateten ans Ufer, hielten sich aneinander fest, damit der Sog der Unterströmung sie nicht umriss. An Giffords Beinen war die Haut abgeschürft. Blut sickerte in seine Stiefel. Seine Rückenmuskeln hatten einen heftigen Stoß abbekommen, aber es war nichts gebrochen. Henry hatte keine sichtbaren Verletzungen und war insgesamt besser bei Kräften. Endlich erreichten die beiden den Strand.
Peitschender Regen prasselte auf sie ein, doch sie waren froh, dass das eisige Wasser ihnen das Salz abwusch. Sie hoben die Gesichter und fingen mit dem Mund Regentropfen auf. Zwischen den vom Wind getriebenen Wolken kam immer wieder der Mond zum Vorschein. Er beschien die nackten Leichen der drei Seeleute, ehe gleich darauf die Dunkelheit sie wieder verbarg.
«Wir haben Wind und Regen im Rücken», stellte Henry fest. «Wir brauchen etwas zu essen und zu trinken, und deine Wunden müssen verbunden werden. Mir scheint, diese Dorfleute verdienen keine Milde», fuhr er fort und schnallte sich das Schwert wieder um die Hüften. «Kannst du mithalten?», fragte er und wies mit einer Kopfbewegung auf Giffords geschundene Beine.
«Geh nur voran, ich folge dir, Master Henry.»
Sie stapften den sandigen Pfad hinauf. Vom Dünenkamm aus sahen sie mehrere Hundert Schritt entfernt den Schein eines Feuerbeckens. Ein Dutzend Hütten stand dicht an dicht im Lee der Dünen. Auf einer von Fackeln erhellten freien Fläche sortierten die Männer ihre Ausbeute.
«Bettelarmes Landvolk», stellte Gifford fest. «Sie besitzen höchstens ein paar Schweine. Hier in der Gegend wird kaum etwas wachsen. Das, was sie am Strand eingesammelt haben, werden sie gegen Essen eintauschen.»
«Hast du etwa Mitleid mit ihnen?», fragte Henry.
«Ich sehe ihre Bedürftigkeit», erwiderte Gifford.
«Sie hätten den Seeleuten helfen können, statt sie zu erschlagen.»
Gifford zuckte die Achseln. «Das stimmt allerdings. Sollen wir sie alle töten?»
«Nur die, die es nicht anders wollen», antwortete Henry und ging auf das Dorf zu, das Schwert in der Hand.