Kapitel Fünfzehn

D ie Dorfbewohner sahen nicht, wie die zwei Überlebenden aus der Dunkelheit auf sie zukamen. Ein paar Dorfhunde mit herausstehenden Rippen erhoben sich knurrend und bellend von ihrem geschützten Platz neben einer Hütte. Drei Männer standen mit dem Rücken zu Henry und Gifford. Sie drehten sich um. Henry versetzte dem, der ihm am nächsten war, einen Faustschlag, während Gifford sein Schwert auf die zwei daneben richtete. Henrys Schlag streckte den Mann nieder. Er war bewusstlos, ehe er auf dem Boden aufschlug. Der plötzliche Angriff ließ die beiden anderen erstarren.

«Ihr tötet unschuldige Menschen. Opfer der See. Erwartet keine Gnade», drohte Henry. «Helft uns, dann bleibt ihr am Leben. Wendet euch gegen uns, und wir werden euch töten, eure Frauen, eure Kinder und sogar diese knurrenden Hunde hier.» Plötzlich stiegen Erinnerungen an seinen Vater in ihm auf, und seine Kehle wurde eng. Dass er hier Todesdrohungen aussprach, kam daher, dass er als Junge unter Kriegern gelebt hatte.

Die Männer wichen zurück. Eine in Lumpen gekleidete junge Frau trat hinter einer Rübenmiete neben ihrer Hütte hervor. Sie blieb wie angewurzelt stehen, die Arme voller Rüben, und starrte die Eindringlinge mit offenem, zahnlosem Mund an.

Gifford machte eine Geste mit seinem Schwert. Sie kam näher.

«Wie viele Leute leben hier?», fragte Henry, an den nächsten Mann gerichtet.

«Herr, wir sind neun Männer – die, die Ihr hier seht –, sieben Frauen und elf Kinder.»

Der eingeschüchterte Dorfbewohner wirkte ebenso drahtig und muskulös wie seine Gefährten. Wenn sie darauf aus wären, Kleidung und Waffen der Eindringlinge zu erbeuten, dann könnten sie sie in einem plötzlichen Angriff überwältigen, das war Henry klar. Hinter einer Tür aus Flechtwerk war ein Licht zu sehen. Andere Türen waren mit Schweinehäuten bespannt. Aus Abzugslöchern in den Dächern der Hütten drang Rauch. Fisch hing zum Trocknen an Gestellen und schaukelte, als der Wind drehte. Henry roch Essen. Ein Schuppen mit Brennholz bot Schutz vor dem Regen.

«Bringt uns zu essen und zu trinken. Gibt es hier ein altes Weib, das Wunden versorgen kann?»

Der Mann nickte.

«Holt sie her. Bringt sie und das Essen zu dem Schuppen. Die Männer bleiben alle hier draußen stehen, wo wir sie sehen können.»

Die Dorfbewohner wichen weiter zurück, während Henry und Gifford um das Feuerbecken herumgingen und sich auf einen Hackklotz setzten, mit dem Rücken an das aufgeschichtete Brennholz gelehnt, sodass sie das Gelände gut überblicken konnten. Der Dachüberhang schützte sie einigermaßen vor dem Regen. Die Männer standen da und beobachteten sie, wobei sie die eisigen Windböen gar nicht wahrzunehmen schienen. Die Hunde schlichen geduckt näher an die Fremden heran, um ihre Witterung aufzunehmen. Als Gifford ein Holzscheit nach ihnen warf, liefen sie auseinander.

«Diese Leute dienen sicher einem Edelmann hier in der Gegend. Nicht, dass ich etwa eine Ahnung hätte, wo wir hier sind», sagte Gifford. «Aber wenn es doch mehr als neun sein sollten und sie laufen, um Hilfe zu holen, könnten wir es hier schon bei Tagesanbruch mit bewaffneten Reitern zu tun bekommen.»

«Sie fristen ihr kümmerliches Dasein von dem, was das Meer hergibt, Hugh. Sie sind für einen Grundherrn nicht von Wert. Irgendwo muss es ein Feld geben, wo sie etwas anbauen. Diese Rüben hat ihnen sicher kein Edelmann geschickt.»

Die zahnlose Frau kehrte zurück. Sie brachte zwei Näpfe mit Eintopf und dunkles Roggenbrot auf einem Tablett aus gespaltenem Holz. Ängstlich blieb sie in einigem Abstand von den Männern stehen, bis diese sie heranwinkten. Sie kniete nieder, stellte das Tablett auf den Boden und lief dann eilig zurück zu ihrer Hütte. Henry und Gifford aßen hungrig. Sie waren gerade fertig, als ein altes Weib mit einem Eimer Wasser und einer hölzernen Schale zu ihnen geführt wurde. Die ältere Frau schien sich weniger vor den beiden Männern zu fürchten. Wenn sie ihre Hilfe brauchten, würden sie ihr wohl nichts zuleide tun. Sie beugte sich über Giffords Bein und roch daran.

«Sie mag deinen Geruch, Hugh», bemerkte Henry.

Gifford schob ihren Kopf behutsam von sich. «Wenn sie noch näher herankommt, wird ihr Atem meine Wunden vergiften.»

Die alte Frau stellte den Wassereimer ab.

«Ihr wascht Euch, Herr, und dann behandeln wir die Wunden», sagte sie.

Gifford riss einen Fetzen von seiner Tunika ab und wusch sich Schmutz und Salz von den Verletzungen. Das alte Weib schaute kopfnickend zu, wie er sein Bein trocken tupfte. Sie wollte gerade mit ihren schmutzigen Händen in die Schale mit der Salbe greifen, als Henry sie am Handgelenk packte.

«Wenn du diese Hände auch nur in die Nähe deiner Wunden lässt, werden sie binnen Tagen anfangen zu schwären», sagte er zu Gifford. «Wasch dir die Hände und trag die Salbe selbst auf.»

«Du kennst dich mit solchen Dingen aus?»

«Mein Vater hatte einmal mit einer kräuterkundigen Frau zu tun, und sein Bogenschütze Will Longdon hat von ihr gelernt. Tu, was ich sage.» Er wandte sich an das Weib. «Was ist das?», fragte er und zeigte auf die Mixtur in der Schale.

«Wegerich und andere Kräuter, Herr.»

«Geh zurück in deine Hütte, Weib», sagte Henry. Er zog seine Tunika aus und schnitt mit dem Messer einen Streifen vom unteren Rand ab, breit genug für einen Verband. «Jetzt muss ich zwar am Hintern frieren, aber dafür wird dein Bein heilen.»

Gifford verteilte die Salbe auf den offenen Stellen an seinem Bein, dann nahm er den Leinenstreifen und verband es. «Eigentlich sollte ich auf dich aufpassen, Master Henry, und nun pflegst du stattdessen mich.»

«Ich brauche dich bei Kräften, Hugh. Wenn wir hier in de Montforts Territorium sind, dann sind wir in Sicherheit, denn mein Vater hat geholfen, ihm die Bretagne zu sichern.»

«Mag sein, aber ich fürchte, wir sind noch lange nicht außer Gefahr. Nach wie vor treiben raubende Söldner ihr Unwesen im Land, und manche Gegenden sind fest in ihrer Hand. Auch wenn wir uns gleich morgen wieder auf den Weg machen, können diese Männer uns vorauseilen und uns für Geld an einen Söldner verraten. Diese Halunken verkaufen mit Vorliebe Gefangene an französische Edelmänner, und sie kennen kein ergötzlicheres Schauspiel als eine öffentliche Hinrichtung. Ich habe dergleichen schon früher mit angesehen.» Er klopfte mit der flachen Hand auf sein Bein. «Das hätten wir.»

«Schlaf, ich halte Wache. Später wecke ich dich und ruhe mich bis Tagesanbruch aus. Wir haben gegessen, und morgen werden wir unsere Kräfte brauchen.» Henry blickte zu den Wolken auf. «Der Wind dreht. Wenn wir Glück haben, lässt der Regen nach.»

 

Der Wind trieb Henry Regen ins Gesicht, während Gifford schlief, auf der nackten Erde eingerollt, den Holzstapel im Rücken. Nach all den Strapazen hatten sie Ruhe nötig, und dem Waffenknecht machte der harte Boden nichts aus. Schlaf war ein Geschenk, wo immer man ihn finden konnte. Henry hätte nicht sagen können, wie viel Zeit vergangen war. Eine Frau beschickte das Feuerbecken mit getrocknetem, ausgeblichenem, salzverkrustetem Treibholz vom Strand, sodass blaue Flammen geisterhaft emporzüngelten. Männer kehrten zu ihren Weibern zurück, und in den Hütten wurde es still. Der Mann, den Henry vorhin niedergeschlagen hatte, war davongeschlichen. Der Wind jagte Wolken über den Himmel, aus denen hin und wieder ein Regenschauer niederging. Als die Nacht voranschritt, fielen Henry die Augen zu. Sein Kinn sank auf die Brust.

Plötzlich schrak er auf und starrte in die Nacht. Von dem Feuerbecken ging nur mehr ein schwacher Glutschein aus. Die brennenden Fackeln flackerten noch immer im Wind. Er schaute sich um, stand auf, streckte sich, gähnte und schüttelte den Kopf, um richtig wach zu werden. Es war still. Nur das Wispern des Windes war zu hören, der um die Dächer aus Schilfrohr strich. Selbst die Hunde hatten irgendwo Zuflucht gefunden. Henry setzte sich wieder auf den Holzstoß, verschränkte die Arme und richtete seine Aufmerksamkeit auf die dunklen Hütten. Im Geiste sah er Bilder vor sich, von dem Sturm auf See, dem Kampf ums Überleben, als er über Bord ging, dabei mit dem Kopf auf die Reling schlug, dann das seltsam unwirkliche Gefühl, mit dem Gesicht nach unten im Wasser zu liegen. Zu treiben. Von den Wellen geschaukelt. Gewiegt wie ein Kind. Ein Wiegenlied. Schlaf.

Durch geschlossene Lider nahm er wahr, wie etwas den Fackelschein verdunkelte. Sein Instinkt ließ ihn mit einem Ruck erwachen. Die Männer stürmten mit Knüppeln, Messern und Äxten bewaffnet auf sie zu. Der nächste war kaum noch zwanzig Schritt entfernt, die Axt hocherhoben.

«Hugh! Zu den Waffen!», brüllte Henry und stellte sich den Angreifern entgegen. Dabei zog er mit einer Hand sein Messer, in der anderen hielt er bereits das Schwert. Er spürte eher, als dass er es sah, wie Gifford sich von dem Holzstapel hinter ihnen abstieß. Seine Lebensgeister waren erwacht, die drohende Gefahr riss ihn aus seiner Benommenheit. Den Holzschuppen ein paar Schritt hinter ihm als Rückendeckung nutzend, wich er dem wütend heranstürmenden Gegner aus und brachte ihm mit seinem Messer einen tiefen Schnitt in den Oberschenkel bei. Als der Mann zu Boden ging, drehte Henry sich halb um und wollte ihm den Rest geben, doch das war nicht mehr nötig. Gifford senkte bereits sein Schwert in die Brust des Mannes, dann machte er drei Schritte zur Seite, sodass er und Henry zwei separate Ziele darstellten. Auf diese Weise mussten die angreifenden Fischer sich aufteilen. Zwei richteten ihre Aufmerksamkeit auf Henry, der ein geworfenes Holzscheit mit dem Arm abwehrte und sich dann tief duckte, um den Mann in sein Schwert hineinlaufen zu lassen. Der zweite machte einen Schritt zur Seite und wurde von Giffords durch die Luft schnellendem Messer getroffen. Blut sprudelte aus seinem Hals. Der Waffenknecht wandte sich bereits dem nächsten Angreifer zu.

Henry und Gifford hielten ihre Stellung. Die verbliebenen Gegner versuchten nun zaghafter, sich zu nähern, wichen wieder zurück und wechselten die Richtung, riefen einander zu, von Angst und falschem Wagemut getrieben, entschlossen, das begonnene Werk zu vollenden. Sie wagten nicht, sich jetzt noch zu ergeben. Henry und Gifford ließen sie auf sich zukommen, und nun zahlten sich die jahrelangen Übungen in den Wiesen bei Oxford aus, denn die beiden Männer töteten gekonnt und routiniert. Henry machte eine Finte; ein Mann zauderte, die Brust ungedeckt; schon durchbohrte ihn Henrys Schwert. Im Fackelschein wirkten die Gesichter der Männer verzerrt. Scharfe Schatten wie Narben auf ihren Zügen, die Münder aufgerissen, die Augen geweitet, suchten sie nach einer Möglichkeit, die Fremden in ihrer Mitte zu töten. Gifford durchtrennte einem Mann die Kniesehne, dann drehte er das Schwertheft und rammte dem nächsten die Parierstange ins Auge. Der geblendete Mann ließ sein Messer fallen und brach in die Knie, da stieß Henry ihm sein Messer von oben ins Genick.

Die übrigen vier Männer zogen sich zurück. Der Angriff war gescheitert. Henry und Gifford stiegen über die Körper der Getöteten hinweg.

«Lasst eure Waffen fallen!», forderte Henry.

Die Überlebenden machten kehrt und rannten. Erst als sie zu dem Pfad liefen, der hinunter zum Strand führte, bemerkte Henry die Frauen und Kinder, die im Schutz der größten Düne kauerten. Selbst die streunenden Hunde hatten bei ihnen Zuflucht gesucht. Der Himmel klarte jetzt auf, der Mond beschien eine schimmernde See und die vaterlos gewordenen Familien. Ein Säugling schrie. Dann noch einer. Der Wind trug ihre Klagelaute herüber. Die Frauen wichen weiter zurück, folgten dem Weg zum Strand, ihren eingeschüchterten Männern nach.

Die Erregung fiel von Henry ab. Jahre waren vergangen, seit er zuletzt einen Menschen hatte töten müssen. Damals war er noch ein Knabe gewesen; nun hatte er ebenso instinktiv reagiert. Dies war keine Wirtshausschlägerei, hier ging es um Leben und Tod. Seine Hand zitterte. Sein Magen krampfte sich zusammen. Das beklemmende Gefühl in seiner Brust war eine Mischung aus Bedauern und Angst. Er ballte die Faust, atmete tief durch und ließ die Spannung in die Nacht entweichen.

Gifford warf einen Blick in die nächste Hütte. «Sie ist leer.»

«Lass uns auch in den übrigen nachsehen», sagte Henry und richtete seine Gedanken wieder darauf, welche Gefahr ihnen noch drohen konnte. Er folgte Giffords Beispiel, öffnete die Türen aus Flechtwerk und schaute hinein.

«Sie sind fort. Hier versteckt sich niemand mehr», stellte Gifford fest.

Sie standen auf der freien Fläche, schauten sich um, vergewisserten sich, dass nicht noch von irgendwo ein neuer Angriff drohte.

«Wir sollten vor Tagesanbruch von hier verschwinden, Master Henry.»

«Erst durchsuchen wir die Hütten nach etwas zu essen.»

«Und diese Männer lassen wir am Leben?»

«Wir haben ihre Zahl mehr als halbiert. Das genügt. Sie werden uns nicht mehr verfolgen.» Henry wusste nicht, warum, aber das Verlangen nach Rache packte sein Herz wie eine kalte Faust, der Wunsch, diejenigen zu bestrafen, die sie hatten töten wollen. «Wir brennen das Dorf nieder», entschied er.

Nachdem sie die Hütten durchsucht hatten, nahmen sie die Fackeln und legten Feuer an die ärmlichen Behausungen. Der Wind fachte die Flammen an, und schon bald wirbelten die Funken hoch in den Nachthimmel. Die beiden Männer standen in einigem Abstand, jeder mit einem kleinen Sack voller erbeuteter Lebensmittel.

«Zeit zu verschwinden, Hugh. Wir brauchen Engel an unserer Seite, um eine sichere Zuflucht zu finden.»

«Der Allmächtige hat uns nicht aus dem Meer errettet, um uns dann wie Hunde sterben zu lassen», sagte Gifford. Dann fiel sein Blick auf die Leichen am Boden. «Das heißt allerdings nicht, dass Er nicht noch ein schlimmeres Ende für uns bereithalten könnte.»