Vierter Teil Die Klaue

Kapitel Einundzwanzig

H enry Blackstone und Hugh Gifford wanderten zwanzig Meilen landeinwärts. Weit und breit war keine Stadt und kein Dorf zu sehen. Als sie an einen dichten Wald kamen, lockte eine Straße, doch die beiden mieden sie. Allzu leicht hätten sie dort auf Holzfäller stoßen können, die sie vielleicht ebenso wie die Fischer als leichte Beute angesehen hätten. Ihre salzverkrustete Kleidung scheuerte, und das Essen, das sie aus dem Dorf in den Dünen mitgenommen hatten, reichte höchstens noch für einen Tag.

«Ich finde, wir sollten nach einem Fluss Ausschau halten und unsere Kleidung waschen. Die Dunkelheit wird uns schützen.»

«Ich würde ungern riskieren, dass mich jemand in der Bruche überrumpelt, Master Blackstone. Lass uns weitergehen und das nächste Dorf suchen. Diese Bretonen müssten de Montfort treu sein.»

«Und wenn wir auf die Gefolgsleute eines Herrn stoßen, der nicht auf unserer Seite gekämpft hat? Dann hegen sie vielleicht einen Groll, und wir hätten es diesmal nicht nur mit Fischern zu tun, die ungeübt im Kampf sind. Nein, ich sage, wir machen Rast, waschen uns das Meersalz ab, essen etwas und schlafen. Du hinkst schon. Noch eine Meile, dann wird dein Bein den Dienst versagen.»

Gifford warf einen Blick zum Horizont, dann hinauf zum Himmel. «Also gut. Aber ich rieche Holzrauch.»

Henry hob das Gesicht in Windrichtung. Zuerst nahm er nur den salzigen, sumpfigen Geruch des Marschlandes wahr, dann drehte der Wind. «Dort drüben», sagte er. «Aber sollen wir näher herangehen oder uns lieber fernhalten? Wir können nicht wissen, ob wir nicht in eine Schlangengrube voller feindseliger Bauern geraten.»

Gifford schwieg, während Henry das Für und Wider abwog.

«Du denkst, wir sollten hingehen, und ich denke, wir sollten einen Bogen um diese Leute machen.»

«Ich denke, du musst eine Entscheidung treffen, Master Blackstone.»

«Ich verlasse mich lieber auf deine Erfahrung, Hugh. Ich bin nicht derjenige, der hier die Führung übernehmen sollte, das ist mir klar.»

«Nun, bislang hast du dich gar nicht übel geschlagen. Wenn wir hingehen, dann einzeln nacheinander. So können wir uns wenigstens gegenseitig zu Hilfe kommen, falls es nötig werden sollte.»

«Dann gehe ich voran, sobald das Dorf in Sicht kommt.»

«Es ehrt dich, dass du das sagst. Aber solltest du angegriffen werden, könnte ich dir mit meinem Bein nicht schnell genug zu Hilfe eilen. Andererseits biete ich eine verlockende Gelegenheit für einen Bauern, der es auf mein Schwert und meine Stiefel abgesehen hätte.»

Henry überdachte die Alternative. «Dann bin ich einverstanden, dass du das Risiko eingehst, und ich hoffe, schnell genug zur Stelle zu sein, falls du mich brauchst.»

Gifford schüttelte den Kopf. «Herr im Himmel, für einen Gelehrten verstehst du dich nicht sonderlich auf aufmunternde Worte.»

«Du hast mich mit deinem Argument überzeugt. Ich war doch für die Juristerei bestimmt, Hugh. Fakten zeigen kein Mitgefühl.»

Gifford seufzte, spuckte aus und trottete weiter. «Rechtsgelehrte und Priester. Wärest du ein Geistlicher geworden, dann hätte ich jetzt wenigstens einen Segen.»

Henry legte seinem Beschützer eine Hand auf die Schulter. «Mein Schwert ist mein Segen, Hugh.»

 

Eine Meile weiter gingen sie am Rand eines kleinen Wäldchens entlang und trafen auf einen Bach, wo Röhricht ihnen Deckung bot. Zwischen schwankenden Stängeln und kahlen Bäumen hindurch konnten sie ein Dutzend Hütten ausmachen. Rauch kringelte sich aus Abzugslöchern in den Dächern. Ein Kind molk eine angebundene Ziege; der Wind trug das Geräusch einer Axt heran, mit der Holz gespalten wurde, und den Geruch von warmem Essen. Frauen riefen einander etwas zu. Knaben, nicht älter als fünf oder sechs Jahre, schichteten Brennholz auf.

Henry und Gifford kauerten sich in einen Graben und beobachteten die wenigen Hütten aufmerksam.

«Weiter zwischen den Bäumen sind auch Hütten – sind das noch mehr menschliche Behausungen oder Tierställe?», fragte Henry. Er hielt Ausschau. «Keine Spur von Männern.»

«Sie sind gewiss Holzfäller, aber der nächste richtige Wald ist dort hinten, wo wir hergekommen sind. Und sie hätten uns wahrscheinlich eher bemerkt als wir sie, aber sie haben sich nicht gezeigt. Also gut», fuhr Gifford fort, «halte Augen und Ohren offen, ob von irgendwo Gefahr droht. Ich werde mich als einer von Jean de Montforts Waffenknechten ausgeben und hoffen, dass diese Leute auf der richtigen Seite stehen. Wir müssen irgendwie Pferde auftreiben, aber niemand darf mitbekommen, dass wir Geld haben, solange wir nicht wissen, wo wir uns hier befinden und wem diese Leute treu sind.»

Gifford kletterte aus dem Graben und hinkte zu der Stelle, wo eine kräftige Bohle als Brücke über den Bach gelegt war. Von dort waren es noch hundert Schritt bis zu den Hütten. Henry duckte sich tief und lief durch den Graben, um Gifford nicht aus den Augen zu verlieren. Dabei schob er sich tiefer zwischen das Röhricht. Er hob den Kopf nur gerade hoch genug, um über die Böschung Ausschau halten zu können. Erst als die Jungen, die das Holz aufgeschichtet hatten, zwischen die Hütten davonliefen, wagte Henry es, sich aufzurichten. Gifford trat auf das offene Gelände hinaus und blieb stehen. Er hob eine Hand zum Zeichen, dass er nichts Böses im Schilde führte. Die Frauen hielten in ihren Arbeiten inne. Henry konnte durch das Rascheln des Schilfrohrs nicht hören, was Gifford sagte, aber die Frauen wechselten daraufhin Blicke und schienen unschlüssig. Eine wagte es, einen Schritt vorzutreten, und zeigte anklagend mit dem Finger. Gifford hob die Hände, wie um eine unsichtbare Macht abzuwehren. Nun rückten die Frauen dichter zusammen, bildeten einen schützenden Pulk; eine, die ein Schüreisen in der Hand hielt, hob es wie ein Schwert und schrie Gifford etwas entgegen – was, konnte Henry nicht verstehen, weil er den Wind im Rücken hatte. Gifford wich einen Schritt zurück, dann wagte er einen kurzen Blick in Henrys Richtung. Es hatte den Anschein, als besäßen die Frauen den Mut, den Eindringling anzugreifen und zu überwältigen, obwohl Gifford keinerlei Anstalten machte, sie zu bedrohen. Die Frauen rückten langsam gegen ihn vor. Henry sah, dass wenigstens zwei von ihnen Messer in den Händen hielten – wahrscheinlich waren sie gerade dabei gewesen, Essen vorzubereiten.

«Verdammt, Hugh, zieh doch endlich dein Schwert», murmelte Henry vor sich hin.

Gifford ging langsam rückwärts und behielt dabei die Frauen im Blick, die sich nun aufgefächert hatten und ihn anscheinend umzingeln wollten wie ein Rudel Wölfe seine Beute.

Henry griff fluchend nach seinem Schwert. Er richtete sich vollends auf, um durch den Bach zu waten und die Böschung hinaufzuklettern. Plötzlich kam von der Seite ein Schatten auf ihn zu, so schnell, dass er ihn nur verschwommen wahrnahm. Der Wind im Schilf hatte jedes Geräusch übertönt. Henry fuhr herum. Drei Männer starrten ihm finster entgegen, Messer und Äxte in den Händen. Sie zögerten; er sah, wie etwas hinter ihm ihre Blicke anzog, und in diesem Moment begriff er, dass da noch mehr waren.

Das war sein letzter Gedanke. Rasender Schmerz durchfuhr ihn, und er fiel mit dem Gesicht nach unten ins Wasser.