Kapitel Achtundzwanzig

H enry sollte den Judaskuss geben.

Es fühlte sich unrecht an, obwohl sein eigenes Leben und das der Männer, die ihm folgten, auf dem Spiel standen. Doch es hatte nie einen anderen Ausweg gegeben. Es ging ums nackte Überleben.

«Der Weg ist frei», sagte Henry. «Wir sollten uns beeilen, ehe die Garnison erwacht.»

Pellan zögerte. Wie ein witternder Hund hob er den Blick zu den Mauern und schaute sich dann auf dem Platz um. «Ich habe das Gefühl, hier stimmt was nicht», sagte er.

«Weil die halbe Garnison fort ist», redete Henry ihm beruhigend zu. «Aber ich will nicht mehr hier sein, wenn die Burg erwacht. Wir müssen hinein und das Gold holen. Deine Männer können ja draußen Wache stehen, aber ich bleibe nicht hier.»

Die Dringlichkeit in seinen Worten siegte über Pellans Zweifel. Der ältere Mann nickte, steckte seine Streitaxt in den Gürtel und zog sein Schwert. «Du gehst als Erster durch die Tür», befahl er, wobei er sich immer wieder prüfend umsah. «Bleib immer einen Schritt vor mir.»

Henry nickte und ging voran über die freie Fläche. Pellans Männer folgten ihrem Anführer, halb geduckt, wachsame Blicke nach allen Seiten werfend. Henrys Herz schlug heftig, und es pochte in seinen Ohren, als er die Mitte des Platzes erreichte. Plötzlich wurden vor ihnen und an den Seiten Türen aufgestoßen, und die Garnisonssoldaten stürmten heraus, die meisten mit Armbrüsten bewaffnet. Sie liefen ein paar Schritte, hoben ihre Waffen und schossen. Gut einen Fuß lange Bolzen mit Stahlspitzen zischten durch die Luft und bohrten sich mit widerlich dumpfem Laut in menschliche Leiber.

Sobald die Türen geöffnet worden waren, hatte Henry sich auf ein Knie fallen lassen, um der tödlichen Salve zu entgehen. Die Überraschung war perfekt. Schmerzensschreie gellten, Männer fluchten laut, als sie erkannten, dass es keinen Ausweg gab. Die Hälfte von Pellans Leuten wurde auf der Stelle niedergestreckt. Die zweite Salve der Armbrustschützen raffte noch mehr dahin. Bei den Überlebenden siegte der Kriegerinstinkt über die Panik. Sie schlossen sich zu einem Pulk zusammen, Rücken an Rücken, und wehrten die Schwertkämpfer ab, die jetzt auf sie zustürmten. Pellan und Henry waren von mehreren seiner Männer umgeben. In diesen entscheidenden Augenblicken hatte Pellan noch nicht begriffen, dass Henry sie verraten hatte. Der Söldner kämpfte, tötete einen von le Bourcs Männern, sah, dass seine eigenen Leute überwältigt wurden. Wandte sich zu Henry. Und da dämmerte es ihm.

Die Axt in einer Hand, das Schwert in der anderen, ging Pellan auf Henry los. Der parierte, war jedoch zu langsam – schon hatte sein Gegner ihm das Schwert aus der Hand geschlagen. Dann schleuderte er die Axt, aber Henry warf sich auf den Boden, rollte sich zur Seite, versuchte verzweifelt, sein Leben zu retten. In Panik richtete er sich halb auf, das Messer in der Hand, rammte die Klinge in Pellans Oberschenkel, drehte sie, zog sie heraus und stach noch einmal zu. Der Mann brach zusammen und riss ihn mit zu Boden. Sein Gestank umfing Henry. Ohne nachzudenken, warf er sich auf seinen Widersacher, doch der ältere Mann war stark genug, um ihn von sich zu stoßen. Pellan kam wieder auf die Beine, Henry ebenfalls. Während die Söldner von den Soldaten niedergemetzelt wurden, teilte der große Mann bald in diese, bald in jene Richtung aus, lahm, ein verwundeter Stier. Verzweiflung drohte Henry zu überwältigen. Er konnte sein Schwert nicht erreichen, deshalb machte er einen plötzlichen Ausfall mit dem Messer, und es gelang ihm, dem Gegner die Kniesehne zu durchtrennen.

Die Schreie der Verwundeten, das Gebrüll von Angreifern und Verteidigern – all das nahm Henry nur noch wie von fern wahr, da er seine ganze Aufmerksamkeit auf den verwundeten Gegner richtete. Henry zitterte, Angst und Unsicherheit trübten seine Gedanken. Er musste Pellan töten, ehe le Bourc erfuhr, dass dieser Mann nicht der Söldnerführer la Griffe war. Ein Ausdruck des Unglaubens trat auf Pellans Gesicht, als Henry mit beiden Armen seinen Brustkorb umklammerte, sodass er seinen Schwertarm nicht mehr gebrauchen konnte. Henrys Gewicht und die Verletzung am Bein machten es dem älteren Mann unmöglich, sich aufzubäumen und sich zu befreien.

«Ich bewahre uns beide vor einem grauenhaften Tod», entfuhr es Henry unversehens, und in seiner Verzweiflung rammte er Pellan das Messer tief ins Ohr. Der Kiefer des Söldners erschlaffte, er verdrehte die Augen, dann krampfte sein Körper so heftig, dass er Henry abwarf. Der landete mit dem Gesicht eine Handbreit von dem des Mannes entfernt, dessen glasige Augen seinen jungen Mörder blicklos anstarrten.

Henry wich hastig von dem Toten zurück, spürte, wie ihm die Galle in die Kehle stieg. Er hatte kaum einen klaren Begriff davon, was eben geschehen war, aber er wusste, dass er Glück gehabt hatte. Dass er seinen Gegner überwältigt hatte, verdankte er nicht seinen kämpferischen Fähigkeiten, sondern einem Glückstreffer, der den Mann praktisch kampfunfähig gemacht hatte.

Er hörte noch immer das Geräusch, mit dem sein Messer durch Knochen ins Gehirn gedrungen war, und er zitterte.

Soldaten umringten Henry, Schwertspitzen auf seine Brust und den Hals gerichtet. Dann bellte jemand ein Kommando, und die Männer traten zurück. Henry wischte sich über den Mund und stand vorsichtig auf. Der Platz war von Leichen übersät, Blut sickerte in die Erde. Le Bourc kam auf ihn zu. Der Sieg über die Söldner hatte einen hohen Preis gefordert. Der Hauptmann betrachtete den Toten, den er für den Söldnerführer hielt. «Ich wollte ihn lebend», sagte er.

«Ich musste um mein Leben kämpfen», erklärte Henry. «Ihm wurde klar, dass ich ihn verraten hatte. Ich hatte keine Wahl.»

Le Bourc stieß den Körper mit seinem blutigen Schwert an. «Nun, wir werden ihn enthaupten und vierteilen und überall bekannt geben, dass la Griffe tot ist. Das ist besser als nichts.»

«Was ist mit mir, Herr?», fragte Henry. «Ihr habt Euer Wort gegeben, mich und die anderen freizulassen, wenn ich Euch la Griffe ausliefere.»

Le Bourc schaute sich um. «Ja, Ihr könnt gehen, Master Blackstone.»

«Wir brauchen Pferde. Die wir hatten, mussten wir jenseits des Flusses zurücklassen. Die sind sicher längst auf und davon. Und Proviant. Wir brauchen Vorräte.»

«Ihr solltet Euch glücklich schätzen, dass Ihr mit dem Leben davonkommt. Bis die Leichen vom Platz geräumt sind, müsst Ihr verschwunden sein. Wenn Ihr danach noch innerhalb dieser Mauern angetroffen werdet, schicke ich Euch alle aufs Schafott. Ganz gleich, wer Euer Vater ist.»

Henry rannte zur Kerkertür. Es dauerte einen Moment, bis seine Augen sich an die fast völlige Dunkelheit gewöhnten. Auf der Treppe regte sich eine Gestalt. Bezián blickte ihm entgegen, das Schwert in der Hand, auf Ärger gefasst. Als er sah, wer da kam, ließ er die Waffe sinken und stieg vor Henry die Stufen zum Verlies hinunter. Unten warteten Hugh Gifford und die Übrigen.

«Master Blackstone», begrüßte Gifford ihn. «Ich hatte schon befürchtet, deine Mission sei zum Scheitern verurteilt.» Er grinste. «Ich hätte es besser wissen müssen.»

Mallin zeigte auf den leblosen Körper in einer Ecke der Zelle. «Helyer ist an seinen Verletzungen gestorben.»

«Dann können wir nichts mehr für ihn tun. Wir müssen uns jetzt selbst retten. Der Kampf ist vorbei. Hugh, diese Männer haben dir erzählt, was geschehen ist?»

«Ja.»

«Le Bourc denkt, Pellan sei die Klaue. Wir müssen von hier verschwinden.»

«Wenn la Griffe noch am Leben ist, wird er dir auflauern», sagte Gifford.

«Ich weiß, aber wir haben jetzt keine Zeit, uns darüber Gedanken zu machen. Sie tragen schon die Toten weg, und wir müssen fort sein, ehe sie damit fertig sind.» Henry bemerkte, dass Gifford sein Schwert am Gürtel trug.

Der Waffenknecht grinste. «Der Kerkermeister wollte es gegen Wein eintauschen.»

Henry schaute die Männer an. «Ist er tot?»

«Sein Schädel wird brummen, wenn er wieder zu sich kommt», erwiderte Vachon.

«Gut. Ihr Männer seid frei, eurer Wege zu gehen. Gifford und ich ziehen weiter nach Bordeaux.»

Überraschend ergriff Terrel das Wort. «Nun ja, wir haben darüber geredet, Master Blackstone. Du hast den messerscharfen Verstand eines Rechtsgelehrten, das Lügenmaul einer Wirtshaushure und ein Glück, als ob der Teufel auf deiner Seite ist. Männer wie wir brauchen so jemanden hinter sich. Wenn du einverstanden bist, schließen wir sechs uns dir an.»

Henry musterte ihre ernsten Gesichter. Alle erwiderten seinen Blick. «Hugh?»

«Kann nicht schaden, Männer zu haben, die Befehle befolgen, wenn es nötig wird.»

«Das werden wir tun», versicherte Brun. «Wir haben schon einmal unser Wort gehalten. Wir geben es erneut.»

Alle nickten zustimmend.

«Dann ziehen wir gemeinsam weiter», entschied Henry. «Der Teufel soll sich in Acht nehmen.»