Kapitel Neunundvierzig

B ernard de Lagny und seine Gefährten, Hugo Muset und Nicholas de Mitry, blieben vier Tage bei ihren Familien. Sie konnten ihren Frauen kaum noch Geld mitbringen, nachdem Henry Blackstone ihnen die Geldbeutel abgenommen hatte. Jedoch war ihnen eine kleine Belohnung versprochen worden, wenn sie bei Hofe erschienen, um Zeugnis über die Schlacht abzulegen.

Nach weiteren zwei Tagen Reise traten sie in die von Menschen wimmelnden Straßen der alten Hauptstadt ein. Am Abend vor ihrer Audienz beim König überquerten sie den Fluss und schliefen in einer schummrigen, schmutzigen und übermäßig teuren Herberge nahe dem Palast. Glücklicherweise war dieser weit genug von der Altstadt entfernt, dass man hier vor dem Gestank sicher war. Einfache Krieger wurden nur selten eingeladen, zu ihrem König zu sprechen, deshalb hatten sie sich ein Quartier in einiger Entfernung von den Verlockungen der Huren und Schankstuben gesucht.

Die drei Männer erwachten zeitig, kratzten sich die Wanzenbisse und traten in das bleiche Licht des frühen Morgens hinaus. Sie machten einen Bogen um den menschlichen Kot in der Türnische, dann bahnten sie sich einen Weg durch die engen, schmutzigen Straßen, stießen Träger und Arbeiter beiseite, mieden den offenen Rinnstein in der Mitte, wo im Schmutzwasser allerlei Unrat trieb. Ladenbesitzer, die eben die Fensterläden öffneten, beäugten misstrauisch die hartgesottenen Krieger mit dem großspurigen und entschlossenen Gebaren. Diesen war daran gelegen, pünktlich zu ihrer Audienz das Hôtel Saint-Pol zu erreichen, ohne dass der Gossengestank in ihrer Kleidung hing, deshalb schrien sie und drohten denen vor ihnen, die mit ihren Maultieren mit Körben voller Holz und Kohle die Straße verstopften.

Wenn die Straßenhändler sich umschauten, erstarben ihre Flüche und Beleidigungen, und sie zerrten ihre Lasttiere zur Seite, um den drei Waffenknechten Platz zu machen. Im nächsten Badehaus wuschen sich die Männer den Gestank der Straße ab, während ein Gassenjunge ihnen die Stiefel putzte, und einen anderen schickten sie zu dem Waschweib, bei dem sie am Vorabend ihre Reservehemden abgegeben hatten.

Im Hôtel Saint-Pol wurden sie durch die äußeren Höfe geführt, durch Korridore, von einem Bediensteten an den nächsten weitergereicht, und nach der Livree und dem Gebaren zu urteilen, war jeder ranghöher als der vorige. Endlich führte man sie in ein prunkvoll ausgestattetes Empfangszimmer: hohe Decken, kunstvoller Stuck, große Fenster, sodass der Raum lichtdurchflutet war. Die Absätze der Männer klackten auf dem Marmorboden. Sie wurden aufgefordert zu warten, wischten sich die schweißnassen Hände. Dann betrat ein alter Mann den Raum. Die drei folgten dem Beispiel des Bediensteten und verbeugten sich.

«Ich bin der Berater des Königs», sagte Simon de Bucy. Er zeigte mit seinem Amtsstab. «Hinter dieser Tür wird Euer König Euch empfangen. Ihr werdet zwanzig Schritte weit gehen. Dann bleibt Ihr stehen. Ihr verbeugt Euch. Ihr haltet die Köpfe gesenkt, bis ich Euch auffordere, sie zu heben. Verstanden?»

«Gewiss, Herr», erwiderte de Lagny.

«Ihr seid die Männer von Louis, dem Herzog des Anjou?»

«So ist es, Herr», bestätigte de Lagny.

De Bucy erkannte, dass der Mann, der ihm antwortete, der selbstsicherste zu sein schien. Offenbar sprach er auch für die anderen zwei Waffenknechte, die nervös vor ihm standen. Er fuhr fort: «Euer Herr, der Bruder des Königs, hat seine eigenen Männer sowie Söldner und kastilische Kavallerie ausgeschickt, um Krieg gegen Don Pedro von Kastilien zu führen. Wenn Ihr von Eurer Niederlage bei Nájera berichtet, werdet Ihr dabei nichts Schlechtes über den Bruder des Königs, den Marschall d’Audrehem oder den bretonischen Hauptmann du Guesclin sagen.»

«Herr», erwiderte Nicholas de Mitry, «die Niederlage ist allein Heinrich von Trastámara zuzuschreiben. Er hat sogar den Rat des Königs missachtet. Dem Spanier wurde gesagt, er solle absitzen und zu Fuß kämpfen. Die Engländer haben ihn herausgefordert, sich an einem Ort zur Schlacht zu stellen, der für ihn ungünstig war – nicht dort, wo du Guesclin unsere Gefechtslinien aufgestellt hatte. Trastámara ließ sich provozieren. Deshalb haben wir die Schlacht verloren.»

«Und wer war es, der ihn herausgefordert hat?», fragte de Bucy. Er hoffte, es möge der Mann gewesen sein, dessen Name für die französischen Könige wie ein Fluch war.

«Ihr Kriegsherr», antwortete de Lagny.

De Bucys Ton wurde milder. «All das werdet Ihr dem König berichten, von Anfang an. Und wenn ich sehe, dass der König ermüdet, werde ich Euch nach Thomas Blackstones Sohn fragen.»

Die drei Männer wechselten unsichere Blicke. Der kleinere, muskulösere der drei neigte den Kopf. «Wir sind ihm nur kurz auf dem Weg begegnet», sagte Hugo Muset. «Wir wissen nichts über den jungen Mann.»

«Ihr wisst genug», entgegnete de Bucy. «Und Ihr werdet davon berichten, wenn ich Eure Erzählung in diese Richtung lenke.» Er stieß das Ende seines Amtsstabs auf den Boden. Diener auf der anderen Seite der imposanten Flügeltür öffneten und gaben so den Blick in einen riesigen Saal frei. Der König von Frankreich saß auf einer samtbezogenen Estrade, achtzig Schritt von de Lagny und den anderen entfernt. Hundert oder mehr Höflinge in ihrem besten Staat waren hinter dem König versammelt, neugierig, die Überlebenden zu sehen und ihre Geschichte zu hören.

Die drei Männer zögerten.

De Bucy flüsterte: «Zwanzig Schritte!»

 

Bernard de Lagny begann zögernd zu berichten. Die Miene des Königs verriet keinerlei Ungeduld, sondern blieb höflich aufmerksam. Dann fand der Waffenknecht seine Stimme wieder. Er bezog seine Gefährten in die Erzählung ein, und gemeinsam berichteten sie, wie die Krieger sich unter den großen Feldherren versammelt und Blitzangriffe auf die Lager der Engländer unternommen hatten. Die Schilderungen wurden lebhafter, als die Waffenknechte im Erzählen alles noch einmal durchlebten, und die Bilder von galoppierenden Pferden und Schlachtrufen rissen die Höflinge mit. Die drei Männer spielten sich gegenseitig den Ball zu und wechselten sich im Berichten ab wie erfahrene Schauspieler.

Ermutigt durch die gebannte Aufmerksamkeit ihres Publikums, betonten sie den Erfolg der nächtlichen Angriffe auf die Soldaten des Prinzen bei Vitoria und auf Sir William Feltons Leute am Berg bei Ariñez. Beide Male war es gelungen, die Engländer und Gascogner zu überrumpeln. Aber Ehre, wem Ehre gebührt, sagte de Lagny zum König. Sir William hatte erbittert gekämpft, und die Engländer hatten einen Angriff nach dem anderen abgewehrt. Er war tapfer gestorben, und die Spanier hatten daraufhin den Ort Inglesmendi genannt – den Berg der Engländer.

Die Höflinge tuschelten aufgeregt über die Erzählung der Krieger, und Rufe wurden laut, als die Soldaten ihren Bericht mit Beispielen ihres persönlichen Mutes ausschmückten. Doch dann hob der König die Hand, und es wurde still.

Die Waffenknechte verstummten unsicher. Hatten sie es übertrieben? Die Tugenden ihrer Befehlshaber allzu sehr in den Himmel gelobt? Oder ihre eigenen Leistungen zu stark in den Vordergrund gerückt?

Der König machte eine kleine Geste in Simon de Bucys Richtung. Der Berater nickte dem Kämmerer des Königs zu, der seinen Stab kräftig auf den Boden stieß. Es war das Signal für die tuschelnden Höflinge, sich zu entfernen. Was der König als Nächstes zu besprechen hatte, war nicht für ihre Ohren bestimmt.

Der König wartete, bis alle den Raum verlassen hatten. Als die gewaltigen Türflügel hallend ins Schloss fielen, führte de Bucy die drei Männer näher zum König.

Zögernd gingen sie vorwärts. Als sie bis auf zehn Schritt heran waren, hieß de Bucy sie stehen bleiben.

«Und was ist mit dem Sohn des englischen Kriegsherrn, Henry Blackstone?», erkundigte sich der König.

Hugo Muset und Nicholas de Mitry überließen es de Lagny, von der Begegnung zu berichten. Nach dem, was der Berater des Königs zu ihnen gesagt hatte, schien dieser Zwischenfall auf ihrer Heimreise vom Schlachtfeld wichtig zu sein, allerdings wusste keiner der drei, weshalb.

De Lagny schilderte, wie sie den jungen Blackstone gefangen genommen hatten, zunächst in dem Glauben, er sei ein Dieb.

«Und dann, Hoheit, waren wir nicht mehr auf der Hut, denn wir dachten, er sei allein. Aber er hatte Männer bei sich, die sich versteckt gehalten hatten.»

«Krieger?»

«Ja, Herr, vier. Es waren grobschlächtige Männer, vermutlich Söldner. Aber Master Blackstone hat sie daran gehindert, uns zu töten.» De Lagny brauchte keine Kunstpause einzulegen, um die Szene dramatisch wirken zu lassen. «Ich hatte schon ein Schwert an der Kehle. Ich war nur einen Atemzug davon entfernt, getötet zu werden.»

Der König blickte verwirrt drein.

«Weshalb sollte der junge Blackstone Euch retten?»

Das war für de Lagny ein ebensolches Rätsel wie für den französischen Monarchen. «Ich weiß es nicht, Sire. Ich hatte das Gefühl, dass sinnloses Töten ihm wider die Natur ging. Und er sagte zu seinen Begleitern, ein treuer Soldat verdiene sicheres Geleit nach Hause zu seiner Familie. Bevor wir seinen wirklichen Namen erfuhren, wollte er von uns wissen, ob Thomas Blackstone in der Schlacht gefallen sei. Er war auf der Suche nach seinem Vater. Ich wünsche diesem Jüngling nichts Schlechtes, Sire. Wir stehen in seiner Schuld.»

De Bucy sah, wie der König die kurze Schilderung von Henry Blackstones Charakter verarbeitete, sich im Geiste ein Bild von dem jungen Mann machte. Und zweifellos sah er, welchen Wert ein so ehrenhafter Sohn für seinen Vater haben würde.

«Gibt es sonst noch etwas?», fragte der König, nachdem er eine kleine Weile nachdenklich geschwiegen hatte.

«Nichts, Sire. Ich hoffte, ein wenig von meiner Schuld abgetragen zu haben, indem ich ihn vor la Griffe warnte, der Jagd auf ihn macht.»

Der König wandte sich an de Bucy. «La Griffe?»

Der Ausdruck seines Beraters verriet dem König, dass ihn der Name ebenso verwirrte.

Der Waffenknecht schaute beide überrascht an. «La Griffe, Sire», wiederholte de Lagny. «Er ist ein berüchtigter Mörder. Henry Blackstone hat seinen Vater getötet, und nun sucht la Griffe nach ihm.»

«Wie lautet der richtige Name dieses la Griffe?», fragte de Bucy.

«Jean de Soissons.»

Der König hob so ruckartig den Kopf, als habe de Lagny die Hand gegen ihn erhoben.

De Bucy beeilte sich, die drei Männer hinauszukomplimentieren. «So, das genügt.»

Verwirrt verbeugten sie sich und zogen sich hastig zurück.

«Nein!», sagte der König.

Nun war es an de Bucy, unsicher zu werden.

«Simon, diese Männer sollen bleiben. Wir haben noch Fragen an sie.»

De Bucy trat beiseite, damit der König die Waffenknechte direkt anreden konnte.

«Es gibt Staatsangelegenheiten, die Euch nicht zu kümmern brauchen», erklärte der König, «aber so viel solltet Ihr wissen: Jean de Soissons ist an meine Berater herangetreten. Er hat erklärt, er wisse, wo der Sohn des Kriegsherrn zu finden sei. Er wurde beauftragt, eine Truppe zusammenzustellen, um ihn aufzuspüren und uns als Gefangenen hierher nach Paris zu bringen. So könnten wir Thomas Blackstones Ehrenwort erpressen, künftig nicht mehr gegen uns zu kämpfen.»

De Lagny schüttelte den Kopf. «Nein, Sire. Nein, das wird nicht geschehen. Die Schwertkampfkunst des Mannes ist in der ganzen Bretagne berühmt. Henry Blackstone hätte keine Chance gegen ihn. Wenn Jean de Soissons ihn aufspürt, wird er ihn töten. Er würde Euch verraten. Und wenn er Männer hat, die mit ihm reiten, dann …» De Lagny warf einen Blick zu dem erschütterten de Bucy, dann wandte er sich wieder an den König. «Verzeiht, Sire, aber Ihr habt ihm die Mittel gegeben, die er braucht, um Leid und Zerstörung zu säen, wohin er auch reitet. Er wird kühner werden. So wahr mir Gott helfe, Hoheit, la Griffe ist ein Ungeheuer. Sollte er es wagen, nach Paris zurückzukehren, dann wird er Blackstones Sohn in Stücke gehackt in einem Sack mitbringen.»

Simon de Bucy umklammerte seinen Amtsstab fester, um das Zittern seiner Hand zu unterdrücken. Eine Fehleinschätzung war getroffen worden, und er war maßgeblich daran beteiligt.

Der König stand auf; die Männer verbeugten sich. Er ging ein paar Schritte auf und ab und blieb dann vor ihnen stehen. Mit einer ungeduldigen Geste zu de Bucy verlangte er, sie sollten sich aufrichten.

«Ich will nicht das Blut des jungen Mannes an den Händen haben. Seinen Tod haben wir nie beabsichtigt. Und so stehen wir in Eurer Schuld, Meister de Lagny, und in der Eurer Gefährten, da Ihr uns die Möglichkeit gegeben habt, einen schwerwiegenden Fehler zu korrigieren. Die Kunde, dass wir einen bewaffneten Mörder auf Blackstones Sohn angesetzt haben, um ihn aufzuspüren und zu töten, wird die Wut der Engländer und ihres Kriegsherrn entfesseln, und die Zeit ist noch nicht reif dafür, dass wir ihnen in der Schlacht entgegentreten. Ihr dient unserem Bruder Louis. Nun fordern wir Euch auf, Eure Treue auszuweiten und einen Auftrag Eures Königs auszuführen.»

«Jawohl, Sire», sagten die drei Männer einstimmig.

«Reitet gen Süden. Ihr bekommt kräftige Pferde und Geld für Verpflegung. Unser Bruder befindet sich mit Heinrich von Trastámara im Languedoc. Wir wünschen nicht, dass Ihr ihn aufsucht, sondern Ihr sollt stattdessen zum Grafen de Foix gehen. Ihr werdet schnell und ohne Unterlass reiten und ihn warnen, was dieser … la Griffe beabsichtigt, sollte er Blackstones Sohn finden.»

«Und sollen wir seine Männer mobil machen, Hoheit? Um la Griffe anzugreifen?»

«Das wird nicht möglich sein. Der Graf ist neutral. Er darf nicht in die Angelegenheit hineingezogen werden. Wir haben de Soissons zu ihm geschickt, damit er einen Zeugen stellt, um zu gewährleisten, dass Henry Blackstone sich ergibt und sich von de Soissons gefangen nehmen lässt, wenn dieser ihn aufspürt.»

«Sire, ich und meine Kameraden würden unser Leben geben, um Euch zu dienen, aber wenn Ihr jetzt beabsichtigt, la Griffe aufzuhalten, und wir gegen ihn kämpfen müssen, wird er uns töten. Daran gibt es keinen Zweifel. Und dann wäre Euer Plan gescheitert, der junge Blackstone wäre tot, und die Engländer würden aus Rache alles zerstören, was ihnen in den Weg kommt.»

Der König seufzte. «Dann müsst Ihr noch vor la Griffe bei Gaston Phoebus, dem Grafen de Foix, sein. Das Schicksal Frankreichs liegt in Euren Händen.»