Kapitel Zweiundsiebzig

«D en Priester?», fragte Killbere.

Will Longdon nickte. «Er hat eine Menge Blut verloren. Sein Herz schlägt nur langsam. Er verliert immer wieder das Bewusstsein. Ich kann nichts mehr für ihn tun. Wir haben ihn in seine Kammer gebracht.»

«Verdammt, Will, wir haben ihn schon früher auf dem Sterbebett gesehen. Er braucht Ruhe, Essen und Wein. Er schläft nur. Mein Gott, nach einem harten Kampf macht doch jeder ein Nickerchen.»

Killbere sah die Sorge im Gesicht des Bogenschützen.

«Ich meine ja nur –»

«Ich weiß, was du meinst!», fuhr Killbere ihn an und zog ihn beiseite, damit niemand sonst ihren Wortwechsel mit anhörte. Es konnte verheerende Auswirkungen auf die Moral von Kriegern haben, wenn der Mann, der sie in den Krieg geführt hatte, starb, und Thomas Blackstone hatte Schlachten geschlagen, seit er ein Junge war. Legenden, die in der Schlacht geschmiedet waren, inspirierten Männer dazu, Außerordentliches zu leisten. Und die Legende, die der Kriegsherr des Königs verkörperte, durfte verdammt noch mal nicht sterben, dazu war sie zu wichtig. Nicht jetzt.

Killbere schwieg kurz. Er zuckte die Achseln. «Thomas hält nicht viel von Priestern. Er steht unter dem Segen der Göttin des silbernen Rades. Er ist ein Geschöpf der Natur. Ein Priester mit seinen Gesängen könnte einem Mann jeden Gedanken an den Himmel austreiben. Der Teufel holt sich die Seinen wenigstens ohne großes Aufhebens.»

«Und was tun wir jetzt?», wollte Longdon wissen.

«Hat Thomas denn nach dem Priester verlangt?»

«Nein.»

«Da siehst du. Er will keinen und hat nicht vor zu sterben.»

«Das wissen wir aber nicht sicher, Sir Gilbert.»

«Niemand weiß irgendwas sicher. Früher oder später ereilt der Tod uns alle, Will. Und jeder von uns hat schon mal dem Sensenmann gegenübergestanden und ihm ins Gesicht gespuckt. Lass uns in Thomas’ Nähe bleiben und abwarten.»

Will Longdon nickte. «Gut. Sagen wir es den anderen?»

«Nein. Ich wette, John Jacob erkennt ohnehin, wie die Dinge stehen, schließlich ist er Thomas’ Schatten. Aber er ist klug genug zu wissen, wann er besser den Mund hält. Ich gehe selbst nach Thomas sehen. Du hast deine Sache gut gemacht. Kümmere dich jetzt um deine Männer.»

Killbere sah zu, wie Will Longdon sich wieder unter seine Bogenschützen mischte, dann machte er sich auf den Weg zu Blackstones Kammer. John Jacob saß auf einem Fass und putzte das Wolfsschwert. Killbere war klar, dass er sich damit von der Sorge über Blackstones Verletzungen ablenken wollte. Wenn er die geschärfte Klinge noch länger polierte, würde sie heller strahlen als die Sonne. Hugh Gifford saß mit dem Rücken an die Mauer gelehnt und wetzte sein Messer. Als er Killbere sah, stand er rasch auf.

«Sir Gilbert.»

«Ist Henry da drin?»

«Ja. Er hat sich beruhigt, nachdem er die Verletzungen seines Vaters gesehen hat.»

«Ein verdammter Narr, der Junge. Hoffentlich war ihm das eine Lehre.»

«Sein Stolz ist verletzt. Er will nicht als Feigling gelten.»

«Keiner hier denkt so. Hast du mit ihm gesprochen, John?»

«Ich habe ihm genau das gesagt – mit wenig Erfolg.»

Gifford steckte sein Messer in die Scheide. «Er ist jung. Das waren wir alle mal.»

«Ich bin zu alt, um mich daran zu erinnern», knurrte Killbere. Er zögerte, während Gifford schon nach dem Türknauf griff. «Du bleibst bei Henry?»

«Ich wurde nicht von meiner Pflicht entbunden, Sir Gilbert. Das kann nur Warwick tun, auf Geheiß des Königs.»

Die Tür öffnete sich knarrend. Henry saß auf einem Schemel neben der Pritsche seines Vaters. Es war düster im Raum, zwei Kerzen und ein kleines Fenster waren die einzigen Lichtquellen. Killbere verstand Will Longdons Besorgnis. Thomas Blackstones Gesicht wirkte abgehärmt und blutleer. Er lag mit geschlossenen Augen da, seine Brust hob und senkte sich kaum wahrnehmbar. Trotz des schwachen Lichts erkannte Killbere, dass Henrys Augen gerötet waren. Beim Geräusch der Tür hatte er sich hastig mit dem Ärmel darüber gewischt.

«Henry, ich werde mich eine Weile zu ihm setzen. Geh und iss inzwischen etwas.»

«Nein, ich bleibe.»

«Du kannst hier nichts tun, du machst es dir nur selbst schwer.»

«Ich habe keinen Hunger.»

«Hör mir zu. Da draußen in der Kälte steht ein Mann, der dir treu ist. Du bist für ihn verantwortlich. Gib ihm einen Grund, seine Pflicht zu tun. Bitte ihn, etwas zu essen und zu trinken zu besorgen. Geh und geselle dich zu den Männern. Sprich über den Kampf. Lass sie dich sehen. Du kannst dich nicht hier drin verkriechen. Sie werden sich Sorgen machen, wenn sie erfahren, wie es um deinen Vater steht. Es ist wichtig, dass sich keine Mutlosigkeit breitmacht. Verstehst du?»

Henry nickte.

«Wenn du Männer anführst, musst du ihre Verzweiflung in Schach halten. Das ist die Pflicht eines Anführers. Kannst du das? Um ihretwillen? Für deine Freunde?»

Es widerstrebte Henry offensichtlich, von der Seite seines Vaters zu weichen, aber Killberes gutes Zureden und seine Argumente überzeugten ihn.

«Ich rufe dich, falls es Grund zur Besorgnis gibt. Das verspreche ich dir. Und denk daran, was ich über die Männer gesagt habe.»

Als Henry an Killbere vorbeiging, sagte der noch: «Es tut mir leid, dass ich dich geschlagen habe.»

Henry nickte. «Ich hatte es verdient.»

«Ja, allerdings.» Der alte Ritter klopfte dem jungen Mann auf die Schulter, dann schloss er die Tür hinter ihm.

Killbere rückte den Schemel näher an Blackstones Lager. Er nahm einen Lappen aus der Wasserschüssel neben der Pritsche, drückte ihn aus und tupfte Blackstone das Gesicht ab. Sein Freund reagierte nicht. Killbere warf einen Blick über die Schulter, wie um sich zu vergewissern, dass niemand sonst in Hörweite war. Dabei wusste er, dass sie beide allein im Raum waren, aber die Nachricht, die er Blackstone mitteilen musste, war allein für seine Ohren bestimmt.

Killbere beugte sich vor und näherte sein Gesicht dem Blackstones. «Unsere Leute haben wacker gekämpft, Thomas. Schnell und entschlossen. Selbst dieser Halunke Terrel. Verdammt, er hat mich aus einer brenzligen Lage gerettet. Wir haben nur drei Männer verloren, und ein paar sind verletzt. Wir haben die Söldner vernichtend geschlagen. Thomas, wenn du mich hörst, gib mir ein Zeichen. Ich bitte dich.» Killbere wartete, doch hinter Blackstones geschlossenen Lidern regte sich nichts. Killbere sprach weiter, hoffte, die Dringlichkeit der Sache möge seinen Freund in der Dunkelheit, in der er gefangen war, erreichen. «Thomas, ich habe hier eine Botschaft, die Gaston Phoebus an dich weitergeleitet hat. Ich musste sie lesen. Dafür entschuldige ich mich, mein Freund, aber die Angelegenheit ist wirklich dringend.» Wieder wartete Killbere auf eine Reaktion, aber Blackstones Augen blieben geschlossen, und sein Atem ging so flach, dass Killbere prüfend das Ohr an seine Lippen hielt. Unsicherheit befiel ihn. Thomas Blackstone war mehr tot als lebendig. Der alte Ritter rückte seinen Schemel noch näher an die Pritsche und sprach Blackstone aus nächster Nähe ins Ohr. «Thomas. Das Schicksal hat uns einen Streich gespielt. Der italienische Priester, Torrelini, war in England beim König und anschließend beim Prinzen. Sie werden von der Bank der Bardi kein Geld mehr bekommen, und ein neuer Krieg mit den Franzosen steht gewiss bevor.» Killbere starrte seinen reglos daliegenden Freund verzweifelt an. Er faltete das Pergament auseinander, wie um es Blackstone zu zeigen. «Aber es gibt noch Gold, das nicht der Bank gehört. Das ist die Information des Priesters. Der König befiehlt uns, nicht länger Trastámara nachzujagen, sondern stattdessen dieses Gold an uns zu bringen.» Killbere wartete. Noch immer kam keine Reaktion … bis Blackstone leise ausatmete. Als entwiche seinem Körper der letzte Lebenshauch. Tränen brannten Killbere in den Augen. Seine Stimme war vor Verzweiflung ganz erstickt. «Thomas … Thomas … Um Himmels willen, so hör doch … Hör mich doch an.» Er fuhr sich mit einer Hand übers Gesicht, wischte sich Tränen aus den Augen und Rotz aus dem Bart.

Keine Reaktion.

«Verdammt, Thomas, du darfst nicht sterben. Der König befiehlt, dass du seinen leidenden Sohn rettest und Niederlage und Bankrott von ihm abwendest.» Killbere brachte die Worte mit zusammengebissenen Zähnen heraus, sein Herz krampfte sich zusammen. «Du-musst-doch-dem-König-gehorchen.»

Killbere starrte seinen Freund an. Es war vorbei. Er wusste es. Er bedeckte die kalte Hand seines Freundes mit der seinen. «Gott segne dich, Thomas.»

Der alte Ritter schob seinen Schemel zurück. Er erschrak, als er plötzlich einen festen Griff an seinem Handgelenk spürte. Blackstone schlug die Augen auf. Seine Stimme war ein entschlossenes Flüstern.

«Wo ist dieses Gold?»