14 

Adam lud Warren, Zack und mich in seinen SUV und schickte den Rest der Wölfe in Honeys Wagen zurück zur Werkstatt. Darryl nahm Warrens Schlüssel an sich, gerettet aus den Resten der zerfetzten Jeans, und versprach, sich um den Subaru zu kümmern.

Zack sprang noch mal aus dem SUV und zog los, um mit Darryl zu sprechen. Ich wandte mich an Adam.

»Nicht jetzt«, meinte er.

Warren, der sich auf dem umgelegten Teil der Rückbank zusammengerollt hatte, sah aus, als würde er schlafen. Doch ich verstand. Es gab eine Menge Dinge, die wir besprechen mussten, aber wahrscheinlich war es nicht sinnvoll, Warren und Zack in diesem Moment mit einzubeziehen.

Zack glitt auf die Seite der Rückbank, die nicht umgeklappt worden war, und schnallte sich an. »Auriele wird den Subaru zu unserem Haus fahren«, sagte er, wahrscheinlich zu Warren. »Darryl wird sie dort abholen.«

Auf dem Weg zu dem Haus, das Warren und Kyle sich mit Zack teilten, wurde nicht viel geredet. Zack musste eine Nachricht geschickt haben, weil Kyle nach draußen kam, kaum dass wir in die Einfahrt bogen.

Er nahm Warrens zerfetzte Kleidung entgegen und murmelte: »Vielleicht hatte er doch recht in Bezug auf teure Kleidung und Werwölfe.« Doch seine Augen waren auf Warren gerichtet, der aus dem SUV sprang, sich streckte und dann sanft mit dem Schwanz wedelnd zu Kyle trottete.

Kyle warf Adam einen beklommenen Blick zu. »Ich konnte Zacks Nachricht nicht entnehmen, was passiert ist. ›Warren hat einen magischen Schlag abbekommen, aber es geht ihm gut‹ erklärt nicht besonders viel.«

»Behalt ihn im Auge«, sagte Adam. »Die Magie war nicht besorgniserregend, aber er wurde auch von einem Vampir gebissen. Du solltest dafür sorgen, dass er genug isst und trinkt.«

»Vampir?«, fragte Kyle und vergrub die Hand in Warrens Fell. »Es ist heller Tag.«

»Einige von ihnen sind auch tagsüber aktiv«, erklärte ich.

»Falls du anfängst, dir Sorgen zu machen, hol Zack dazu«, wies Adam Kyle an. »Und wenn du wirklich beunruhigt bist, ruf mich oder« – er zögerte – »Sherwood an.«

»Sherwood?«, fragte Zack überrascht. »Bist du sicher?«

Kyle sah von einem zum anderen und meinte: »Ich rufe Sherwood definitiv nicht an. Was stimmt nicht mit Sherwood?«

»Was ist schon in Ordnung mit Sherwood?«, entgegnete ich. Langsam setzte die Erschöpfung nach dem Kampf ein. Aus irgendeinem Grund taten meine Hände und Füße weh – ich brauchte eine Weile, um mich daran zu erinnern, dass Zee gestern Teile von Spinnenstacheln daraus entfernt hatte. Es fühlte sich an, als wäre das eine Ewigkeit her. Meine Arme taten weh, meine linke Hüfte tat weh, und immer wenn ich den Mund bewegte, schmerzte mein Kiefer an der Stelle, wo Wulfe mich mit dem Ellenbogen getroffen hatte. »Aber ruf ihn trotzdem an, wenn du denkst, dass etwas mit Warren nicht stimmt. Er besitzt mehr Erfahrung mit Magie als irgendein anderer von uns.«

»Ich dachte, er erinnert sich an nichts?« Kyle kniff die Augen zusammen.

Ich bedachte ihn mit einem vielsagenden Blick und wandte dann den Kopf ab. »Manchmal wünschte ich mir, Warren hätte sich in einen Hohlkopf verliebt statt in einen Rechtsanwalt. Ich beantworte deine Fragen, sobald wir bessere Antworten gefunden haben. Warren muss sich jetzt vor einem Feuer zusammenrollen und schlafen. Zack kann dir von den Abenteuern des heutigen Tages berichten. Ich muss nach Hause, mich waschen und mich umziehen … statt hier in deiner Einfahrt zu stehen und mir Fragen anzuhören, auf die ich keine Antwort weiß!«

Es folgte ein Moment der Stille. Erst da wurde mir bewusst, dass ich die letzten Worte geschrien hatte.

»Du siehst aus, als hättest du jemanden umgebracht«, sagte Kyle. »Zu meinem großen Leidwesen ist zu spät, um das vor mir zu verbergen. Aber wenn du schnell unter die Dusche springst und diese Kleidung verbrennst, bin ich mir sicher, dass niemand Fragen stellen wird.« Es klang, als blaffte er zurück, aber ich kannte Kyle. Er machte sich Sorgen. Doch er war klug genug, mich nicht zu fragen, was mit mir los war.

»Musst du nicht trotzdem melden, wenn du glaubst, jemand könnte ein Mörder sein?«, fragte Zack Kyle, scheinbar aus reiner Neugier.

Ich riss die Hände in die Luft – was dafür sorgte, dass die Schnittwunde auf meinem Rücken sich schmerzhaft bemerkbar machte – und stampfte zum SUV. Die Männer unterhielten sich noch eine Weile, doch ich knallte die Tür zu und gab vor, sie nicht zu hören.

»Ich dachte, sie färbt einem nur die Haare blau, wenn man nicht damit rechnet, oder rührt etwas in den Kaffee, das den Urin grün färbt«, meinte Zack. »Ich hatte nicht geglaubt, dass sie Leute anschreit.«

»Mich schreit sie ständig an«, erklärte Adam den anderen.

»Wahrscheinlich, weil dich blaue Haare nicht interessieren würden«, sagte Kyle. »Sie wird wütend, wenn sie Angst hat. Wovor hat sie Angst?«

Adam stieg in den SUV, ohne diese Frage zu beantworten, weil er die Antwort einfach noch nicht kannte. Er ließ mir die Gelegenheit, etwas zu sagen. Doch als ich schwieg, startete er den Motor, und wir fuhren nach Hause.

»Bran hat mir beigebracht, wie ich die Rudelverbindung einsetzen kann, um die Bindung zu brechen, mit der Vampire ihre Beute kontrollieren«, sagte er in die Stille. »Daher wusste ich, was ich tun muss. Ich habe wegen des Bandes zwischen dir und Stefan nachgefragt, aber Bran meinte, bei einer einvernehmlichen Bindung wäre es etwas anderes.«

Ich nickte. Mein neu empfundenes und wenig Begeisterung hervorrufendes Verständnis der Art, wie diese Blutverbindungen auf Seelen wirkten, erlaubte mir, das Problem zu visualisieren. Einvernehmliche Bindungen waren wie ein doppelt gewundenes Seil statt einer einfachen Kordel. Und ich verstand auch, wie das Blut diese Bindungen möglich und stärker machte.

All das wusste ich, weil die Verbindung zwischen dem Seelendieb und mir jetzt, wo er mein Blut gekostet hatte, noch stärker geworden war. Der Schnitt über meinem Schulterblatt brannte. Ich war mir sicher, dass es eine normale Schnittwunde war. Aber die Tatsache, dass der Seelendieb sich damit von meinem Blut genährt hatte, vermittelte mir das Gefühl, es wäre die schlimmste Wunde, die ich in diesem Kampf davongetragen hatte. Vielleicht stimmte das.

Ich wollte rennen, aber ich war im SUV gefangen, also wippte ich mit dem Fuß. Das Problem bestand darin, dass es momentan nichts gab, wovor ich wegrennen oder worauf ich zurennen konnte, aber mein mit Adrenalin durchfluteter Körper verstand das nicht.

»Bran sagt, wenn es sich zum Problem entwickeln sollte, wäre die einfachste Lösung, Stefan umzubringen«, meinte Adam. »Das könnte ich tun.«

Ich teilte Adams tiefe Überzeugung in dieser Hinsicht nicht ganz, aber ich nickte erneut. Ich wusste, dass Adam Stefan nicht ohne guten Grund töten würde – und hatte nicht vor, sauer auf Adam zu werden, weil er diesen Vorschlag gemacht hatte, weil ich mir ziemlich sicher war, dass er es gesagt hatte, um mir eine Reaktion zu entlocken. Es war nett von ihm, dass er mich ablenken wollte, aber Manipulation war ein bisschen zu viel. Vielleicht sollte ich ihm tatsächlich die Haare blau färben. Ich rieb mir die Augen, weil ich nicht weinen wollte. Das hätte die falsche Botschaft gesendet.

»Mercy?«, fragte Adam leise.

»Ich denke nach«, erklärte ich ihm. »Lass mich erst meine Gedanken ordnen.«

Er nickte. »Das kriege ich hin, Liebling.«

Nach einer Weile fragte ich: »Hast du Warren nach Hause geschickt und den Rest in Honeys Wagen gesetzt, um mich von Zee fernzuhalten?«

»Ja«, sagte er. »Wenn ich dich direkt zur Werkstatt gefahren und er dich nach dem Seelendieb gefragt hätte, was hättest du getan?«

Ich antwortete nicht. Weil ich mir nicht sicher war. »Was hätte ich ihm erzählen können, was er nicht bereits weiß?«

»Dass du ihn anrufen wirst, wenn du herausfindest, wo der Seelendieb ist«, sagte Adam. »Ich dachte, du solltest dir etwas Zeit lassen, bevor du ein mächtiges, uraltes und verfluchtes Artefakt an einen mächtigen, uralten, eisengeküssten Fae übergibst. Ich will damit nicht sagen, dass wir das nicht tun sollten, aber wir sollten es erst nach reiflichen Überlegungen tun.«

Auch das kommentierte ich nicht. Er hatte nicht unrecht.

»Bist du vorhin so explodiert, weil du Angst vor dem Seelendieb hast?«, fragte Adam.

»Ja. Und vor Wulfe.«

Adam antwortete nicht, weil er wusste, dass ich ihm nicht alles erzählte.

»Ich fürchte mich davor, was passieren wird, wenn Zee den Seelendieb bekommt«, sagte ich, obwohl ich mir nicht mal sicher war, ob diese Sorge eine Rolle gespielt hatte, bevor Adam dafür gesorgt hatte, dass ich dem alten Fae nicht begegnete, bevor ich ausreichend Gelegenheit zum Nachdenken gehabt hatte.

Ich kannte Zee inzwischen seit über zehn Jahren. Ich liebte ihn wie ein Familienmitglied. Er hatte mir mehr als einmal das Leben gerettet. Aber ich stimmte Tad zu, wenn er sich Sorgen um Zees Interaktion mit Izzy machte. Adam hatte nicht unrecht mit seiner Anmerkung, dass wir Zees Interesse am Seelendieb mit Vorsicht betrachten sollten. Ich dachte an diesen Schweißtropfen auf dem Gesicht meines alten Freundes, als er von dem Artefakt gesprochen hatte. Mir fiel nichts ein, was ich ausreichend begehrte, um deswegen ins Schwitzen zu geraten – abgesehen von Adam. Ich verstand, wie der Seelendieb die Leute um sich herum beeinflusste – nicht nur seinen Träger. Zee und der Seelendieb zusammen klangen, jetzt, wo ich wirklich darüber nachdachte, nach einer wirklich schlechten Idee. Ich war mir nur nicht sicher, ob uns eine andere Wahl blieb.

»Und?«, fragte Adam. »Du fürchtest dich noch vor etwas anderem, denn die bisherigen Punkte würden dich noch nicht dazu bringen, Kyle anzuschreien.«

Vor mir, dachte ich. Ich fürchte mich vor mir selbst.

»Vampire haben Seelen«, sagte ich plötzlich. Und auch wenn Adam es so empfinden mochte, es war kein Themenwechsel.

Ich konnte spüren, dass er mich ansah, doch ich hielt das Gesicht abgewandt. »Alte Seelen sind nicht unbedingt größer als neuere, jüngere Seelen. Sie haben nur mehr Krümmungen und Windungen.«

»Hast du eine philosophische Diskussion mit dem Seelendieb geführt, während ihr gekämpft habt?«, fragte Adam trocken.

»Wulfe war immer verkorkst«, sagte ich, während ich mich am Stoff meiner Jeans zu schaffen machte. »Vielleicht war er eine Art Experiment.« Ich empfing einen vagen Eindruck von Gesichtern, die mir nicht viel verrieten. Waren das seine Eltern gewesen? Das Gefühl, das von ihnen ausging, war nicht elterlich. »Vielleicht war er ein Haustier«, hörte ich mich selbst sagen. Das war nicht der wichtige Teil. Ich sortierte im Kopf das Wichtige aus und brachte das Gespräch wieder auf Kurs.

»Hexe und Zauberer und Magier und Vampir und ein Anflug von Fae, der inzwischen fast verschwunden ist.« Es war ein kurzer Eindruck gewesen, den ich nicht genauer benennen konnte. »All diese verschiedenen Arten von Magie zu kontrollieren war immer eine Gratwanderung, aber überwiegend hatte Wulfe Erfolg damit.« Er hatte seine Erzeuger getötet und war auf gut Glück durch die Welt gewandert – länger, als mir bisher gewusst gewesen war. Vielleicht war er sogar älter als Bran. »Zuerst fand er Marsilia, dann Stefan und schließlich Bonarata. Sie haben sich um ihn gekümmert. Er wusste so viel, verstand so viel und war so verloren. Bonarata hat Wulfe überzeugt, ihn zu verwandeln. Wulfe war selbst damals schon alt, aber Bonarata war sein Erster – der erste Vampir, den er geschaffen hat.«

»Mit wem hast du dich unterhalten?«, fragte Adam.

Ich schüttelte den Kopf. »Bonarata verstand nicht, was Wulfe war. Verstand nicht, dass das bedeutete, dass Bonarata Wulfe gehorchen musste. Bonarata kann nicht gut mit Angst umgehen, also hat er sich aufgemacht, Wulfe zu zerstören.« Ich hielt inne. »Und ich glaube, er war auch eifersüchtig – auf Marsilias Gefühle für Wulfe. Deswegen hat Wulfe zugelassen, dass Bonarata Marsilia verwandelt. Aber Wulfe versteht nicht, wie Eifersucht funktioniert.«

»Mercy?«, fragte Adam wachsam. »Muss ich dich zu Sherwood bringen? Oder zu Bran?«

Ich hob den Arm und er fing meine Hand ein. Seine Finger waren sehr warm. Oder meine sehr kalt.

»Ich glaube, wir müssen nur dieses verdammte Artefakt loswerden«, sagte ich ruhig, was mir erst bewusst machte, dass ich bisher in einem träumerischen Singsang gesprochen hatte. Ich räusperte mich. »Kojote hat teilweise Macht über die Seelen und den Tod – und ich glaube, dass das mit dem Einfluss zusammenhängt, den der Seelendieb auf mich ausübt.«

»Okay«, sagte Adam, ohne meine Hand freizugeben.

»Lass mich dir von Wulfe erzählen, weil es von Bedeutung ist und ich nicht weiß, ob ich mich später noch an alles Wichtige erinnern werde.« Oder ich könnte sterben, und du musst trotzdem über Wulfe Bescheid wissen. Falls du, mein Geliebter, derjenige sein wirst, der sich ihm und diesem Artefakt stellen muss.

»Okay«, sagte er wieder.

»Ich weiß manche Dinge erst, wenn ich sie laut ausspreche«, erklärte ich. »Also werden Teile dessen, was ich sage, nicht wichtig sein.« Ich hatte Wulfe nur sehr kurz in die Augen gesehen, und das in einem Traum. Und ich hatte alles gesehen. Mein Kopf schmerzte mehr als die Schnittwunde, die gegen das Polster des Sitzes gedrückt wurde.

»Okay.« Diesmal klang Adams Stimme sehr sanft.

»Bonarata hatte sich vorgenommen, Wulfe zu brechen, aber er verstand nicht, womit er es zu tun hatte, weil Wulfe es ihm nie verraten hat. Bonarata wusste, dass Wulfe Magie wirken konnte, dass etwas mit ihm nicht stimmte, aber er hat diese beiden Dinge nicht miteinander in Verbindung gebracht. Ich weiß nicht, warum Bonarata Wulfe nicht umbringt. Oder vielmehr, Wulfe weiß es nicht. Ich glaube, es hat etwas damit zu tun, dass Bonarata Angst vor Wulfe hat, und ihn umzubringen hieße, diese Angst öffentlich einzugestehen.«

Adam nickte. »So deutet auch Marsilia die Situation. Sie geht davon aus, dass Bonarata für immer Angst vor Wulfe haben wird – wenn Wulfe stirbt, bevor Bonarata diese Angst überwunden hat.«

»Ich verstehe nicht, warum Wulfe nicht Bonarata getötet hat«, sagte ich.

Da war etwas, irgendein Grund – etwas, was Wulfe vor mir verborgen hatte, sobald er bemerkt hatte, dass ich in seine Seele blickte.

»Ist es wichtig?«, fragte Adam.

»Keine Ahnung«, antwortete ich. »Aber andere Dinge sind es. Bonarata hat versucht, Wulfe zu brechen, aber Wulfe war bereits gebrochen. Wulfe ist nicht stur, er ist wie …« Ein Drachen im Wind, und Bonarata war der Wind. Stattdessen sagte ich: »Wie diese Eidechse mit den zwei dunklen Punkten auf dem Hinterteil, die aussehen wie Augen, um Raubtiere zu täuschen. Wenn deine Feinde denken, du wärst an einem bestimmten Ort, sei woanders.« Mehr konnte ich ihm nicht sagen. Es gab noch andere Dinge, die Adam wissen sollte, aber ich konnte sie nicht in Worte fassen.

»Du glaubst, dass die Kontrolle des Seelendiebes über Wulfe nicht so stark ist, wie das Artefakt vermutet«, meinte Adam, weil er gut darin war, zwischen den Zeilen zu lesen.

Das war es. Ich nickte, nur um im Anschluss den Kopf zu schütteln. »Keiner von ihnen kontrolliert Wulfe wirklich. Nicht der Seelendieb, nicht Bonarata und auch nicht Marsilia.«

Im SUV herrschte absolute Stille; mir wurde klar, dass wir an einer roten Ampel angehalten hatten. Wir befanden uns in der Nähe der Kreuzung, an der wir zu meiner Werkstatt abbiegen konnten.

»Und wieso erzählst du mir jetzt nicht, warum du mich nicht ansiehst?«, fragte Adam. »Ich dachte, du hättest vielleicht Kopfschmerzen, aber du achtest sorgfältig darauf, mich nicht anzuschauen.«

»Erinnerst du dich, dass ich dir gesagt habe, dass ich mit dem Seelendieb verbunden bin?«, fragte ich angespannt.

»Ja.«

»Heute, während wir gekämpft haben, hat er mich geschnitten. Hat mein Blut gekostet. Und wenn ich jetzt jemandem in die Augen schaue, dann sehe ich diese Person. Ich habe Mary Jo gesehen, als sie in der Siedhe meine Wunden gesäubert hat. Ich habe Kyle gesehen

»Du hast sie gesehen«, meinte Adam vorsichtig, als er auf den Chemical Drive abbog. »Und zwar nicht mit deinen Augen, richtig?«

»Doch, mit meinen Augen«, blaffte ich. »Tut mir leid, tut mir leid. Ich sehe es mit meinen Augen, so wie ich Magie riechen kann. Nur dass ich Magie auch ohne Nase riechen kann. Für diesen Effekt hier muss ich ihnen in die Augen schauen.«

Das war auch nicht korrekt. Ich hatte Wulfe gesehen, obwohl er keine Augen mehr hatte, in die ich blicken konnte. Dafür hatte er einen Traum erschaffen müssen.

»Mercy?«

»Warte, ich habe gerade eine Offenbarung.« Hatte Wulfe gewollt, dass ich ihn sah? Hatte er mich deswegen gebissen – Blutmagie – und in eine Traumwelt gezogen?

Selbst nach meinem Blick in seine Seele war ich mir in diesem Punkt nicht sicher. Ich konzentrierte mich wieder auf die Erklärung, die ich Adam schuldete.

»Ich sehe« – ich schloss meine plötzlich klammen Finger fester um seine Hand – »in ihre Seelen. Wenn ich mich daran erinnere, ist es eine Art Bild. Aber ich kann dir Dinge über sie sagen, die ein reines Bild mir nicht verraten sollte. Es fühlt sich an, als wären meine Sinne verwirrt. Als könne ich Musik schmecken oder Farben hören. Ich habe Wulfe angesehen und weiß Dinge über seine Vergangenheit, die mir ein kurzer Blick nicht enthüllen sollte.«

»Als Person, die ein paarmal LSD ausprobiert hat«, meinte Adam, »verstehe ich das wahrscheinlich besser, als du denkst.«

»Du?«, fragte ich, ehrlich schockiert. Nicht darüber, dass Leute LSD nahmen, sondern dass Adam es getan hatte.

»Vietnam«, meinte er knapp, als wäre das eine Antwort – und vielleicht stimmte das sogar. »Aber ich verstehe, wie Wahrnehmungen falsch eingeordnet werden können.«

»Es ist wie das, was mit Aubrey geschehen ist«, sagte ich. »Nur dass sie nicht tot sind. Mary Jo …« Ich zögerte. Was ich gesehen hatte, als ich sie, als ich Kyle angesehen hatte, durfte ich eigentlich nicht wissen und noch weniger durfte ich darüber sprechen.

»Glaubst du, das wird so bleiben?«, fragte Adam.

Ich sackte in meinem Sitz zusammen. »Keine Ahnung.«

Wir fuhren eine Weile schweigend, am Messegelände vorbei.

»Können wir bei der Werkstatt anhalten?«, fragte ich.

Wir mussten umdrehen, um das zu tun.

»Willst du Zee sehen?« Er betonte das Wort »sehen« nicht, aber wir wussten beide, was er meinte.

»Nein«, antwortete ich ehrlich. »Wenn ich diese Fähigkeit einsetze, um ihn zu sehen, wird er mir das wahrscheinlich nie verzeihen. Aber ich glaube, ich muss es tun. Denn wenn wir den Seelendieb tatsächlich in unseren Besitz bringen, fällt mir keine andere Lösung ein, als die Sichel an Zee zu übergeben. Und ich weiß nicht, ob das eine gute Idee ist oder nicht.«

Adam sagte nichts dazu.

»Der Seelendieb ist wirklich übel«, sagte ich schwach. »Er hat Kojote Angst gemacht.«

»Wann ist …«, setzte Adam an, nur um abzubrechen. »Egal, das spielt im Moment keine Rolle. Zee ist der Einzige, von dem du glaubst, dass er mit dem Artefakt umgehen kann.« Er brummte. »Alles in allem ist er auch der Einzige, den ich bitten würde, sich darum zu kümmern.«

»Larry hat den Seelendieb bei Bonarata gelassen, statt Zee zu sagen, wo sich das Artefakt befindet«, sagte ich. »Und Bonarata war so ahnungslos, dass er dem Seelendieb Wulfe übergeben hat. Ich muss dir gestehen, dass die Vorstellung, wie der Seelendieb Wulfe reitet, mir eine Höllenangst einjagt.«

Adam hatte immer noch nicht umgedreht, und wir befanden uns inzwischen näher am Haus als an der Werkstatt.

»Hast du deine Meinung über Wulfe geändert, nachdem du ihn gesehen hast?«, fragte Adam.

»Nein.«

»Wie sieht es bei Mary Jo und Kyle aus?«

Ich verstand, worauf er hinauswollte. »Nein.«

»Du weißt genug über Zee, um eine Entscheidung zu treffen«, sagte Adam. Und plötzlich konnte ich wieder atmen, weil er recht hatte.

Er brachte mich nicht zur Werkstatt. Stattdessen fuhr er mich nach Hause. Vor dem Haus stand kein Auto, also war Jesse noch unterwegs.

Adam stieg zuerst aus, weil er nicht an den Folgen eines Kampfes litt. Ich hörte ihn lachen, als ich ungeschickt aus dem Wagen kletterte – aber ich sah erst, worüber er lachte, als ich die Tür zuschlug.

Irgendein Witzbold hatte einen Kürbiskuchen auf den Verandastufen abgestellt. Er stammte offensichtlich aus einem Laden, zu erkennen an der klaren Plastikverpackung. Darauf stand mit Edding: Eine aufrichtige Entschuldigung für Mercy, von ihrem kleinen Kürbis.

Ich schnappte mir den Kuchen. Auf den Stufen lagen auch noch drei kleine Kürbisse. An einem von ihnen klebte eine kleine Karteikarte mit der Aufschrift: Es steht 1 zu 0. Willst du es noch mal versuchen? Auf dem zweiten Kürbis prangte eine große, gemalte Spinne. Der dritte Kürbis war mit unzähligen winzigen Spinnen verziert.

Ich hätte an den Kürbissen riechen können, um herauszufinden, wer sie abgelegt hatte – selbst wenn die Übeltäter Handschuhe getragen hatten, hatten sie das Zeug in einem Auto transportieren müssen. Aber damit hätte ich geschummelt.

Ich ging an der Treppe vorbei in die Küche und stellte den Kuchen neben Medea, die eigentlich nichts auf dem Tisch zu suchen hatte. Sie rollte sich ohne jedes Anzeichen von Schuldbewusstsein auf den Rücken. Ich kraulte ihr den Bauch.

»Du bist eine seltsame Katze«, sagte ich, als sie begeistert mit dem Schwanzstummel schlug, als wäre sie ein Hund.

Adam trat hinter mich und legte die Kürbisse neben Katze und Kuchen. Er schlang die Arme um mich und sagte: »Was kann ich tun, um zu helfen?«

Ich drehte mich in seinen Armen und stellte mich auf die Zehenspitzen, um ihn zu küssen, wobei ich seine Lippen mit geschlossenen Augen fand. Als sein Mund sanft über meinen glitt – nur um die Liebkosung zu vertiefen und in etwas Wilderes zu verwandeln –, fühlte ich, wie die Anspannung, die meinen Körper erfüllt hatte, seit ich die Bücher in der Badewanne bemerkt hatte, in eine andere Art von Spannung umschlug.

Leidenschaft sorgte nicht dafür, dass mein Magen sich verkrampfte oder dafür, dass ich mich unter der Bettdecke zusammenrollen wollte wie ein Kind, das sich vor der Dunkelheit fürchtete. Leidenschaft – oder zumindest Leidenschaft mit Adam – sorgte dafür, dass ich mich mutig fühlte.

»Das«, sagte ich. »Ja. Das ist gut. Stups.«

»Nach oben.« Seine raue Stimme jagte ein Kribbeln über meine Wirbelsäule, weil mein Körper wusste, was ihn erwartete, wenn Adam so klang.

Ich nickte, und Adam hob mich hoch – ich war noch nicht so versunken, dass ich nicht zusammengezuckt wäre, als sein Arm sich über den Schnitt an meinem Rücken legte und meine steifen Muskeln protestierten. Außerdem war ich mir sicher, dass ich mir den unteren Rücken gezerrt hatte.

Adam war von Natur aus aufmerksam, verstärkt durch Training, also überraschte mich nicht, dass er mich ins Bad brachte statt ins Bett. Er entkleidete mich vorsichtig. Als mein Shirt Anstalten machte, an der Wunde zu haften, drückte er einen feuchten Waschlappen darauf, bis der Stoff sich lösen ließ.

»Mary Jo hat sich die Wunde angesehen«, erklärte ich. »Sie sagte, es sei meine Entscheidung, ob ich sie nähen lassen will, aber ihrer Meinung nach würden mich die Stiche mehr stören als der Schnitt selbst.«

»Sie ist ein Werwolf«, meinte Adam, während er meinen Rücken untersuchte. »Für sie ergibt es nie Sinn, eine Wunde zu nähen. Sie hätte einen Schnitt wie diesen bereits geheilt. Sie hat die Wunde desinfiziert?«

»Ja«, sagte ich. »Hatte sie ihren kleinen Verbandskasten nur meinetwegen dabei?« Keine Ahnung, wieso mir der Gedanke nicht früher gekommen war. Aber bei jeder Wunde, die ein Werwolf nicht innerhalb von Minuten heilen würde, wäre der Verbandskasten nutzlos.

»Ja«, antwortete Adam und ich schnaubte, weil sein Unterton »Natürlich« sagte.

Er zog mich nackt aus. Hier und dort hielt er inne, um andere Verletzungen und Prellungen zu untersuchen. Aber ich wusste, dass es nicht viel war. Adams Fingerspitzen glitten über den Muskel an meiner Seite, der mir Probleme bereitet hatte, als er mich in der Küche hochgehoben hatte.

»Geprellt«, sagte er.

»Die Wand.« Ich war mit dem Rücken gegen die Wand geknallt. Gut. Prellungen verheilten schneller als Zerrungen – oder zumindest beeinträchtigten sie mich nicht so lange.

Adam befeuchtete einen weiteren Lappen und wusch mir sanft mein Gesicht sowie meine Hände und Arme, was mich daran erinnerte, dass ich blutverschmiert war.

»Das meiste Blut stammt von Wulfe«, sagte ich. Und berichtete ihm in mehr Details als dem Rudel, wie ich versucht hatte, Wulfe aus dem Griff des Seelendiebs zu befreien – und wie er diese Freiheit genutzt hatte.

»Er hat sich den Bauch aufgeschlitzt, um mich zu retten.« Wahrscheinlich war das nicht sein einziger Beweggrund gewesen, aber ich wollte Adam nicht verraten, wie sehr der Seelendieb sich nach mir verzehrte, oder was er seines Erachtens mit meinem Tod erreichen konnte. Nicht, weil ich Adam etwas verheimlichen wollte, sondern weil ich wollte, dass er mich liebte. Und wenn ich das gesamte, abgedrehte Chaos auspackte, das mein Besuch in der Siedhe gewesen war, würde Adam noch eine ganze Weile nicht mit mir schlafen wollen.

»Er hätte mich jederzeit töten können«, erklärte ich Adams Schulter – weil er mich inzwischen eng an sich gedrückt hatte. Wenn mein Gesicht an seiner Schulter vergraben war, bestand keine Gefahr, dass er mir in die Augen sah.

»Es gibt vermutlich Leute, die noch unwilligere Sklaven abgäben als Wulfe«, kommentierte Adam. »Aber mir fallen weniger ein, als ich Finger an der rechten Hand habe.«

»Wie kommt es, dass du noch voll bekleidet bist, ich aber schon nackt?«, beschwerte ich mich, weil ich nicht länger über den Seelendieb und Wulfe sprechen wollte.

Adam lachte. Es war ein leises, intimes Geräusch. »Weil du dich an mich gepresst hast, bevor ich mich ausziehen konnte.«

Ich wich zurück und setzte mich auf den kalten Marmor des Waschtisches, weil meine Füße wehtaten und ich ein wenig Abstand zwischen uns bringen musste. So konnte ich seinen Striptease beobachten, ohne ihn zu berühren – was uns nur aufgehalten hätte.

Ich liebte es, Adam dabei zu beobachten, wenn er sich auszog.

»Was?«, fragte er, als er aus den Jeans stieg.

Ich dachte daran, die Augen zu schließen, bevor ich aus Versehen seinen Blick auffing. »Was meinst du mit was

»Du hast gegrinst.«

Ich spürte, wie meine Lippen sich erneut verzogen. »Ich bin überrascht, dass nicht bereits irgendwelche zupackenden Frauen aus reinem Neid einen Profikiller auf mich angesetzt haben«, meinte ich. »Dabei wissen sie noch nicht mal, dass das Äußere dem Mann darunter nicht ansatzweise das Wasser reichen kann.«

Es folgte ein Moment der Stille. Ich spürte, wie mein Grinsen in ein sanftes Lächeln umschlug, aber meine Mundwinkel wollten sich nicht senken. Ich hatte Schmerzen am ganzen Körper. Ich war vollkommen erschöpft. Sobald ich mir erneut erlaubte nachzudenken, wäre ich erschöpft und verängstigt. Und all das spielte keine Rolle. Adam machte mich glücklich.

»Du kannst mich ruhig ansehen, weißt du?«, sagte er, und seine Stimme war näher als erwartet. »Du brauchst den Seelendieb nicht, um meine Seele zu sehen – das hast du längst getan.«

Mein Gefährte besaß ein großes Herz. Er war großzügig und offen. Neben ihm wirkte ich wie ein hoffnungsloser Feigling. Für mich hätte es keine Rolle gespielt, ob er bereits einmal in meine Seele geblickt hatte – ich würde trotzdem nicht wollen, dass es noch mal geschah. Ich hätte zu viel Angst davor, was er dort entdecken könnte.

Ich schluckte schwer. »Ich habe fest vor, dich zu vernaschen«, erläuterte ich ihm. »Das andere würde mich nur ablenken.«

Er stieß sein typisches Adam-Brummen aus, dann hörte ich sanfte Schritte, die mir verrieten, dass er ins Schlafzimmer gegangen war. Ich öffnete die Augen und glitt vorsichtig vom Waschtisch. Meine Haut klebte am Marmor, sodass ich sie langsam lösen musste. Trotz der Schmerzen in meinen Füßen war es keine gute Idee gewesen, mich zu setzen. Der Abstieg war unangenehm.

Adam verpasste das alles – wie ich es geplant hatte. Als er ins Bad zurückkehrte, stand ich auf den Fliesen, und er hielt eine seiner Seidenkrawatten – dunkelblau mit schokoladenbraunen Punkten in der Farbe seiner Augen.

»Nicht diese«, sagte ich. »Das ist meine Lieblingskrawatte.«

Trotzdem hob er den Stoff und verband mir damit die Augen. »Meine auch«, sagte er. Dann presste er seine Lippen an mein Ohr und flüsterte: »Ich mag es, wenn du meine Kleidung trägst.«

Ich protestierte nicht mehr. Wofür gab es Reinigungen?

Adam hob mich erneut hoch – wobei er diesmal darauf achtete, die Wunde auf meinem Rücken und meinen geprellten Muskel nicht zu berühren. Als er mich schließlich auf das kühle Laken legte, hatte ich all meine Wehwehchen bereits vergessen.

Es dauerte eine Weile, aber schließlich vergaß ich sogar meinen eigenen Namen. An seinen allerdings konnte ich mich erinnern.

Verschwitzt, keuchend und glücklich lag ich bäuchlings auf dem Bett, während Adam das Chaos aufräumte, das wir angerichtet hatten. Er trug Salbe auf meinen Rücken auf. Erst dann löste er die Krawatte um meinen Kopf.

»Ich glaube, sie wird es überleben«, sagte er und klang fast überrascht.

»Es lohnt sich, Qualität zu kaufen«, murmelte ich.

»Du solltest etwas essen.«

Wenn ich mich bewegte, würde irgendetwas wehtun. Im Moment hatte ich keinerlei Schmerzen.

»Geh weg oder komm ins Bett«, gab ich zurück.

»Ich dachte, es sind die Männer, die nach dem Sex schlafen müssen«, beschwerte er sich, doch ich hörte das Lachen in seiner Stimme. Ich machte Adam ebenfalls glücklich.

»Ich habe gegen einen besessenen Vampir gekämpft. Ich darf schlafen.«

»Na gut«, sagte er und tätschelte mir den Hintern, bevor er mich zudeckte.

Wahrscheinlich hätte ich mir Gedanken darüber machen sollen, dass die Salbe auf meinem Rücken in die Bettwäsche einzog. Aber mir fehlte die Energie dafür.

Adam schloss die Jalousien, dann ging er duschen. Ich war bereits eingeschlafen, bevor er das Bad verließ. Irgendwer versuchte, mich zum Abendessen aufzuwecken, ließ mich aber zufrieden, nachdem ich die Person angeschrien hatte. Falls ich träumte, bemerkte ich es nicht.

Ich erwachte in einem dunklen Zimmer, mit einem schlafenden Adam neben mir. Ich hatte ihm die Decke geklaut, und er lag nackt und bäuchlings auf dem Bett. Ich konnte ein Lächeln nicht unterdrücken – und das hatte nichts mit seinem muskulösen Körper zu tun. Er hätte mich aus der Decke auswickeln können, aber damit hätte er mich geweckt.

»Frost …«

Die Erinnerung an Wulfes Stimme sorgte dafür, dass sich Falten auf meiner Stirn bildeten. Wieso hatte er über Frost sprechen wollen? Frost war nur noch Staub. Adam und ich hatten ihn gemeinsam getötet. Doch als Frost noch auf Erden gewandelt war, hatte er ein Talent für Seelen besessen. Er hatte sich von ihnen genährt.

Adam rührte sich. Ich löste mich aus der Decke und zog sie über ihn.

»Ich stehe auf«, flüsterte ich. »Schlaf weiter. Ich gehe nach unten, um mir etwas zu essen zu holen.«

Brummend streckte er den Arm nach mir aus. Ich berührte seine Hand und küsste seine Wange. Dann schnappte ich mir einen Jogginganzug aus der obersten Schublade meiner Kommode und zog mich an, bevor ich den Raum verließ.

Es war still im Haus. Aus Jesses Zimmer hörte ich gleichmäßiges Atmen. Medea schloss sich mir am Fuß der Treppe an und wand sich bis in die Küche um meine Knöchel. Im Kühlschrank fand ich eine Tupperdose mit Spaghetti und Salat, die offensichtlich für mich bestimmt war. Daneben stand der Kürbiskuchen. Zwei Stücke fehlten. Ich warf ein Hackbällchen in Medeas Futterschale, dann setzte ich mich und aß, als hätte ich seit einer Woche keine Nahrung gesehen. Nachdem ich die Dose geleert und zusätzlich noch ein großes Stück Kuchen verschlungen hatte, ging ich erneut zum Kühlschrank und holte alles heraus, was ich für Sandwiches brauchte.

Und beim zweiten Biss in mein belegtes Brot verstand ich, was Wulfe gemeint hatte. Ich deutete damit sehr viel in ein einziges Wort hinein, aber ich war mir ziemlich sicher, dass ich recht hatte.

Mein geistesabwesender Blick wanderte zum Fenster, nur um festzustellen, dass Annie, in ihrer Lieblingsgestalt eines zehnjährigen Mädchens – komplett mit zerzaustem Haar und schmutzigem Kleid – auf dem Picknicktisch saß, auf dem ich gesessen hatte, als der Schnitter erschienen war.

Mir gefror das Blut in den Adern, und ich fragte mich, wie lange sie wohl schon anwesend war.

Ich beschloss, dass ich ab jetzt nachts die Vorhänge zuziehen würde. Schon eine Sekunde später änderte ich meine Meinung wieder. Vorhänge hätten bedeutet, dass ich nicht sehen konnte, was sich jenseits des Fensters befand.

Annie winkte mich heran.

Ich sah die Katze an. »Ich glaube nicht, dass mich etwas Gutes erwartet«, sagte ich, trotzdem ging ich nach draußen, mein Sandwich in der Hand. Wenn der Schnitter zurückkehren sollte, müsste er sich auf Annie konzentrieren, nicht auf mich.

»Was verschafft mir die Ehre deines Besuches?«, fragte ich, als ich die Küchentür hinter mir schloss.

Neben ihr auf dem Tisch ruhte ein unordentliches Bündel aus grobem Stoff, das mit einem Band umwickelt war, das an einen Darm erinnerte. In dem improvisierten Beutel befand sich ein rundlicher Gegenstand, ungefähr so groß wie eine Honigmelone.

»Du wirst den Seelendieb in deinen Besitz bringen«, erklärte Annie mit mehr Vertrauen, als ich selbst aufbrachte. »Und ich habe ein Geschenk, das du mit meinem Gruß dem alten Schmied überbringen sollst. Ich würde ihm auch den zweiten geben, aber ich kann mich nicht erinnern, wo ich ihn gelassen habe.« Sie presste kokett einen Finger an ihre Wange. Offensichtlich hatte jemand zu viele Shirley-Temple-Filme geschaut.

Ich aß in aller Ruhe mein Sandwich auf, dann wischte ich mir die Hände an der Jogginghose ab. Als ich zu ihr ging, schob sie das Bündel in meine Richtung.

»Bring mir den Seelendieb«, sagte sie, und ihre Stimme klang nicht länger wie die eines kleinen Mädchens, »und ich sorge dafür, dass er dich nicht länger belästigt. Bring mir den Seelendieb, und ich schulde dir einen Gefallen, proportional zum Geschenk der Sichel.«

Sie öffnete den Beutel und schob den Stoff zurück, bis er als eine Art Präsentationstuch für den Gegenstand darin diente. Dann entzündete sie eine Laterne – oder erschuf eine Laterne, weil ich bisher keine Lampe bemerkt hatte. Vielleicht glaubte sie, ich hätte nicht verstanden, worum es sich handelte, und bräuchte mehr Licht.

Ich sah ihr in die Augen – nur um zusammenzuzucken, als mir wieder einfiel, warum ich das nicht tun sollte. Aber ich hatte nur Annies schmutziges Gesicht gesehen. Sie lächelte lauernd, als ich erneut ihren Blick suchte. »Glaubst du, es liegt daran, dass ich keine Seele besitze?«

»Ich glaube, es ist mehr nötig als die Magie eines alten Artefaktes, um mich in deine Seele blicken zu lassen«, gab ich zurück.

Sie lachte erfreut. »Ich mag dich wirklich«, sagte sie.

Ich starrte das Ding auf dem Tisch an. »Wenn ich ihm das bringe, wirst du die Abmachung – diejenige, die dir erlaubt, eine Tür in unserem Garten zu haben und die beinhaltet, dass du niemandem Schaden zufügst, der in unserem Haus lebt – auf mein Haus dort drüben ausweiten.« Ich deutete in Richtung des Fertighauses. »Damit ich es vermieten kann, ohne mir Sorgen um die Bewohner machen zu müssen.«

Wenn jemand aus dem Feenvolk um etwas bat, wurde erwartet, dass man eine Gegenleistung forderte. Ich ließ mir nicht anmerken, wie wichtig mir diese Forderung war – sondern benahm mich, als ginge es nur um einen angemessenen Lohn für den Botendienst.

»Einverstanden«, sagte Annie locker und sorgte so unwissentlich dafür, dass Tads Leben sicherer und leichter wurde. Sie würde wahrscheinlich nicht glücklich mit den Folgen sein, aber es war ein fairer Handel. »Und der Rest?« Sie versuchte nicht mal, ihren Eifer zu verbergen.

Ich griff nach dem Trinkpokal – der weder so groß noch so schwer war, wie er aussah, obwohl er scheinbar aus massivem Silber bestand. Es bestand kein Zweifel daran, dass ich ein Kunstwerk in Händen hielt – unglaublich schön, auch wenn der Pokal die Form eines Schädels hatte. Instinktiv hob ich ihn hoch, indem ich die Finger um die Rundung legte. Er lag gut in der Hand.

Ich versuchte, mir den Unterkiefer dazu vorzustellen, aber ich hielt nur den Schädel – auch wenn noch zu sehen war, wo der Kiefer eingehängt gewesen war. Die Zähne im Oberkiefer waren ein wenig unregelmäßig, und ein Eckzahn fehlte. Zuerst konnte ich nicht erkennen, welche Farbe die Juwelen in den Augenhöhlen hatten. Doch als ich den Pokal drehte, blitzten die Edelsteine bläulich.

»Du siehst ihn als Mentor. Als jemanden, der Maschinen in Ordnung bringt. Du glaubst, er wäre dein Freund«, sagte Annie. Interessant, dass sie seinen Namen nicht nannte. Gewöhnlich machte sie sich keine Sorgen darum, seine Aufmerksamkeit zu erregen.

»Das tue ich«, stimmte ich zu.

»Er sucht nach Artefakten, um die Magie zurückzuholen, die ihm einst gehörte«, erklärte sie mir.

Das stimmte ebenfalls, auch wenn die Formulierung missverständlich war. Ich rechnete bei Annie mit irreführenden Wahrheiten. Seit ich Zee kannte, sammelte er als beiläufiges Hobby Waffen, die er selbst geschaffen hatte. Meiner Ansicht nach ging es mehr darum, seine Kinder um sich zu versammeln. Ich hatte nicht gewusst, dass er auch wilde Artefakte sammelte, bis er mir davon erzählt hatte. Er beutete sie nicht aus, um verlorene Macht zurückzugewinnen.

Zumindest glaubte ich das.

»Du kennst ihn nicht.« Annie beobachtete mich genau. »Eine Dekade ist für seine Art, was ein Atemzug für dich ist. Sieh dir das an.« Sie deutete auf den Pokal, den ich hielt. »Sieh dir das genau an, Mercedes Thompson Hauptman, und erinnere dich daran, wer er ist: der Dunkle Schmied von Drontheim, der seine eigene Tochter getötet hat.«

Sie hielt inne, doch ich reagierte nicht. Diese Geschichte kannte ich.

Annie runzelte in offensichtlicher Enttäuschung die Stirn, bevor sie fortfuhr: »Wieland Schmied, der einen König gezwungen hat, aus dem Schädel seines eigenen Kindes zu trinken. Erinnere dich daran, wer er ist; erinnere dich an die Wahrheit, die ich dir eröffnet habe. Und dann bring den Seelendieb zu mir. Er ist nicht das erste mächtige Artefakt, für dessen Sicherheit ich gesorgt habe – und vor dem ich andere beschützt habe.«

Sie rutschte vom Tisch und griff nach dem leeren Beutel. Mit dem Stoffbündel in der Hand hüpfte sie zurück zu der Tür in der Mauer. Erst da wurde mir bewusst, dass sie den Pokal selbst kein einziges Mal berührt hatte. Meinem Gefühl nach ging keine Bedrohung von ihm aus.

Obwohl ich gehört hatte, wie die Küchentür sich geöffnet hatte, wandte ich Annie nicht den Rücken zu. Ich wartete, bis sie verschwunden war und die Tür sich geschlossen hatte.

Adam sagte nichts, als ich den Schädelpokal in die Küche trug und zwischen die Kürbisse stellte. Er legte den Arm um meine Schultern, während wir die feingearbeiteten Details betrachteten, die dem scheußlichen Objekt Schönheit verliehen. Die Edelsteine zeigten ein tiefes Blau, waren im Cabochon-Stil geschliffen und hatten ungefähr die Größe von Rotkehlcheneiern. Saphire, vermutete ich. Aber ich war keine Expertin; sie konnten auch etwas anderes sein – zum Beispiel in Juwelen verwandelte Augäpfel. Sie waren ein wenig kleiner als die Augen, die ursprünglich diese Höhlen gefüllt hatten. Ich vermutete, dass sie geschrumpft waren, als Zee sie verwandelt hatte.

»Ich weiß, wo Bonarata unsere Vampire versteckt«, erklärte ich Adam. Wulfe hatte mir den Hinweis gegeben, als er mich gefragt hatte, ob ich mich an Frost erinnerte. »Wir müssen heute Nacht hinfahren. Nur du und ich, glaube ich. Ich will Bonarata keinen Grund liefern, uns den Krieg zu erklären. Und ich will auf keinen Fall, dass einer unserer Wölfe aus Versehen den Seelendieb anfasst.«

Adam zog einen Stuhl heraus, und ich folgte seinem Beispiel. Die nächsten zehn Minuten schmiedeten wir Pläne. Ich war froh, dass ich nicht preisgegeben hatte, wie dringend der Seelendieb mich töten wollte, um jede Person in seinen Besitz zu bringen, die mit mir verbunden war. Hätte ich das getan, hätte sich Adam wahrscheinlich geweigert, heute Nacht alleine mit mir loszuziehen. Ich allerdings hatte so ein Gefühl – ein drängendes Gefühl, das sich nach einer Botschaft von Kojote anfühlte –, dass wir das jetzt erledigen mussten.

Adam hatte sich angezogen, bevor er nach unten gekommen war, also ließ ich ihn in der Küche zurück, wo er Jesse eine Nachricht schrieb, während ich losstiefelte, um mich angemessener zu kleiden. Ich wusste nicht, wo das Katana gelandet war. Vermutlich hatte einer der Wölfe die Waffe mitgenommen, oder das Schwert lag immer noch in der Siedhe.

Ich rief Tad an, während ich den Safe öffnete.

»Bin schon unterwegs«, sagte er. »Adam hat mir eine Nachricht geschrieben, dass ihr mich braucht.« Er gähnte.

Ich erklärte ihm die Situation, als ich nach der von mir auserkorenen Waffe griff. Ich dachte darüber nach, noch andere Waffen mitzunehmen. Letztendlich entschied ich mich lediglich für meine übliche, verdeckt getragene Pistole. Falls ich mehr Schlagkraft brauchte, würde der Wanderstab diesen Zweck so gut erfüllen wie jede andere Waffe.

»Ich verstehe«, sagte Tad. »Bin in zehn Minuten da.«

Adam war nach oben gekommen, während ich telefoniert hatte. Er griff über meine Schulter und zog einen rokushakubô aus dem Safe. Es gibt verschiedene Varianten des , und Adam hatte ein oder zwei Favoriten – die er alle im Safe aufbewahrte. Dieser spezielle Kampfstab war ein wenig länger als Adam groß (wie der Name schon andeutete) und bestand aus unbehandeltem Hickory-Holz. Ungefähr dreißig Zentimeter vor den Enden umschlossen fünf Zentimeter breite Stahlbänder das Holz.

Er musterte meine Waffen.

»Es ist unhöflich, ein Geschenk zurückzugeben«, sagte er.

Ich senkte den Blick auf den Seidengürtel in meinen Händen. »Ich glaube nicht, dass der Gürtel ein Geschenk war«, erklärte ich ihm. »Ich glaube, Wulfe hat ihn mir zur sicheren Verwahrung anvertraut. Bonarata hat ihm den Gürtel einmal weggenommen, und er wollte dem Herrn der Nacht keine Gelegenheit bieten, das ein zweites Mal zu tun.«

Jeder Museumskurator hätte eine Grimasse gezogen, als ich den Gürtel um meine Taille schlang und die Bänder verknotete. Aber ich ging nicht davon aus, dass Wulfe sich daran stören würde. Schließlich war es ein Gürtel.

»Verrätst du mir, wo wir hinfahren?«, fragte Adam.

»Nach Benton City«, sagte ich. »Zu dem Weingut, auf dem wir Frost getötet haben.«