Adam
Adam führte Zee, George und Tony zur Gerichtsmedizin, einem kleinen Gebäude an einer Ecke neben dem riesigen Strafjustizgebäude. Streng genommen hätte das Mordopfer aus dem Supermarkt in die Gerichtsmedizin von Franklin County gebracht werden müssen – aber Benton County beschäftigte einen Spezialisten für übernatürliche Verbrechen, also waren sowohl die Leiche des Jungen als auch die der Hexe hierhergebracht worden.
»Geht es dir gut?«, fragte George.
Adam nickte, womit er sich gerade noch auf der akzeptablen Seite der Grenze zwischen Lüge und Wahrheit bewegte. Sein Wolf war unglücklich mit dem Gedanken, Mercy allein im SUV zurückzulassen.
Nachdem seine Gefährtin wieder menschliche Gestalt angenommen hatte, war sie ungewöhnlich still gewesen und hatte am ganzen Körper gezittert. Normalerweise hätte Adam angenommen, dass sie einen Schock erlitten hatte – aber Normalität gab es in Bezug auf Mercy eigentlich nicht. Sie hatte abgelehnt, als er angeboten hatte, ihr etwas zu essen zu besorgen, und er hatte sie vor den anderen im Auto nicht drängen wollen. Als sie vorgeschlagen hatte, im Auto zu bleiben, weil ihre Füße wehtaten, hatte Adam darauf vertraut, dass sie am besten wusste, was sie gerade brauchte.
Das war ein harter Kampf gewesen. Es lag – als Mann und Wolf – in seiner Natur, sich um die Leute um sich herum zu kümmern. Als er begonnen hatte, um Mercy zu werben, war er widerwillig zu der Erkenntnis gelangt, dass ihr Leben zu kontrollieren – selbst und vielleicht sogar besonders, wenn es um ihr persönliches Wohl ging – das Gegenteil von Fürsorge darstellte. Probeweise hatte er diese Erkenntnis auch auf das Rudel angewandt und bemerkt, dass es gesünder wurde, stärker. Larry der Goblinkönig hatte nicht ganz falschgelegen, als er gesagt hatte, dass Mercy Adam und das Rudel veränderte.
Trotzdem … auch das Wissen, dass es richtig war, Mercy zurückzulassen, wenn sie ihn darum bat, machte ihm die Sache nicht leichter.
Bevor er Mercy in seinem Wagen allein ließ, hatte er seine Gefährtin in seine Jacke gewickelt, weil sie immer noch zitterte, als liefe die Heizung des SUV nicht auf Hochtouren. Er hatte ihr einen Blick zugeworfen, der absolut klarstellte, dass er von ihr erwartete, ihm so bald wie möglich zu erzählen, was vor sich ging. Sie hatte genickt. Und dieses stumme Versprechen hatte es ihm ermöglicht, die Tür zu schließen und sie zurückzulassen.
Zitternd.
Es gab viele mögliche Erklärungen für dieses Zittern. Doch über die Offensichtlichen hätte sie auch vor den anderen sprechen können. Adam runzelte finster die Stirn.
Weder er noch sein Wolf waren glücklich mit dem Gedanken an Mercy allein in seinem SUV. Etwas Monströseres als sein Wolf erwachte zum Leben. Ein Knurren drängte in seine Kehle, doch er bezwang es, bevor es hörbar wurde.
Mercy glaubte immer noch, dass die Hexe Elizaveta diese entstellte Bestie ins Leben gerufen hatte. Mercy dachte, dass die bösartige Kreatur – die seinem Wolf auf dieselbe Weise ähnelte wie Mercys VW Käfer einem Panzer – verschwinden würde, nachdem sie den Fluch der Hexe gebrochen hatte. Als das Monster blieb, hatte sie beschlossen, dass es einfach Zeit brauchte, um zu verblassen.
Adam wusste es besser.
Elizaveta mochte dem Monster eine Gestalt gegeben haben, aber die Bestie begleitete ihn schon länger, als Mercy am Leben war. Das Monster war geboren worden, als ein gottesfürchtiger Junge – der die Welt für einen überwiegend schönen Ort hielt, der von überwiegend guten Menschen bevölkert wurde – in Südostasien den Krieg kennengelernt hatte. Adam hatte diese Bestie geschaffen, um sich zu schützen; hatte sie eingesetzt, um Situationen zu überleben, die so grauenhaft waren, dass die Erinnerungen daran immer noch seine schlimmsten Albträume erfüllten – und das, obwohl er nun schon seit einem halben Jahrhundert als Werwolf lebte. Adam hatte die Bestie eingesetzt, um Befehle zu befolgen, die kein Mensch mit einem Funken Anstand hätte ausführen dürfen … weil er wusste, dass die Befehle richtig waren, egal, wie scheußlich sie sein mochten.
Er hatte gelernt, die Bestie zu kontrollieren, während andere Soldaten ihren Monstern anheimgefallen waren. Einige von diesen Leuten hatte er getötet – den Mann, der vietnamesische Kinder jagte, nachdem seine Einheit von einem Schuhputzjungen in Stücke gebombt worden war. Den Colonel, der Finger gesammelt hatte. An die meisten von ihnen konnte Adam sich nicht einmal erinnern, weil ihr Tod ihn nicht belastet hatte und der Friedhof seiner Seele bis zum Bersten mit Verstorbenen gefüllt war, deren Tod er tatsächlich bereute.
Nach Adams Verwandlung in einen Werwolf war es ihm nicht schwergefallen, seinen Wolfsgeist zu kontrollieren. Zu diesem Zeitpunkt hatte er bereits seit ein paar Jahren ein viel schlimmeres Monster gezügelt. Seine Zeit in Vietnam hatte geendet. Es hatte kein Bedarf mehr für die ältere, urwüchsige Bestie bestanden, also hatte er sie in einen Käfig gestopft und sie vergessen, bis Elizaveta sie erneut befreit hatte.
Adam war sich sicher, dass sie diesmal dauerhaft bleiben würde. Für einen Moment wurde er zurückkatapultiert zu der Nacht in Mercys Werkstatt, als die Bestie ihn überrumpelt hatte und ausgebrochen war.
Glaube, erinnerte er sich selbst, war wichtig. Er konnte seine Monster kontrollieren, und zwar beide. Und er würde sie einsetzen, um sein Rudel, sein Revier zu verteidigen. Seine Gefährtin.
»Es ist ein schlechtes Zeichen, wenn du knurrst, ja?«, fragte Zee.
»Es geht ihm gut«, sagte George. »Ist schwer, diesen kleinen Kojoten zurückzulassen, wenn sie gerade eine schwere Zeit durchmacht. Sieht Mercy nicht ähnlich zurückzubleiben, wenn wir Leichen anschauen gehen. Vielleicht ist irgendwo ein Ghul unterwegs, der nur darauf wartet, dass wir sie allein lassen.« George ging hinter ihm, aber Adam konnte das herausfordernde Grinsen in seiner Stimme hören. »Er muss so denken. Ist hart, der Alpha zu sein.« George glaubte ebenfalls, dass Adam seine Monster kontrollieren konnte.
»Nicht hilfreich«, erklärte Adam dem anderen Werwolf und wusste, dass George die dankbare Lüge hören könnte. Georges laut geäußertes Vertrauen war hilfreich.
»Das stimmt so nicht«, erklärte Tony fest. »Sie ist bewaffnet. Sie ist gefährlich. Und sie sitzt in einem SUV auf dem Parkplatz des Strafjustizgebäudes, nicht auf einem uralten Friedhof mitten in Transsilvanien.«
Was, mehr oder weniger, den Gedankengang in Worte fasste, der es Adam erlaubt hatte, Mercy allein zu lassen, als sie darum gebeten hatte.
Adam hielt die Tür zum Gebäude auf und wartete, bis die anderen ihn passiert hatten. George warf ihm im Vorbeigehen einen mitfühlenden Blick zu. George war ein zuverlässiger Wolf; er folgte Anweisungen, traf auch auf sich gestellt gute Entscheidungen und kümmerte sich so gut wie möglich um die Leute in seiner Umgebung. Gewöhnlich dachte er mehr, als er redete – was eine gute Eigenschaft war, sowohl für einen Polizisten als auch für einen Werwolf.
Tony Montenegro … Mercy hatte seine Freundschaft gewonnen, bevor Adam ihr das erste Mal begegnet war. Er war schlagfertig und anpassungsfähig. Auch wenn Adam ihn noch nie in Aktion gesehen hatte, fand er, dass Tony sich bewegte wie jemand, der schon eine Menge Kämpfe geführt hatte.
Er war Undercover-Agent gewesen, und laut Adams Kontakten war Tony mehrfach tief in kriminelle Organisationen eingedrungen, wenn auch nicht in den Tri-Cities. Er hatte geholfen, Drogenhändler zu verhaften und diverse Menschenhändlerringe hochgehen zu lassen. Adam vermutete, dass Tony seine eigene Version der Bestie in sich trug. Falls das stimmte, trug er die Last gut.
Tony war die perfekte Kontaktperson zwischen den Werwölfen und dem KPD, weil er wusste, wann man lügen musste – und geschickt genug log, dass nicht einmal seine Kollegen merkten, wenn er es tat. Es war schwer, einen geübten Lügner zu finden, der trotzdem eine integre Person war.
Als Letztes betrat Zee das Gebäude.
Diese Geschichte über Schädelpokale besetzt mit Juwelen, die einmal Augen gewesen waren, hatte Adam nicht überrascht. Einige der grauen Lords im örtlichen Reservat waren früher als Götter angesehen worden – und trotzdem ließen sie Zee gegenüber Vorsicht walten. Der Einzige, der das nicht tat – Onkel Mike –, gehörte Adams Einschätzung nach zu der Art von Person, die auf Gefahr zulief statt zu fliehen.
Mercy behandelte Zee wie einen mürrischen alten Mechaniker. Und das war er geworden. Diese Art von Glauben war wichtig, wenn man es mit Magie zu tun hatte. Je länger Zee seinen Glamour, seine magische Verkleidung, trug – je mehr Leute an diese Version des Schmiedes glaubten –, desto mehr wurde die Verkleidung zur Wirklichkeit.
Glaube war wichtig.
Adams Wolf hieß Zee gut, weil er dafür sorgte, dass seine Gefährtin sicherer war. Adam achtete sorgfältig darauf, Zee genauso zu behandeln, wie Mercy es tat; bemühte sich, diese sehnigen Muskeln und das schüttere Haar zu betrachten und nur einen zähen alten Mann zu sehen. Doch Adam vergaß nie, wie gefährlich der eisengeküsste Fae war.
Die Innenräume der Gerichtsmedizin waren mit stabilen, billigen Möbeln eingerichtet. Es roch nach Tod. Während ein wilder Teil von Adam zum Leben erwachte, begrüßte der Gerichtsmediziner, ein Mann indischer Abstammung Anfang fünfzig, George und Tony wie alte Freunde.
»Rahul, Tony und ich haben diesmal noch ein paar zusätzliche Gäste mitgebracht«, erklärte George. »Das ist Zee Adelbertsmiter. Zee, Rahul Amin. Wir sind hier, um Aubrey Worth und Sarina Ohne Nachnamen anzusehen.«
Amin schenkte dem alten Mann in dem dreckigen Mechanikeroverall ein professionelles Lächeln. Seine Professionalität hielt auch, als Adam vorgestellt wurde. Er bemühte sich, Adam zu behandeln wie jeden anderen Besucher. Fast wäre es ihm gelungen.
Adam hatte sich daran gewöhnt, zur örtlichen Prominenz zu gehören. Er genoss seine Beförderung auf den Heldenthron sogar, weil das bedeutete, dass weniger Leute wirklich Angst vor ihm hatten. Wie Mercys Entermesser – ihr ehemaliges Entermesser – sahen die Leute ihn als Schutz, nicht als gefährliche Waffe, die jederzeit nach hinten losgehen konnte. Diese Haltung machte das Leben für alle ein wenig sicherer.
»Dimitri, unser Spezialist, kommt erst morgen«, sagte der Gerichtsmediziner, als er sie durch die Tür in die eigentliche Leichenhalle führte. »Also muss ich Sie bitten, die Leichen nicht zu berühren.«
»Natürlich«, gab Adam zurück.
Riesige Gefrierschränke an der Wand gegenüber der Tür dominierten die Leichenhalle. Einfach zu reinigende Materialien bedeckten Wände und Decken. Der Raum hätte auch die Küche eines hochpreisigen Restaurants sein können – abgesehen vom Geruch. Es roch nach Metzgerlager – frisches Fleisch, altes Fleisch, altes und neues Blut. Nahrung.
Früher einmal hätte er darum gekämpft, diesen Gedanken zu verdrängen, aber Adam hatte akzeptiert, dass er ein Monster war und es den Wolf nicht interessierte, welche Art von Fleisch er fraß. Und auch der Geruch von Verwesung focht ihn nicht mehr an.
»Wen wollen Sie zuerst sehen?«, fragte Amin. »Nur als Vorwarnung, Sarina lag ein paar Tage bei Raumtemperatur.« Er sah zu Zee und Adam. Anscheinend traute er den Polizeibeamten stärkere Mägen zu als den Zivilisten.
»Das spielt keine Rolle«, sagte Zee. »Die Frau zuerst.«
Amin, der offensichtlich nicht damit gerechnet hatte, dass die Entscheidung aus dieser Richtung kam, sah die anderen an. George nickte. Mit einem fast unmerklichen Achselzucken öffnete der Gerichtsmediziner ein Kühlfach.
Es gab zu wenig Platz für fünf Leute. Adam zog sich zurück, dann fing er die Blicke von Tony und George auf, damit sie dasselbe taten und den Raum um die tote Frau für Zee und den Gerichtsmediziner frei gaben.
Das Gesicht war unbeschädigt. Auf dieser Grundlage schätzte Adam die Hexe auf gut erhaltene sechzig. Ihr kurzes schwarzes Haar wirkte gepflegt, trotz der Demütigungen, die ihr Körper im Tod und danach hatte ertragen müssen. Sie war stark geschminkt gewesen, fast wie eine Schauspielerin. Kleine Blutspritzer zogen sich über die fahle Wange, die Adam zugewandt war. Ihr blutroter Lippenstift war verschmiert.
Die Fotos, die George ihnen gezeigt hatte, hatten grundsätzlich Tatsachen abgebildet, den wahren Punkt aber trotzdem verfehlt. Jetzt, im Angesicht der Leiche, wurde offensichtlich, dass die Wunden zwar auch die Vorderseite der Frau betrafen, die schlimmsten Schäden aber an den Seiten angerichtet worden waren. Die Schnitte waren tief – selbst von seinem Platz aus konnte Adam sehen, dass der Körper an zwei Stellen fast zerteilt worden war.
Er hatte über die Jahre genug Gewaltopfer gesehen, um sich eine eigene Meinung zu bilden. Die Waffe war von jemandem geschwungen worden, der stärker war als ein Mensch, doch die gezackten Ränder der Wunden verrieten, dass die Klinge dringend geschärft werden musste. Außerdem fiel ihm auf, dass die Verletzungen ziemlich genau zu dem Szenario passten, das Zee am Tatort demonstriert hatte – und weniger zu Georges Beschreibung.
Zee hielt seine flache Hand fünf Zentimeter über die Leiche, und Adam war sich ziemlich sicher, dass er – ständen ihm dieselben Sinne wie Mercy zur Verfügung – gespürt hätte, wie der Raum sich mit Magie füllte. Auch so stellten sich seine Nackenhaare auf. Der alte Fae zog eine grimmige Miene – wie immer, wenn er nachdachte. Adam war davon überzeugt, dass Zee nichts gefunden hatte, was ihn überraschte.
Adam fragte sich, ob er den Gerichtsmediziner warnen sollte, dass diese Leiche zum Ziel jeder grauen Hexe werden könnte, die davon erfuhr – doch das sollte auch Amins Spezialist ihm verraten können. Was hatte Helena, die Hexe mit dem Antiquitätengeschäft, so erschreckt, dass sie sich die Leiche nicht selbst genommen hatte? Was hatte ihr solche Angst eingejagt?
Wie die meisten Raubtiere waren graue Hexen nicht besonders zimperlich. Sie hatte sich die Zeit genommen, Fotos zu schießen. Wieso hatte sie die Leiche nicht mitgenommen? Oder zumindest Teile davon – die Organe waren am nützlichsten, doch es gab keine Anzeichen dafür, dass jemand versucht hatte, das Herz oder die Leber der toten Hexe zu entfernen.
»Zee?« Langsam stieg in Adam die Überzeugung auf, dass er besser auf Mercys Anwesenheit bestanden hätte – und das nicht, weil er seine Gefährtin ungern allein zurückließ. »Könntest du mehr erfahren, wenn du die Leiche berührst?« Wie Helena es vermutlich getan hatte – bevor sie nicht nur den Tatort, sondern gleich die Stadt verlassen hatte. Was hatte sie entdeckt?
»Ja«, sagte er und richtete sich auf. Er warf einen Blick zum Gerichtsmediziner. »Aber wir sind Gäste hier. Ich bin bereit, mir den Jungen anzuschauen.«
Der Anblick der zweiten Leiche traf Adam unerwartet heftig. Er hatte schon eine Menge toter Körper gesehen, eine Menge Tod, daher blieb er meistens überwiegend ungerührt – außer, der Tote war jemand, den er gekannt hatte. Aubrey Worth war in Jesses Alter gewesen.
Während seine Tochter nur einen halben Häuserblock entfernt einen Film geschaut hatte, hatte jemand Aubreys Fleisch aufgerissen und sein Lebenselixier auf einem glatten Betonboden vergossen. Dieser Junge hatte Pläne gehabt, hatte Leute geliebt, die diese Liebe erwiderten. Jetzt klaffte ein Loch in der Welt, das bisher von seinem Leben ausgefüllt worden war.
Sie würden seinen Mörder finden und dafür sorgen, dass nicht noch mehr Leute vor ihrer Zeit starben. Adam zwang sich, an etwas anderes zu denken, bevor sein Wolf noch beschloss, in Erscheinung zu treten.
Der Gerichtsmediziner hatte offensichtlich begriffen, dass Zee gefährlich war, während Adam abgelenkt gewesen war. Oder vielleicht hatte er zwei und zwei zusammengezählt und war bei fünf gelandet, als Adam Zee gefragt hatte, ob er die Leiche berühren wollte. Auf jeden Fall hatte Amin – aus welchem Grund auch immer – jeden Konversationsversuch eingestellt und war ein paar Schritte näher an George und Tony herangetreten, ohne seinen Posten neben dem Kühlfach aufzugeben. Er wirkte, als lägen ihm seine toten Schützlinge am Herzen; als müsse er sich zügeln, nicht zwischen Zee und Aubrey Worths Leiche zu treten.
Zuerst untersuchte Zee den Körper des jungen Mannes, wie er es auch mit dem der Hexe getan hatte. Doch als er die Hände sinken ließ, schob er sein Gesicht dicht an die Leiche heran. Amin wirkte, als wolle er protestieren – aber Tony legte ihm eine Hand auf den Arm. Nicht um ihn zurückzuhalten, sondern mit der schweigenden Bitte zu kooperieren.
Zee ignorierte die stumme Diskussion, schloss die Augen und atmete tief ein. Adam wusste alles über Witterungen. Manchmal kamen subtile Düfte besser zur Geltung, wenn man ein paar Sekunden lang die Luft anhielt, bevor man langsam durch die Nase ausatmete. Er ging nicht davon aus, dass der Geruchssinn des alten Fae so gut war wie der eines Werwolfes, aber er konnte sich irren.
Adam beobachtete Zee genau, also bemerkte er den Moment, als der alte Fae erstarrte. Zee riss die Augen auf, doch Adam hatte nicht das Gefühl, dass er etwas Bestimmtes ansah. Gewöhnlich schwankte Zees Augenfarbe zwischen Blau und Grau, doch jetzt wirkte sie wie eine schimmernde silberne Klinge, ohne jedes Anzeichen von Weiß oder Pupillen. Die Luft in der Leichenhalle füllte sich mit dem scharfen Geruch von Ozon und potenzieller Gefahr.
Zee schloss erneut die Augen und atmete noch einmal tief durch. Als er sich schließlich aufrichtete und die Augen öffnete, wirkten sie stürmisch, aber menschlich. Dann drehte er sich mit einem Stirnrunzeln zu Adam um.
»Ich glaube, wir könnten hier Mercys Nase brauchen«, sagte er und klang vollkommen wie er selbst.
Niemals hätte der alte Fae vor Zeugen gesagt: »Mercy kann manche Arten von Magie besser riechen als ich.« Aber Adam war sich sicher, dass Zee genau das meinte.
Adam nickte. »Ich frage sie.«
Zee wirkte wieder wie ein vom Leben gebeutelter alter Mechaniker, die Hände nachdenklich in den Taschen seines Overalls vergraben. Doch die Luft roch immer noch nach Ozon, und Adams Haut kribbelte, als er dem eisengeküssten Fae den Rücken zuwandte.
Adam fand Mercy immer noch in seine Jacke gewickelt. Sie hatte den Kopf so sehr eingezogen, dass nur ihr Scheitel zu sehen war.
Er sagte ihren Namen, bevor er ans Fenster klopfte, um ihre Aufmerksamkeit zu erregen und sie nicht zu erschrecken. Sie zuckte trotzdem zusammen – ein Hinweis auf ihre innere Anspannung. Als Adam die Tür öffnete, schwappte eine Welle von Hitze aus dem Auto. Trotzdem konnte er ihre Zähne klappern hören.
Nachdem niemand sie beobachtete, löste er den Gurt und zog seine Gefährtin an sich; hielt sie, wie er es sich schon seit einer Stunde wünschte. Sie kuschelte sich an ihn. Nach einer Weile wurde ihr Zittern schwächer.
Adam verschwendete einen kurzen Gedanken an George und die Menschen, die mit einem unglücklichen Fae in der Leichenhalle festhingen. Aber das hier war wichtiger – und er vertraute darauf, dass Zee seine Laune ausreichend zügelte, um sich nur ein paar scharfe Worte als Waffe zu erlauben. Wahrscheinlich waren die Königskinder, deren Schädel als Pokale geendet hatten, nicht unschuldig gewesen.
»Das habe ich gebraucht«, sagte Mercy. Ihre Stimme erklang gedämpft aus den Tiefen seiner Jacke. »Danke.«
»Willst du mir erzählen, was los ist?«, fragte er.
Ein Auto fuhr auf den Parkplatz, doch die Fahrerin sah sie nicht an. Diese fast leere Ecke lag ein gutes Stück vom Justizgebäude entfernt; zweifellos suchte sie nach einem besseren Platz.
Mercy flüsterte an seinem Hals: »Der Mörder hatte keine Witterung.«
Sie klang zutiefst verunsichert.
»Er setzt eine Art von Magie ein, um seinen Geruch zu verbergen?«, mutmaßte Adam. »Aber du bist ihm trotzdem gefolgt.« Er zweifelte nicht an ihrer Aussage – auch er selbst war nicht fähig gewesen, die Witterung des Mörders aufzunehmen. Doch er wusste, wie eine Jagd aussah, und Mercy war einer Spur gefolgt.
Sie nickte, dann erklärte sie mit offensichtlichem Widerwillen: »Das wird dämlich klingen.«
Er wartete.
Sie seufzte. »Also, ich habe dir doch erzählt, dass ich einen Abgrund gesehen habe, als ich ins Zaubernetz der Spinne gesprungen bin, richtig? Und dieser Abgrund war auch in meinem Traum mit Stefan. Stefan wusste nicht, wo er herkam.«
Adam drückte Mercy einen Kuss auf den Scheitel.
Mit schwacher Stimme sagte sie: »Ich glaube, ich habe ihn mitgebracht. Ich glaube, der Abgrund hat seine Zähne in mir vergraben, als ich das Netz des Spinnenwesens zerstört habe. Und seitdem ist er bei mir.«
»Meinst du, das hängt mit den Stacheln zusammen, die Zee aus deinen Händen und Füßen entfernt hat?«
Sie dachte kurz darüber nach, bevor sie den Kopf schüttelte. »Nein. Der Abgrund stand in Verbindung mit dem zweiten Spinnending, dem im Keller, glaube ich.«
»Okay«, sagte er. »Was hat das damit zu tun, dass der Mörder keinen Geruch hatte? Nur damit du es weißt, ich konnte ihn ebenfalls nicht wittern. Meine Nase ist nicht so gut, wenn ich nicht meine Wolfsgestalt trage, aber ich hätte seinen Geruch wahrnehmen müssen, als ich direkt neben seinen blutigen Fußabdrücken stand.«
Sie zögerte. »Ich habe eine Theorie entwickelt, während du in der Leichenhalle warst. Sie ist ziemlich weit hergeholt.«
»Schieß los.«
»Ich konnte dem Killer folgen, weil ich die Spur des Abgrundes verfolgt habe«, sagte sie. »Es war kein richtiger Geruch, sondern eher eine Spur von etwas, das an Magie erinnerte.« Sie hielt inne, dann meinte sie: »Ich muss dringend mit Zee darüber reden, weil etwas an der Magie am Tatort seltsam war.«
»Er will auch mit dir reden«, sagte Adam. »Aber noch mal zu dem Abgrund, von dem du denkst, dass er seine Krallen in dir vergraben hat – und mit dem Mord an diesem Jungen zusammenhängt.«
Sie zuckte mit den Achseln. »Ich habe dir doch gesagt, es war seltsam. Ist seltsam. Ich weiß nicht, wie ich es beschreiben soll. Es hat etwas mit Willen und Macht und …« Ihre Stimme wurde immer angespannter, bevor sie abbrach, ohne den Gedankengang zu vollenden. »Diese Spur, der ich gefolgt bin, die Spur des Mörders, bestand aus Überresten des Abgrundes.«
»Zee sagte, dass die Sichel, derentwegen er hergekommen ist, ein Bewusstsein besitzt«, kommentierte Adam. »Was, wenn das, was du fühlst, diese Sichel ist?«
Sie nickte. »Jemand setzt sie ein, um Leute umzubringen. Jemand, der keinen Geruch hat – aber weil ich diese Verbindung zum Abgrund habe … zur Sichel … konnte ich der Spur folgen.«
»Du hast ziemlich gute Instinkte.«
Er zweifelte keine Sekunde daran, dass sie recht hatte. Ihre Magie, eine Gabe von Kojote, entsprach genau dem, was ein Trickster-Gott vererben würde – sie war irrational, chaotisch und nur manchmal nützlich. Aber Mercy setzte ihre Instinkte und ihren Intellekt bestmöglich ein, um damit umzugehen.
Außerdem war sie gut darin, sich in Gefahren zu stürzen; dem Weg zu folgen, auf den ihre Magie sie führte. Vor seinem inneren Auge blitzte ein Bild des verstümmelten Körpers der toten Frau auf. Mercy würde nicht so enden. Das würde er nicht zulassen.
»Du glaubst mir?«
»Das tue ich.«
»Okay«, antwortete sie. Dann verspannte sich ihr Körper wieder, als müsste sie sich zwingen, die folgenden Worte auszusprechen. »Ich glaube, Stefan könnte der Mörder sein.«
»Warum?«
Wie Adam war auch Stefan ein Killer. Aber es gab gute Gründe, warum er in der Vampirwelt »der Soldat« genannt wurde. Wie Adam tötete Stefan schnell und sauber. Die Theatralik dieser ganzen Angelegenheit passte nicht zu Stefan, selbst wenn er ein Artefakt schwang.
Ein Artefakt, von dem Zee gesagt hatte, dass es seinen Besitzer kontrollieren konnte. Stefan war alt und mächtig. Adam fiel es schwer zu glauben, dass ein Artefakt ihn unter seine Kontrolle bringen könnte.
»Weil ich der Spur des Mörders gefolgt bin«, sagte Mercy. »Er ist einfach im Laden erschienen. Dann ist er auf dem hinteren Parkplatz spurlos verschwunden. Er ist nicht ins Auto gestiegen – eine Spur vermittelt ein gewisses Gefühl, wenn eine Tür geschlossen wurde.«
Adam wusste, was sie meinte. Nachdem er nicht fähig gewesen war, den Mörder wahrzunehmen, wusste er nicht, wie der Eindruck des Einsteigens in ein Auto sich zu dem verhielt, was Mercy wahrgenommen hatte. Aber er vertraute ihrem Urteil, wenn sie sagte, dass was oder wer auch immer der Mörder war, genauso plötzlich verschwunden wie er aufgetaucht war. Und das klang nach etwas, wozu Stefan fähig war. Stefan und Marsilia, Stefans Schöpferin.
»Könnte es auch Marsilia gewesen sein?«
»Es gab keinen Geruch«, sagte Mercy. »Stefan könnte mich anweisen, seinen Geruch nicht wahrzunehmen.«
»Aber mir hätte er diesen Befehl nicht geben können«, erinnerte Adam seine Gefährtin. »Ich konnte den Täter ebenfalls nicht riechen. Marsilia kann auch teleportieren.«
»Nachdem er …« Sie zögerte. »Nachdem er oder sie den Jungen …« Erneut verstummte sie.
»Aubrey Worth.«
Sie seufzte, dann stieß sie mit dem Kopf leicht gegen seinen Kiefer. »Das wollte ich nicht wissen. Ich wollte seinen Namen nicht erfahren.«
»Nachdem er oder sie den Jungen getötet hat?«, fragte Adam, sobald klar wurde, dass sie nicht vorhatte, diesen Gedanken weiter auszuführen. Als sie weiterhin schwieg, sagte Adam: »Vielleicht sorgt die Sichel dafür, dass wir den Täter nicht wittern können.«
Mercy stieß ein frustriertes Brummen aus.
»Sobald Magie ins Spiel kommt, fällt es schwer, ihren Einfluss zu definieren«, kommentierte Adam mitfühlend.
»Es war Magie – vielmehr war da überall eine Menge Magie.« Sie stieß ein irritiertes Schnauben aus und klang – zum ersten Mal – fast normal.
So verhielt Mercy sich jedes Mal, wenn sie versuchte, Magie mit Worten zu erklären, obwohl ihre Informationen nur aus Gefühlen stammten. Besonders nachdem sie als Automechanikerin ungern Dinge beschrieb, die ohne empirische Beweise infrage gestellt werden konnten – selbst wenn sie nur mit Adam sprach. Je »abgedrehter« (ihre Wortwahl) etwas klang, desto unwohler wurde ihr zumute.
»Ich würde gerne mit Zee über das reden, was ich glaube, gespürt zu haben. Was das alles seines Erachtens bedeutet. Als dieser Junge …« Sie brach ab. »Okay, okay.«
Mercy holte tief Luft, stieß ein irritiertes Knurren aus und bewegte sich, um etwas Abstand zwischen Adam und sich zu bringen. Als sie fertig war, saß sie seitlich auf dem Sitz, als machte sie sich bereit, aus dem SUV zu hüpfen. Adam zog sich an die geöffnete Tür zurück, damit sie aussteigen konnte, wenn sie das wollte – und um ihr ein wenig Freiraum zu lassen. Denn er vermutete, dass es das war, was sie brauchte.
Das verletzte ihn nicht. Er hatte mit ihrem körperlichen Rückzug gerechnet, seit das Zittern nachgelassen hatte. Mercy neigte grundsätzlich nicht zu öffentlichen Zuneigungsbekundungen – und noch weniger, wenn sie Trost brauchte. Sie gestand nicht gerne Schwäche ein – was er vollkommen nachvollziehen konnte.
Sie wedelte fast kapitulierend mit den Händen. »Okay, okay«, sagte sie wieder. »Es hilft, wenn ich das alles laut ausspreche. Tut mir leid, wenn es zu abgedreht klingt.«
»Kein Problem«, sagte er.
Sie warf ihm einen misstrauischen Blick zu, doch offensichtlich gelang es ihm, seine Erheiterung über ihr Unwohlsein zu verbergen, weil sie anfing zu reden. »Als Aubrey starb, gab es eine Explosion von Magie. Ich konnte die Überreste davon spüren. Es hat sich angefühlt, als wäre das Blut auf dem Boden immer noch in gewisser Weise mit dem Mörder verbunden. Ich konnte diesem Gefühl in beide Richtungen folgen.«
»Zu Aubrey und zum Täter«, sagte Adam. Ihm gefiel gar nicht, wie das klang.
Sie nickte, dann überlief ein heftiger Schauer ihren Körper. Sie zog die Augenbrauen hoch und atmete noch mal tief durch, bevor sie seinen Blick einfing.
»Ich glaube, ich konnte diese Magie verfolgen, weil sie auch mit mir verbunden ist. Eine Art schreckliche Dreiecksbeziehung.« Sie sah mit angespannter Miene auf den Rücksitz.
»Haben wir Gesellschaft?«, fragte Adam. Er hatte sich an diesen Aspekt ihrer Macht gewöhnt. »Ich spüre nichts.«
Manchmal konnte er die Geister wahrnehmen – sie sogar sehen, so wie er den Jungen in Stefans Haus gesehen hatte. Aber das verhieß gewöhnlich nichts Gutes. Wann immer er Mercys altes Haus betrat, fühlte er sich wie eine langschwänzige Katze in einem Raum voller Schaukelstühle.
Sie nickte, und Erleichterung huschte über ihre Miene. Er wusste nicht, ob das Gefühl der Tatsache entsprang, dass der Geist schwach genug war, dass er ihn nicht wahrnehmen konnte, oder ob sie erleichtert war, dass sie nicht darüber reden und dem Geist damit mehr Macht verleihen musste. Aber er hatte eine starke Vermutung, um wessen Geist es sich handelte.
»Diese magische Verbindung hat mir Einsichten in den Charakter des Jungen verschafft« – sie zog eine Grimasse und bewegte die Schultern, als hätte jemand sie von hinten gepiekt –, »über Aubreys Charakter, die ich normalerweise nicht empfange. Eine Art spirituelles Pendant zum Geruch einer Person. Du weißt doch, wie ein tiefer Atemzug dir verraten kann, welches Shampoo jemand benutzt, dass diese Person Ledersitze im Auto hat, oder wie viele Katzen einen Besitzanspruch auf sie angemeldet haben?«
Adam nickte.
»Nun, ich kann dir sagen, dass unser Opfer nicht allzu klug war, aber unglaublich liebenswert. Er war halb in einen seiner Mitbewohner verliebt und halb in ein süßes Mädchen aus seiner Lerngruppe, auch wenn er bisher zu schüchtern war, um sie anzusprechen. Er liebte Bubble Tea und Sushi. Wollte eines Tages Japan besuchen. Er war gut in Mathe, aber für das Studium der Informatik vollkommen ungeeignet.«
Das löste anscheinend eine Reaktion bei dem Geist aus, weil Mercy sich nicht davon abhalten konnte, einen bösen Blick über die Schulter zu werfen. Sie rieb sich mit beiden Händen das Gesicht und glitt aus dem Auto. Als ihre Füße auf dem Boden landeten, zuckte sie leicht zusammen, ließ sich aber sonst nicht anmerken, dass sie immer noch wund waren. Sie trat vor Adam und ließ ihre Stirn an seine Brust sinken.
»Das muss sich anfühlen, als wäre statt eines Fremden ein Freund gestorben«, meinte Adam und streichelte ihre Arme. Er achtete darauf, nicht zum Rücksitz zu spähen, weil er sich ziemlich sicher war, dass Aubreys Geist dort saß.
Mercy nickte. Im Anschluss herrschte Schweigen und Adam war zufrieden damit.
»Zee hat mich losgeschickt, um zu fragen, ob du reinkommen könntest. Er möchte, dass du dir die Leichen ansiehst. Irgendetwas hat ihn ziemlich aufgebracht.« Adam dachte an Zees Miene zurück. »Ich glaube, er war wütend.«
Mercys Augenbrauen berührten fast ihren Scheitel. »Er will, dass ich was tue? Seit wann bin ich eine Expertin für Leichen?« Sie schürzte die Lippen, um ein Lächeln zu verbergen, bevor sie mit gespielter Entrüstung sagte: »Und du hast sie in der Leichenhalle warten lassen, während ich hier über dämliches, abgedrehtes Zeug rede? Obwohl Zee wütend ist?«
»Sie kommen schon klar.«
Sie schnaubte, dann stieg sie wieder in den SUV, um die Zündung auszuschalten. Sie verriegelte den Wagen, gab Adam die Schlüssel und humpelte auf die Gerichtsmedizin zu.
»Willst du zum Kojoten werden?«, fragte Adam, als er ihr auf den Fersen folgte. Er fragte nicht, ob er sie ins Gebäude tragen durfte; er war nicht dumm.
Sie schüttelte den Kopf. »Dann kann ich nicht reden. Wenn Zee die Hilfe des Kojoten braucht, gibt es sicher eine Toilette, in der ich mich verwandeln kann, um niemanden zu schockieren.«
Sie blieb abrupt stehen. Versteifte sich. Adam sah sich um, entdeckte allerdings nichts, was ihre Reaktion erklärte.
»Okay«, murmelte sie, an sich selbst gerichtet. Dann drehte sie sich um und sah jemanden an, der scheinbar rechts von ihm stand – Aubreys Geist, nahm er an.
»Hör mal«, sagte sie. »Du musst gehen. Tritt ins Licht oder was auch immer.« Stille. »Ich weiß nicht, in welches Licht. Angeblich gibt es irgendwo ein Licht. Oder einen Weg.« Stille. »Hey, ich habe keine verdammte Anleitung. Ich weiß nicht, was zu tun ist – aber ich glaube, du solltest es wissen.« Stille. »Weil die meisten Leute irgendwohin gehen, wenn sie sterben. Ihre Seelen verweilen nicht, selbst wenn ihre Geister es tun. Ich glaube nicht, dass das gut für dich ist.« Ein viel längerer Moment der Stille.
Adam legte ihr eine Hand auf die Schulter und flüsterte ihr ins Ohr. »Nutz die Macht des Rudels. Meine Macht. Sag ihm, dass er gehen soll.«
»Was, wenn er dann irgendwo anders herumspukt?«, fragte sie, und er spürte die Anspannung in ihren Schultern.
»Du kannst nicht jedem helfen«, gab er zurück.
Sie warf ihm einen vielsagenden Blick zu. »An dem Tag, an dem du diesen Rat selbst beherzigst, werde ich ihn von dir annehmen.«
Das war fair.
»Kannst du jemanden um Hilfe bitten?«, fragte er. »Deinen Bruder Gary? Einen der anderen Walker?«
Sie schüttelte den Kopf. »Tad sagt, das Coolste daran, halb das eine und halb das andere zu sein, läge darin, dass niemand einen wirklich durchschauen kann. Es klingt aber immer ziemlich sarkastisch, wie er ›das Coolste‹ sagt.«
»Dachte ich mir schon.«
»Selbst Garys Macht verhält sich anders als meine«, erklärte sie. Sie runzelte die Stirn, dann spürte Adam, wie sie die Rudelverbindung anzapfte – und er selbst übte ein wenig Druck aus, um die Sache zu beschleunigen.
»Aubrey Alan Worth«, sagte sie mit der Autorität des Alphas, die es Adam erlaubte, seine Rudelmitglieder zum Gehorsam zu zwingen.
Adam hatte Aubreys zweiten Vornamen nicht gekannt. Er ging auch nicht davon aus, dass jemand in Mercys Umgebung ihn genannt hatte.
»Deine Zeit hier ist vorbei.« Ihre Stimme klang sanft trotz der Macht, die darin mitschwang. »Finde Frieden.«
Adam spürte Magie nur selten – abgesehen von der Magie, die damit einherging, ein Werwolf und Alpha seines Rudels zu sein. Aber Mercy war seine Gefährtin, er berührte sie, und sie setzte seine Macht ein, um ihrer Stimme mehr Kraft zu verleihen. Er spürte das Gewicht ihrer Magie – und spürte, wie etwas Kaltes, Altes, Leeres dagegenhielt.
Sie stolperte, und einen Moment lang war Adam sicher, dass nur seine Berührung sie auf den Beinen hielt. Sie packte seine Hand mit ihren kalten Fingern und umklammerte sie.
»Nein«, sagte sie schnell, ihr Tonfall beruhigend. »Ist klar. Ich verstehe. Du kannst noch nicht gehen. Nein. Keine Panik. Wir bringen das in Ordnung. Beruhige dich!« Die letzten Worte unterstützte sie erneut mit Rudelmagie.
»Okay«, sagte sie. »Ich verstehe. Aber ich werde dich nicht mit in dieses Gebäude nehmen, weil das kein guter Ort für dich ist. Könntest du beim Auto warten?«
Sie hielt inne, dann gab sie Adams Hand frei und stiefelte auf die Gerichtsmedizin zu. »Wenn ich schon den Rest meines Lebens von einem Geist verfolgt werde, dann zumindest von einem netten Jungen, der auf mich hört.«
»Hältst du das für wahrscheinlich?«, fragte Adam leise. Was auch immer gerade geschehen war, es hatte ihr Angst eingejagt, und sie musste sich ablenken. Und das machte wiederum ihm Angst. Weil es nicht klang, als könnte ein großer, böser Wolf Mercy davor beschützen.
Sie machte Anstalten, mit den Achseln zu zucken, dann sagte sie: »Ich glaube, wenn wir den Mörder finden, könnten wir das brechen, was Aubrey hier festhält. Es ist nicht dasselbe, was Frost mit Peter getan hat, aber der Effekt ist derselbe.«
Frost war ein Vampir gewesen, der sich von den Seelen der Toten ernährt und seine Opfer an ihre Körper gebunden hatte, unter anderem einen von Adams Wölfen. Frost war ein übler Kerl gewesen.
»Okay«, sagte Adam, wobei er sich bemühte, möglichst zuversichtlich zu klingen. Sie waren bisher mit allem klargekommen, was geschehen war, Frost eingeschlossen. Sie würden auch dieses Problem bewältigen. Hoffentlich.
»Ich habe keine Ahnung, wovon ich rede«, erinnerte sie ihn. »Ich wünschte, es gäbe ein Handbuch für so was.«
»Du wirst schon noch daraus schlau werden«, versicherte er ihr ernst.
Sie wirbelte mit glühendem Blick zu ihm herum – nur um dann die Stirn zu runzeln. »Hör auf, mich aufzuziehen.«
Er grinste. Er konnte nicht anders. Was für ein Geschenk sie doch war.
Mercy schnüffelte noch einmal. Wie Zee achtete sie sorgfältig darauf, die Leiche des Jungen nicht zu berühren. Sie runzelte verwirrt die Stirn und legte den Kopf schief, als hätte sie ein Geräusch gehört. Plötzlich verspannte sie sich. Sie schloss die Augen, und Adam fühlte, wie sie sich mit dem Rudel verband – nicht, um Macht daraus zu ziehen, sondern als Anker. Instinktiv trat er vor und hob die Hand, um sie zu berühren.
Zee schnitt ihm den Weg ab. Hätte einer der anderen Anwesenden das getan, hätte Adam ihn zur Seite geschoben. Aber Mercys Sicherheit lag auch Zee am Herzen, und er war mit Magie vertraut. Wenn er glaubte, dass Adam seine Gefährtin nicht berühren sollte, musste Adam seinem Urteil vertrauen. Gefallen musste ihm diese Tatsache noch lange nicht.
»Sie wissen etwas über die Todesfälle«, sagte Amin, der Mercy beobachtete. »Gibt es etwas, wovor Dimitri sich bei der Autopsie in Acht nehmen muss?«
Mercy richtete sich auf und schüttelte sich, bevor sie den Gerichtsmediziner ansah. »Ich denke, Sie sollten die Autopsie so lange wie möglich hinauszögern. Sie werden nichts Nützliches finden, was auf diesen Mörder hinweist«, sagte sie. »Und …« Sie warf einen Blick zu Zee.
Die Wut des alten Fae hatte während Adams Abwesenheit nicht nachgelassen. Die Emotion knisterte um Zee herum wie ein Sturm, aus dem jeden Moment Blitze schießen konnten, und fühlte sich viel stärker an als zu dem Zeitpunkt, als Adam losgezogen war, um Mercy zu holen. Adam spürte die Gefahr als Kribbeln auf seiner Wirbelsäule und der Geruch eisengeschwängerter Kampfeslust stieg in seine Nase wie eine zukünftige Erinnerung.
Adam war sich sicher, dass Mercy es auch spüren konnte – sie ließ sich davon nur nicht beeindrucken. Eine Jugend im Rudel des Marrok hatte dafür gesorgt, dass Wutausbrüche Mercy ziemlich kaltließen.
George hatte eine Position zwischen dem Fae und den anderen beiden bezogen, was Adam verriet, dass George wusste, was vor sich ging. Tony und der Gerichtsmediziner pressten sich nicht vor Angst zitternd gegen die Wand, also schienen sie nichts zu ahnen. Das war gut so.
»Wahrscheinlich wird nichts passieren«, meinte Zee ruhig. »Aber nur wahrscheinlich.«
»Das ist unser Job«, sagte Amin. Er wedelte mit der Hand in Richtung der Kühlfächer. »Das sind unsere Schützlinge. Dimitris und meine.«
»Könnten Sie uns eine Woche geben?«, fragte Mercy. »Wir wissen noch nicht genau, was vor sich geht. Wenn Sie uns ein wenig Zeit geben, könnten wir mehr herausfinden.«
»Wissen Sie, wer der Täter ist?«, fragte er.
»Wir wissen, was sie getötet hat«, antwortete Zee. »Die Antwort auf die andere Frage könnte weniger interessant sein, als Sie meinen.«
Amin schüttelte den Kopf. »Wir kümmern uns um sie«, erklärte er. »›Wahrscheinlich sicher‹ ist gut genug. Lassen Sie mich wissen, falls die Einschätzung in ›definitiv nicht sicher‹ umschlägt; sonst folgen wir dem Protokoll.«
Auf Zees Wunsch hin hielten sie an dem Friedhof neben der Umgehungsstraße, die zwischen dem Yakima River und Richland verlief. Er hatte keinen Grund genannt, und niemand im SUV war dumm genug nachzufragen. Tony war clever. Er hatte bereits mitbekommen, dass etwas nicht stimmte. Wahrscheinlich aufgrund der Art, wie alle außer Mercy Zee behandelten.
Zee dirigierte sie durch ein Labyrinth gut gepflegter Kiesstraßen, bevor er Adam anwies zu parken. Dann nahm er Mercy mit und forderte alle anderen auf, beim SUV zu bleiben.
»Ich hasse das«, murmelte Tony, während er beobachtete, wie der alte Mann und Mercy zwischen den Grabsteinen umherwanderten.
»Ich mag Friedhöfe auch nicht besonders«, gab George zu. Er lehnte auf eine Weise am SUV, die nichts Gutes für die Lackierung verhieß.
Adam dachte darüber nach, etwas zu sagen, aber es waren meist nicht die Kratzer, die den Wiederverkaufswert seiner Autos senkten. Tatsächlich waren schon ein paar Jahre vergangen, seit ein Wagen lange genug überlebt hatte, um in Zahlung gegeben oder verkauft zu werden.
»Friedhöfe sind okay.« Tony warf George einen irritierten Blick zu. Er ließ den Blick über die gepflegte Umgebung gleiten, die sogar in der kühlen Luft des Frühherbstes grün leuchtete. »Na ja, nicht okay. Und streng genommen ist das hier ein Gräberfeld. Friedhöfe befinden sich neben Kirchen. Was mich stört, ist die Tatsache, dass ich keine Ahnung habe, was hier vor sich geht, während es um mich herum Leichen regnet.« Er warf Adam einen genervten Blick zu, als würde der ihm absichtlich etwas verschweigen.
»Du warst nicht beim Militär, oder?«, fragte George trocken.
Adam spürte, wie seine Mundwinkel sich hoben. George hatte im Ersten Weltkrieg gedient, aber manche Dinge änderten sich nie.
Zee und Mercy waren neben einem Grab stehen geblieben. Mercy setzte sich im Schneidersitz aufs Gras und legte eine Hand an den Grabstein.
Zee hatte gesagt, Mercy habe eine bessere Nase für Magie als er. Und Mercys Magie, ob nun bezogen auf ihre Nase oder nicht, funktionierte bei Toten besser. Nicht dass sie diese Tatsache begeistert hätte.
Adam zog sein Handy heraus und recherchierte. Dieser Friedhof existierte seit 1956.
»Ihr erzählt mir, was vor sich geht, sobald ihr es wisst?«, fragte Tony, auch wenn man ihm deutlich anhörte, dass er nicht damit rechnete.
George zuckte mit den Achseln. »Du weißt doch, wie es läuft.«
Sie waren zu Mercys Werkstatt gefahren, wo Zee und George ihre Autos abgestellt hatten. Adam ging nicht davon aus, dass Mercy ihre Werkstatt vor morgen öffnen würde. Aber sie und Zee kämpften mit der Tür zum Büro, also hatten die beiden offensichtlich etwas vor. Vielleicht hatten sie etwas im Inneren vergessen, doch Adam hielt es für wahrscheinlicher, dass sie ihre Erkenntnisse besprechen wollten.
Tonys Klage auf dem Friedhof hatte etwas in Adam angesprochen. Wie oft hätten Informationen jenseits seines Besoldungsgrades dazu führen können, dass weniger Leute sterben mussten? Mehr als einmal, das stand fest.
»Tony«, meinte Adam nachdenklich, »wie tief genau möchtest du in dieses Kaninchenloch eindringen?«
Tony verspannte sich, dann warf er ihm einen langen Blick zu. »Ist das ein Angebot?«
»Du hältst uns jetzt schon eine Weile den Rücken frei«, meinte Adam. »Ich glaube, es wäre fair, dir zu verraten, woher die Leichen stammen. Ich glaube, sie« – er nickte in Richtung der Tür. Mercy war zurückgetreten und überließ Zee das Schloss – »sind sich nicht sicher, was wirklich vor sich geht. Aber ich werde dich informieren, sobald wir eine Arbeitshypothese aufgestellt haben.«
»Und der Haken?«
»Du wirst deine Kollegen anlügen müssen in dem Bewusstsein, dass ihre Ignoranz sie vielleicht umbringt – wenn auch wahrscheinlich langsamer, als wenn sie wüssten, was vor sich geht.«
Tonys Augen wurden schmal. »Du glaubst, das wäre etwas Neues für mich? Ich mag nicht in einem organisierten Krieg gekämpft haben, aber ich war trotzdem in den Schützengräben, wo es schwerfällt, Freund und Feind zu unterscheiden.«
»Organisierter Krieg«, meinte George langsam, »so was habe ich noch nie erlebt.«
Adam lachte schnaubend. »Wie wahr.« Er kehrte zum aktuellen Thema zurück. »Es gibt Grenzen dessen, was ich dir erzählen kann. Geheimnisse, die nicht mein Eigentum sind. Ich werde dir ohne Rücksichtnahme auf deine Sicherheit mitteilen, was ich kann – aber ich muss dir ein Schweigegelübde abnehmen in Bezug auf Dinge, die Außenstehende nicht erfahren dürfen. Das bedeutet, dass du manchmal, wenn es Leichen regnet, wissen wirst, dass dein Schweigen dafür verantwortlich ist. Dein Schweigen, nicht nur meines.«
Tony fing seinen Blick ein und hielt ihn lange genug, dass Adam seinen Wolf zügeln musste.
»Das ist nur fair«, sagte Tony. »Darf ich darüber nachdenken?«
»Mein Angebot steht«, stimmte Adam zu. Er wartete neben dem SUV, bis Georges Wagen vom Parkplatz gefahren war.