Kapitel 8
Ich möchte die Natur bewahren, die mir so viel schenkt

Hinter unserem Haus gibt es einen kleinen Fichtenwald, der sich steil den Hang hinaufzieht. Der Wald ist nichts Besonderes, keine Augenweide. Aber wenn ich unter den hochgewachsenen Bäumen in die Dunkelheit des Waldes eintauche, fühle ich mich schlagartig mit ihm verbunden. Ich spüre die tiefe Verwurzelung der Bäume und eine besondere Energie. Ich nenne sie die Kraft der echten Natur. Es ist ein Gefühl, das ganz von selbst kommt und durch meinen ganzen Körper strömt und mich erdet. Erst aufgeweckt durch dieses Gefühl beginne ich, bewusster zu schauen, zu hören und zu schmecken. Die kleinen eingetretenen Pfade auf dem weichen, mit Tannennadeln übersäten Boden führen mich dabei schnell bergauf und ganz weit weg vom Alltag ...

Die Natur und die Berge sind für mich weit mehr als nur eine Sportarena. Sie sind für mich ein Ruhe- und Kraftort. Ich kann dort am besten ich selbst sein. Ich fühle mich verbunden und getragen mit und von der Natur. Ich bin in ihr ganz bei mir und kann mich von der Welt drumherum abgrenzen. Es gibt Orte, wo dieses Gefühl besonders stark ist. Der Fichtenwald hinterm Haus ist so ein Ort. Aber auch das Oberreintal. Sobald ich durch das Zaun-Gatterl trete, öffnet sich mir eine andere Welt: die echte Natur. Nach dem Aufstieg durch Wald und Latschen weitet sich mein Blick, gleichzeitig bilden die mächtigen Felswände rundum eine Art Schutzwall. Die alten Ahornbäume bei der Hütte signalisieren Beständigkeit und Geborgenheit. Ich komme bei mir an, Handy und Uhr sind auf einmal gleichgültig geworden.

Zu Hause kann ich zwar in einen ähnlichen Zustand gelangen, aber nur durch aktives In-mich-Gehen, und auch dann stelle ich mir Natur und Berge vor. Draußen, in direktem Kontakt mit der Landschaft, erreiche ich diesen fast meditativen, für mich perfekten Zustand automatisch. Ich muss nichts Spezielles dafür tun. Die einzige Voraussetzung ist, dass ich nicht an meinem körperlichen Limit bin und die Landschaft nicht zu extrem ist. Auf zerklüfteten Gletschern ist es mir zu hart und zu kalt. Was ich brauche, ist der Kontrast von Farben und Formen. Es muss nicht zwingend ein Wald sein. Almwiesen symbolisieren für mich das blühende Leben und vermitteln mir gleichzeitig eine Sanftheit, die mich entspannt und Kraft schöpfen lässt. Mit Felsen verspüre ich auch eine Verbundenheit, aber das Gefühl ist anders: härter und antreibender. Das gilt auch für Felsgipfel. Mich fasziniert ihre Rauheit und ich fühle eine geistige Kraft des Vorankommens, körperlich aber fordern sie mich viel stärker.

Insbesondere wenn ich mal gestresst und leicht angeschlagen bin oder länger krank war, gehe ich ganz bewusst raus in die Natur und lasse ablenkende Faktoren wie Handy und Uhr zu Hause. Ich gehe dann spazieren, hinters Haus in den Wald oder wo es mich spontan hintreibt. Ich höre einfach auf meinen Körper, um herauszufinden, was gerade gut für mich ist. In Innenräumen kann ich meinen Körper ausruhen, aber für die Erholung von Geist und Seele muss ich hinaus. Die Natur gibt mir so viel zurück! Die Energie, die sie mir schenkt, ist etwas ganz Echtes. Ich kann sie nicht auf einem Foto festhalten. Aber wenn ich später, zurück zu Hause, meine Augen schließe und in mich hineinspüre, kann ich die Kraft wieder hervorrufen.

Ob mit meiner Familie, meinen Freunden und Tourenpartnern oder allein – die schönsten Augenblicke erlebte ich schon immer draußen in den Bergen, alles hat dort eine ganz andere Intensität. Mein Alltagsleben könnte mich niemals so begeistern. Am Berg fällt es mir viel leichter, mich auf das Wesentliche zu konzentrieren. Am Stand einer Kletterroute zum Beispiel tauche ich maximal in die Situation ein: Ich bin durch nichts abgelenkt, stehe nur da und sichere. Es herrscht die totale Ruhe und um mich herum ist nichts außer schöne Landschaft.

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In den Bergen bin ich nicht nur mir selbst, sondern auch der Natur viel näher. Die kleinsten Dinge ziehen dann plötzlich ihre Aufmerksamkeit auf sich: Wenn ich am Waxenstein herumkraxle und eine ganz zarte Wildblume, zum Beispiel ein blaues Schusternagerl, aus einem Felsblock herauswachsen sehe, dann staune ich immer wieder aufs Neue: »Wow, wie schafft sie es nur, dem Wind und der Kälte zu trotzen und zwischen den harten Kalkfelsen zu überleben?« Oder wenn ich beim Zustieg zu einer Kletterroute auf Blaubeersträucher treffe: Dann freue ich mich wie ein kleines Kind über diese süßen blauen Früchte, die in rauem Klima ohne menschliches Zutun gedeihen und die ich mir einfach in den Mund stecken kann. Es ist wichtig, diese kleinen Geschenke der Natur nicht als selbstverständlich zu betrachten, sondern ihnen Beachtung zu schenken.

Doch das Gebirge ist nicht nur von landschaftlichen Gegensätzen geprägt. Wenn ich der Natur nah bin, bin ich ihr gleichzeitig auch ausgesetzt und sie zeigt mir nicht nur ihre Schönheit, sondern auch ihre Brutalität. Ganz intensiv ist das beim Biwakieren zu spüren: Die Romantik eines Sternenhimmels am Abend wandelt sich schnell in das Grauen einer dunklen, kalten und rauen Nacht. Und besonders zum frühen Morgen hin werde ich oft unruhig und frage mich ständig: »Wann wird es endlich hell?« Wenn die Sonne aber aufgeht, wird es gleich eine Spur wärmer. Trifft mich der erste Sonnenstrahl im Gesicht, werde ich wie ein wechselwarmes Tier zum Leben erweckt und denke erleichtert: »Ah, jetzt geht’s wieder, jetzt ist alles gut!«

Niederschläge können einerseits etwas ganz Friedliches sein und andererseits zur Gefahr werden. Während ein warmer Sommerschauer im Tal auch etwas sehr Schönes sein kann, bedeutet eine einziehende Regenfront am Berg eher Unheil. Die Landschaft hüllt sich in Wolken, präsentiert sich nur noch grau in grau. Schnell durchdringen Nässe und Kälte den Körper. Kommt zusätzlich Wind hinzu, wird es richtig unangenehm: Er raubt viel Energie und zehrt mich regelrecht aus.

In gefrorenem Zustand, im Winter, kann Niederschlag wiederum unglaublich schön sein. Schnee ist sanfter und ich liebe es, in tief winterliche Landschaften gänzlich einzutauchen. Die Stille in ihnen ist etwas Einzigartiges. Sie überträgt sich auf mich und mein Gedankenchaos beruhigt sich. Sie zaubert mir automatisch ein Lächeln ins Gesicht. Ich kann mich an eine Skitour erinnern, die wir vom Skistadion in Partenkirchen aus starteten. Es schneite wie verrückt. Über drei Stunden glitten wir durch den Wald und über Wiesen und trafen niemanden. Wir waren regelrecht eingehüllt von der Schneelandschaft. Dann erreichten wir die Stuibenhütte. Ich sah das Licht und den Rauch und war einfach nur glücklich über dieses Erlebnis: Die Tour bot keine besondere Herausforderung oder Action, nicht mal eine großartige Abfahrt. Eigentlich geschah einfach nichts. Aber gerade das war es, was das Erlebnis ausmachte.

Mich fasziniert es, wie die Natur aus einem Element so viele verschiedene Zustände hervorbringen kann: fließendes Wasser, weichen Schnee, hartes Eis ... Und sogar Eis ist nicht nur abweisend, sondern kann unglaublich schön sein! Es bildet die bizarrsten Formen aus, zeigt sich dabei immer anders und bietet in seiner stabilsten Form sogar die Möglichkeit, an ihm zu klettern.

Zu den im Gebirge gewaltigsten und gleichzeitig faszinierendsten Wettergeschehen gehören Gewitter. Die Angst vor Gewittern ist beim Bergsteigen und vor allem beim Klettern immer präsent. Einige aus meinem Bekanntenkreis mussten schon schlimme Erfahrungen mit Blitzeinschlägen machen. Gewitter sind unberechenbar und es ist immer mit Glück verbunden, wo genau eine Gewitterzelle hinzieht und ein Blitz einschlägt. Während des Corona-Lockdowns war ich mit meinen Freunden Chrissi, Matti und Kathi auf der Meilerhütte, als sie offiziell geschlossen war. Wir kennen die Wirtin und hatten die Erlaubnis, übers Wochenende allein oben zu übernachten. Abends braute sich ein heftiges Gewitter zusammen. Durch die Fenster beobachteten wir die Blitze, wie sie im Sekundentakt die Felsen um uns herum aufhellten. Plötzlich schrillte ein Telefon. Erschrocken fuhren wir herum. Da erinnerten wir uns, dass das Telefon der Materialseilbahn immer dann läutet, wenn der Blitz in deren Stahlseil fährt. Es war eine ganz unheimliche Situation, die uns die Gewalt der Natur unmittelbar vor Augen führte. Draußen toste der Wind um die Hütte und es donnerte wie verrückt, drinnen klingelte immer wieder wie von Geisterhand das Telefon. Wir waren froh, im Warmen zu sitzen, und hofften, die Blitze würden nicht die Hütte selbst treffen.

Faszinierendes und Bedrohliches gehören gleichermaßen zum Bergsteigen dazu. Dabei bringt es mir aber nichts, Naturgewalten als Gegner zu betrachten. Ich kann am Berg auch keine Tür zumachen und das Wetter aussperren. Aber das will ich auch gar nicht. Naturgewalten sind Teil meines intensiven Bergerlebens. Ich muss mich auf diese Begebenheiten einlassen, sie spüren und lernen, mit ihnen umzugehen und mich zu schützen. Insbesondere im Hochgebirge muss ich mir deshalb die existenziellsten Fragen des (Über)Lebens stellen: Was bietet mir die Natur, wo ich mich unterstellen kann, damit ich nicht nass werde und friere? Wie versorge ich mich? Mit der Zeit komme ich dem Ursprünglichen wieder näher und lerne, wie ich die Natur zu einem gewissen Grad lesen und nutzen kann: Ich erkenne die Zeichen für einen Wetterumbruch und Tierspuren, die mich aus unwegsamem Gelände herausführen; ich weiß, wie ich an Wasser gelange und kann Feuer machen, um mich zu wärmen.

Mein gesamter Aufenthalt am Berg ist eine permanente persönliche Auseinandersetzung mit ihm – auch beim Klettern selbst, wenn das Wetter ruhig und Nebensache ist. Schaue ich aus weiter Entfernung frontal auf eine Wand, erscheint sie mir meist sehr glatt, steil oder sogar abweisend. Je weiter ich zusteige, desto mehr kann ich aber Strukturen erkennen. Der Berg zeigt sich mir nun zunehmend in einem anderen Licht und mit wachsender Erfahrung schärft sich mein Blick für seine logischen Linien und Schwachstellen. Ich erkenne, wo er mir vielleicht einen Weg offenbart, hindurchzukommen.

Wenn ich dann in die Wand einsteige, schaue ich von Seillänge zu Seillänge, welche Möglichkeiten der Berg mir bietet. Er ist kein Sportgerät mit Bedienungsanleitung – ich muss mich als Mensch auf ihn und seine Beschaffenheit einlassen: Was stellt er mir zur Verfügung und wie kann ich das Gegebene, die Struktur mit meinen Fähigkeiten nutzen?

Das zeigt auch wieder, was für eine kleine Rolle wir Menschen in dem ganzen System spielen. Die Felsen sind seit Tausenden von Jahren da und erzählen eine Geschichte. Fels ist nie gleich, verändert sich und besteht aus verschiedenen Gesteinsarten: Dolomit, Granit, Kalk, Gneis. Immer wieder aufs Neue entdecke und erfühle ich diese verschiedenen Strukturen: Hat der Fels Löcher, Schuppen, Risse oder Leisten? Ist er brüchig und warum? Wie hängt das zusammen? Diese Interaktion mit dem Fels wird umso intensiver, je mehr ich an die Grenze meines Kletterkönnens komme, weil ich dann noch genauer hinschauen und -fühlen muss: Wo könnte ein Griff oder Tritt sein, um weiterzukommen; wird der Riss vielleicht ein bisschen breiter, um eventuell doch eine Sicherung legen zu können? Dabei werde ich immer wieder überrascht, wie sogar eine scheinbar total glatte Platte Strukturen und kleinste Tritte und Griffe bietet.

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Die Natur ist perfekt. Sie bietet uns alles und gibt uns alles vor. Wir sind auf dieser Erde, die es schon seit Milliarden von Jahren gibt, zu Gast – das versuche ich mir immer wieder vor Augen zu führen. Ich fühle mich mit der Natur verbunden und erkenne ihren großen Wert. Wegen ihr und durch sie darf ich all die intensiven und wunderschönen Erlebnisse beim Bergsteigen erfahren. Ich versuche vor der Natur demütig zu sein und es ist mir ein Anliegen, dass wir unsere Natur schützen und bewahren – Aber: Als Bergsportlerin nutze ich die Natur auch. Ich stelle mich zwar nicht heroisch vor den Berg und rufe ihm zu: »Heute bezwinge ich dich!« Doch die Berge sind für mich – das gebe ich ganz ehrlich zu – nicht nur ein schützenswerter Naturpark. Denn würde ich das in letzter Konsequenz zu Ende denken, müsste ich für ein Betretungsverbot sein: Wenn ich Natur wirklich zu 100 Prozent Natur sein lassen will, darf ich auch keinen Fuß mehr hineinsetzen.

Das ist das große Dilemma der Bergsteiger: Wir gehen in die Berge wegen der Berge. Wir stellen die Auswirkungen des Klimawandels an unseren »Heiligtümern‹ drastisch fest – Gletscher sind offener, Randklüfte schwieriger zu überqueren, Berge wie der Mont Blanc und das Matterhorn werden gesperrt, klassische Kletterziele wie der Bonatti-Pfeiler an der Petite Dru stürzen zusammen, zu lange Schönwetterperioden machen durch die Wärme das Bergsteigen gefährlicher. Wir wollen unsere Berge deshalb schützen und bewahren, lieben es aber gleichzeitig, sie zu besteigen. Dabei hinterlassen auch wir Spuren – mögen wir uns auch noch so sensibel verhalten.

Das beginnt schon bei der Anreise: Viele Bergliebhaber haben die Berge nicht direkt vor ihrer Haustür und nutzen deshalb sehr oft ihr Auto. Ich nehme mich da selbst nicht aus. Ich wohne zwar mitten in den Bergen, setze mich aber, wenn ich in die Dolomiten oder nach Chamonix möchte, ebenso ins Auto. Oder ich steige ins Flugzeug, um in die Cordillera Blanca oder nach Georgien zu kommen – Bergsteigerziele erstrecken sich über die ganze Welt. Unser CO2-Fußabdruck ist deshalb nicht besser, nur weil wir uns der Natur verbunden fühlen.

Mein Fußabdruck als ehemalige Leistungssportlerin ist sogar noch viel tiefer, da ich viel gereist bin und es immer noch tue. Ich trage auch nicht immer meine Klamotten auf. Wegen beruflicher Faktoren und auch durch mein privates Freizeitverhalten führe ich kein besonders nachhaltiges Leben. Mir ist das bewusst und es wäre deshalb falsch von mir, den Zeigefinger zu heben.

Aber ich versuche, die Probleme zu sehen, mich immer wieder kritisch zu hinterfragen und einen eigenen Weg zu finden, wie ich umweltfreundlicher und nachhaltiger leben und Bergsport betreiben kann. Es sind kleine Maßnahmen, aber ich finde, jede Einsparung und jedes Engagement zählen: Wann immer es geht, fahre ich bei mir zu Hause mit dem Rad zum Bergsteigen und Klettern. Ich nutze ein Hybrid-Fahrzeug und bei weiteren Strecken versuchen meine Freunde und ich Fahrgemeinschaften zu bilden. Wir übernachten oft im Auto, das ist nicht immer angenehm, aber dafür brauchen wir nicht den nächsten Hotelkomplex mit Whirlpool und Sauna. Ich setze mich auch kritisch mit meinen Fernreisen auseinander. Bei meiner ersten Reise zum Elbrus postete ich noch Fotos aus dem Flugzeug – darauf bin ich heute nicht mehr stolz. Die ganze Einstellung zu diesem Thema und seine Wertigkeit haben sich – zurecht – sehr geändert. Trotzdem verzichte ich nicht komplett auf das Fliegen. Noch bin ich nicht so weit zu sagen, dann gehe ich halt drei Wochen in Mitteldeutschland zum Bouldern statt in Patagonien zum Klettern. Natürlich wäre es besser, gar nicht zu fliegen. Aber ich versuche zumindest, mich möglichst lange vor Ort aufzuhalten, und ich leiste im Anschluss einen CO2-Ausgleich.

Außerdem engagiere ich mich als Athletenvertreterin in der Arbeitsgruppe Nachhaltigkeit der International Biathlon Union. Deren Ziel ist es, Biathlon bis 2026 als führende Disziplin bei der Förderung von Nachhaltigkeit im Sport zu etablieren. Einer der zentralen Grundsätze dieser neuen Strategie ist das Ziel, bis 2030 klimaneutral zu werden. Das wiederum zeigt mir, dass der Leistungssport sich seiner Probleme in Bezug auf Ressourcennutzung bewusst ist, und ich finde es wichtig, dass hier aktiv etwas getan wird.

Und ich freue mich, Botschafterin für das Alpenschutzprojekt Eagle Wings sein zu dürfen, in dessen Fokus die verschwindenden Alpengletscher stehen. Das Besondere an dem Projekt ist, dass auf die Klimaveränderungen unter anderem aus der Perspektive eines Adlers aufmerksam gemacht wird, der, mit einer speziellen Kamera »ausgestattet«, beeindruckende Film und Fotoaufnahmen liefert. Die Gründerin Nomi Baumgartl möchte so Menschen faszinieren, sie berühren und dafür begeistern, ein neues Bewusstsein für die wahren Werte der Natur zu entwickeln. Mir gefällt dieser Ansatz besonders gut, weil Bilder für mich viel eindrücklicher sind als nur Worte.

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Den Bergen nähere ich mich am liebsten langsam an und besteige sie möglichst vom Tal aus by fair means. Ich versuche, Seilbahnfahrten weitestgehend zu vermeiden, aber ich bin deshalb nicht per se gegen jede Art von Seilbahn. Das Ganze ist auch immer eine Frage der Perspektive. Ich komme selbst aus einem Ort, der von Touristen und deren Interessen lebt. Und nicht allen ist es möglich, zu Fuß auf einen Berg zu steigen. Das betrifft zum Beispiel manche alte Menschen oder Personen mit Einschränkungen. Haben sie deshalb kein Anrecht, dort oben zu sein, wenn es die technische Möglichkeit dazu gibt? Ich verstehe auch, dass nicht jeder Seilklettern mag und dass Klettersteige ihren Reiz haben und Spaß machen. Ich bin daher nicht grundsätzlich gegen solche Klettersteiganlagen. Es sollte für jeden etwas dabei sein, der es mit der Natur und den Bergen ehrlich meint. Neuerschließungen, ein Ausbau von Skigebieten oder die Installation riesiger künstlicher Kletteranlagen in den Bergen hingegen sind nicht mehr zeitgemäß. Ich denke, man muss die Menschen stattdessen kanalisieren, also beispielsweise in die Skigebiete lenken, deren Betrieb noch sinnvoll ist, statt kleine, tiefer gelegene Skigebiete mit Skikanonen aufzurüsten. Für Letztere wiederum wären Überlegungen sinnvoll, wie man die bereits bestehenden Anlagen anders nutzen kann.

In diesem Zusammenhang sehe ich auch den Bau der »AlpspiX«-Aussichtsplattform 2010 am Osterfelderkopf unterhalb der Alpspitze bei uns in Garmisch-Partenkirchen, gegen die es sehr große Proteste gab. Ich war damals noch zu jung und hatte keine wirkliche Meinung dazu. Heute sehe ich das weder schwarz noch weiß. Der Reiz dieser Plattform ist offensichtlich: Den Ausblick sowie den Einblick in die Tiefe, den Rausch haben viele Menschen sonst nicht. Natürlich ist es faszinierend, wenn man – gesichert – über dem Abgrund steht. Ich habe dieses Erlebnis beim Klettern, aber das können und wollen nicht alle. Und es wäre auch in niemandes Interesse, wenn all diese Menschen mit Klettern oder Klettersteiggehen anfangen würden.

Es ist nicht grundsätzlich falsch, den Menschen Attraktionen zu bieten, solange es sich im Rahmen hält. Die schwierige Frage dabei ist: Wo setzt man dem Erlebnis eine Grenze, weil ansonsten die Belastung für und der Eingriff in die Natur zu groß sind? Ein zusätzlicher Flying Fox dort oben würde mir auch zu weit gehen. Oder wenn es Planungen zu solch einer Plattform an unberührten Bergen wie dem Waxenstein oder in Gegenden mit intakter Flora und Fauna gäbe, dann würde ich auch auf die Barrikaden gehen. Aber ist es so falsch, den Menschen auch im Sommer etwas zu bieten, wo der ganze Osterfelderkopf durch die Bahn und das Skigebiet sowieso schon so verbaut ist? So lenkt man die Massen und konzentriert sie zumindest an einem Fleck, der von seiner Natürlichkeit sowieso schon viel eingebüßt hat, und verschont dadurch noch weitgehend unberührte Berge.

Das gilt beispielsweise auch für ein anderes Thema: Es ist schade, dass wir in Garmisch-Partenkirchen immer noch keinen Bikepark haben. Das Skigebiet und die dazugehörige Infrastruktur mit Parkplätzen, Toiletten und Bergbahnen sind schon da – warum sollen wir das nicht nutzen und auf diesen Flächen einen Bikepark für schneefreie Zeiten installieren? Ich glaube nicht, dass die Wirkung auf die Umwelt besonders negativ ausfallen würde. Ganz im Gegenteil: Es gibt ganz viele motivierte Radfahrer, die auch gerne in den Bergen unterwegs sind, die nicht auf den flachen Radwegen bleiben, sondern Steige rauf- und runterfahren wollen. Wenn wir diesen Leuten nichts bieten, dann fahren sie – wie schon jetzt – irgendwo kreuz und quer durch Wald und Wiesen und den Wanderern über die Füße. Außerdem könnten wir damit auch im Sommer etwas anbieten und der Betrieb der bereits bestehenden Bahnen würde sich weiterhin lohnen.

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Gerade für kleinere und mittelgroße Orte braucht es dringend gute, an Massentourismus und Klimawandel angepasste Gesamtkonzepte. Wenn diese – sinnvoll und nachhaltig – bestehende Infrastrukturen miteinschließen wollen, stehe ich solchen Ideen grundsätzlich sehr offen gegenüber. Denn die Massen sind nun mal da und der Drang der Menschen, in die Berge zu gehen, ist sehr groß – das ist für mich absolut nachvollziehbar, ich gehe ja selbst sehr intensiv in die Berge. Ich maße mir deshalb auch nicht an, anderen das Recht auf Natur und Berge abzusprechen, nur weil sie nicht vor Ort wohnen, ihre Liebe zu den Bergen neu entdeckt haben oder keine »echten« Bergsteiger sind.

Garmisch-Partenkirchen und Umgebung mit dem Eibsee und der Zugspitze sind ein totaler Besuchermagnet – dazu kam es aber nicht von selbst. Das wurde jahrzehntelang forciert. Jetzt kommen die Menschen und wir beschweren uns, dass es viel zu viele sind, und hätten am liebsten, dass sie wieder wegbleiben. Natürlich sehe auch ich, dass die Aufnahmekapazität begrenzt ist. Gerade an den Wochenenden und zu Stoßzeiten sind Ecken wie der Eibsee maßlos überlaufen. Aber wenn wir ein Sport-Ort sein wollen und auf Tourismus setzen – und auch die ganzen Vorteile daraus ziehen –, dann dürfen wir uns nicht beklagen, sondern müssen einen geeigneten Umgang mit diesen Massen finden und darauf achten, dass wir dabei möglichst wenig Schaden an der Umwelt anrichten und unsere Heimat und Traditionen nicht verkaufen. Noch sind wir eine reizvolle und überschaubare Marktgemeinde mit intaktem Dorfleben, kleinen Cafés und netten, malerischen Ecken. Diesen besonderen Charme des kleinen Ortes inmitten der Berge gilt es für mich zu bewahren.

Leider sind wir aber bisher nicht in der Lage, ein besseres und vor allem einheitliches Konzept für den Ort und die Region zu finden. Es gibt so viele und unterschiedliche Interessen und irgendwie leben wir mit einer »Wir sind erst mal gegen alles«-Mentalität. Es mangelt nicht an Ideen, sondern am gemeinsamen Nenner von uns Bürgern. Ich selbst bin in einem Widerspruch gefangen: Ich erkenne die Probleme, kritisiere die Lage, habe aber selbst auch nicht die Gesamtlösung parat. Was ich allerdings sehe, sind erfolgreiche Konzepte zur Lenkung von Besuchermassen in anderen Regionen wie beispielsweise in Tirol und Südtirol – sicher auch nicht alle perfekt, ein Blick darauf könnte sich trotzdem lohnen.

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Es geht mir aber nicht nur darum, Besuchermassen zu lenken und sich über Umweltschutzkampagnen Gedanken zu machen. Die Menschen sollten sich wieder mehr Zeit nehmen und Bewusstsein für die Einzigartigkeit und Schönheit der Natur entwickeln – und zwar über ihre eigene Wahrnehmung und nicht über das Smartphone oder andere Medien. Nehmen wir das Beispiel des Eibsees unterhalb der Zugspitze. Er ist mit seinem türkisblauen und glasklaren Wasser, in dem sich die grauen, steilen Felswände des Wettersteins spiegeln, ein Idyll aus dem Bilderbuch – der perfekte Ort, eine Augenweide.

Aber leider gehen wir nur noch selten zu solch einem Ort, um uns erst mal nur umzuschauen, die Gegend zu erkunden und all ihre Schönheit auf uns wirken zu lassen. Sondern wir kommen an, »scannen« einmal quer, registrieren, »das ist ein besonderer Ort«, zücken unser Handy und schießen ein Foto nach dem anderen. Anschließend schauen wir nicht mehr auf den See, sondern auf das Foto vom See im Handy und posten es meist noch vor Ort, um dann gleich zum nächsten »Hotspot« aufzubrechen – wir waren an einem perfekten Ort, haben es aber trotzdem nicht am eigenen Leib erfahren!

Wir haben uns angewöhnt, die Dinge mit Fotos und Videos zu erleben und zu konservieren. Aber halte ich die Schönheit und die Erinnerung an den Moment und einen faszinierenden Ort nicht viel besser in mir drin fest, wenn ich sie intensiv wahrnehme, anstatt hundert Fotos davon zu knipsen? Mein Speicherplatz im Kopf wird von Fotos nicht berührt. Ich muss mich mit meinen Sinnen darauf konzentrieren, den Ort mit meinen Augen sehen, dann riechen, hören und erspüren, damit eine intensive Erinnerung in meinem Gedächtnis bleibt. Viele von uns haben es verlernt, so zu erleben und zu erinnern. Natürlich ist es trotzdem schön, Fotos zur Erinnerung zu machen – aber eben nur, wenn ich beides gemacht habe: den Moment intensiv erlebt und auf Foto festgehalten.

Wenn wir es wieder schaffen würden, mehr im Hier und Jetzt zu sein und die Einzigartigkeit der Natur mit allen Sinnen und nicht auf einem Bildschirm zu erleben, dann würde vielleicht auch der Respekt vor der Natur von selbst zurückkommen. Und mit einem achtsamen Umgang würden wir nicht nur uns selbst, sondern vor allem auch künftigen Generationen etwas Gutes tun, denn »wir haben die Erde nicht von unseren Eltern geerbt, sondern von unseren Kindern geliehen« (Indianische Weisheit).