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Jan-Luca Stern war schon um 6.00 Uhr aufgestanden und hatte sich zum Joggen fertig gemacht. Seine neuen Laufschuhe passten hervorragend. Stolz warf er im Vorbeigehen einen Blick in den Spiegel. Durch das harte Lauftraining und den konsequenten Verzicht auf Zucker hatte er seit März bereits fünf Kilo abgenommen. Schnell griff er nach dem Schlüssel und öffnete die Tür seiner Souterrainwohnung. Wann immer er keine Frühschicht im Alten- und Pflegeheim in Herborn hatte, ging er kurz nach Sonnenaufgang joggen. Er mochte die Stimmung am frühen Morgen in Breitenbergen. Es schien ihm dann so, als ob dieser kleine Ort mitten im hessischen Westerwald allein ihm gehöre. Wie immer bog er vor dem Haus links ab. »Was für ein schöner Tag im Mai, und noch dazu ein Feiertag!«, dachte er. Die Vögel zwitscherten lautstark und die Sonne schien schon angenehm warm, als er an den Nachbarhäusern vorbeilief. Sämtliche Vorgärten strahlten frisch herausgeputzt um die Wette. In den Blumenkästen gediehen üppige Geranien, Lavendel und andere Pflanzen. Erstaunlich, wie lieb er Breitenbergen in den letzten Jahren gewonnen hatte. Jan-Luca Stern begann zu laufen, vorbei an der Kirche in das Neubaugebiet. Hier wechselten sich bunte Anwesen im skandinavischen Stil mit luxuriösen Villen und kleinen Einfamilienhäusern zu einem lebhaften Mix ab. Andere Häuser waren noch halbe Baustellen. Auf einem Geröllhaufen hatten es sich Blindschleichen bequem gemacht. Obwohl er sich vor Reptilien aller Art ekelte, machte er kurz Halt und beobachtete die Tiere beim Sonnenbaden. Wie tot lagen sie da, ein Relikt aus uralten Zeiten. Nur ihre Zungen bewegten sich. Plötzlich überkam ihn beim Anblick der Tiere ein kalter Schauer, wie eine dunkle Vorahnung. Schnell lief er weiter.

Der Schweiß rann ihm schon von der Stirn über die Brillengläser. Ein Auto kreuzte seinen Weg und zwang ihn, vor den letzten Häusern im Ort noch einmal stehen zu bleiben. Der laute Schrei einer Frau ließ ihn aufschrecken, dann war es wieder still. Offenbar nur ein Paar beim Sex am frühen Morgen. Etwas verlegen lief er weiter Richtung Wald, vorbei an der Pferdekoppel. Ein Fohlen begleitete ihn im Trab den Zaun entlang, die anderen Pferde standen nur gelangweilt im Schatten und würdigten ihn keines Blickes. Endlich hatte er den einsamen und steilen Waldweg erreicht. Das Laufen fiel ihm schwer. Seine Beine fühlten sich bereits an wie Blei, obwohl er noch nicht einmal ein Drittel der Strecke hinter sich hatte. Er nahm einen Schluck Wasser aus seiner Trinkflasche und bog um die Kurve. Fast zeitgleich nahm er einen seltsamen süßlichen Geruch wahr. Dann sah er sie am Waldrand vor dem Wegkreuz liegen, etwa zehn Meter von ihm entfernt. Ihm war sofort klar, dass hier etwas nicht stimmte. Auf einmal wurde ihm flau im Magen und schwindlig zugleich. Mit weichen Knien lief er auf sie zu.

Es war eine ältere, etwas rundliche Frau. Ihre weiße Bluse war am Rücken überall mit geronnenem Blut getränkt, die markante schwarze Brille saß noch halb auf der Nase. Den Kopf zur Seite gedreht lag sie auf dem Bauch, zu beiden Seiten ein Nordic-Walking-Stock. In ihrem Rücken steckte ein Messer!

»Oh mein Gott! Das ist doch Rosi Weintraud!«, rief Jan-Luca Stern entsetzt aus. Dann stand er eine Weile wie gelähmt da. An den Anblick von Toten hatte er sich nie gewöhnen können, auch bei der Arbeit nicht. Mit einer Mischung aus Angst und Neugier starrte er auf den Leichnam. Eine schillernde Persönlichkeit aus dem Ort, die ihm nicht unbekannt war. Aufgrund der Hitze hatte offenbar schon der Verwesungsprozess eingesetzt. An den weit geöffneten braunen Augen machten sich bereits die ersten Mücken zu schaffen. Ihm war klar, dass er hier nicht mehr helfen konnte.

Die Tote war nicht besonders groß, um die sechzig Jahre alt und mit beigefarbenen halblangen Hosen, einer weißen Baumwollbluse sowie hellen Sneakers bekleidet. Die orangerot gefärbten kurzen Haare verliehen ihr zusammen mit dem roten Lippenstift, der dunklen Brille und der Leichenblässe ein beinahe bizarres Aussehen in der hellen Morgensonne. Seine Gedanken schweiften ab. Jeder im Ort kannte Rosi Weintraud. Sie war als »die reiche Witwe mit dem jungen Liebhaber« bekannt. Plötzlich empfand er tiefes Mitleid für die Frau am Boden, die er persönlich nie kennengelernt hatte. Gedanken schossen ihm durch den Kopf. Hoffentlich hatte sie nicht lange leiden müssen. Ob sie ein schönes Leben gehabt hatte? Wie schlimm war sein Fund für ihre Angehörigen? Aber vor allem: Wer hatte Rosi Weintraud das angetan? Es war der Verwesungsgeruch, der bei Jan-Luca Stern ein Würgen auslöste und ihn wieder in die Realität zurückholte. Endlich wandte er sich von der Toten ab und wählte auf seinem Handy die 110.