Vera Derneck hatte sich schon früh am Morgen vorgenommen, den Feiertag zu einem perfekten Wellness- und Erholungstag zu machen. Das Wetter war herrlich, sie hatte frei, und ihre Tochter Julia verbrachte die Woche bei ihrem Ex-Mann. Der ganze Tag gehörte also ihr allein! Nach der Scheidung waren Eric und Vera sich einig gewesen, dass Julia so wenig wie möglich unter der Trennung leiden sollte. Also hatte Vera sich eine schicke Dreizimmerwohnung in der Siegener Oberstadt gesucht. Seitdem pendelte ihre Tochter wochenweise zwischen der Wohnung ihres Vaters in der Unterstadt und Veras neuem Zuhause. So hatte Julia sich weder zwischen den Elternteilen entscheiden noch umziehen oder die Schule wechseln müssen. Mittlerweile konnten alle gut mit dem Arrangement leben, und zu ihrem Ex-Mann hatte Vera ein fast wieder freundschaftliches Verhältnis gefunden. Fast.
Nachdem Vera mit ihrer Tochter telefoniert hatte, war sie ins Freibad nach Wilnsdorf gefahren. Wegen des Feiertags war das Schwimmbad bereits morgens um 10.00 Uhr voll mit Familien und Kindern. Überall waren junge Väter, die sich um ihre Kleinen in einer so liebevollen Art und Weise kümmerten, die sie in ihrer eigenen Kindheit sicher nicht erfahren hatten. Geduldig planschten sie mit dem durchaus anspruchsvollen, teilweise in den schrillsten Tönen kreischenden Nachwuchs im Wasser. Die dazugehörigen Mamis saßen entspannt am Beckenrand und unterhielten sich. Insgeheim schien ein Wettbewerb zu laufen, welche der Mamis sich den besten und attraktivsten Super-Dad geangelt hatte. Vera beobachtete das Spektakel amüsiert, während sie ihre Bahnen im Schwimmerbecken drehte. Noch im letzten Sommer hätte ihr der Anblick der vielen scheinbar perfekten Familien weh getan und sie an das Scheitern ihrer eigenen Ehe erinnert. Vera war stolz, dass sie über diese Gedanken hinweg war. Braungebrannt und attraktiver denn je schwamm sie ihre dreißig Bahnen. Beim Aussteigen aus dem Schwimmbecken bemerkte sie sogar, wie der eine oder andere junge Papa ihr verstohlen hinterherschaute.
Zurück zu Hause telefonierte Vera mit ihren Eltern und lud sich für Sonntag zum Spargelessen ein. Dann fuhr sie mit dem Rad in die Unterstadt zu einem Restaurant mit dem schönen Namen »Best Beef in Town«. Dort war sie mit ihrer besten Freundin Monika zum Mittagessen verabredet. Monika und Vera kannten sich schon seit der Schulzeit. Für einige Jahre hatten sie sich aus den Augen verloren, aber bei einem Klassentreffen wieder Kontakt geknüpft. Die Tatsache, dass beide alleinerziehend waren und pubertierende Töchter hatten, verband sie.
Monika plapperte fast ohne Pause und schaffte es kaum, dabei ihren Burger zu essen. Aufgeregt erzählte sie von ihrem letzten Date.
»Stell dir mal vor. Da lasse ich mich schon auf ein Treffen bei ihm zu Hause ein, dann trifft mich dort gleich der erste Schlag. Der Typ haust in einem runtergekommenen kleinen Souterrain-Appartement. Wohnen würde ich das nicht nennen. Noch nicht mal aufgeräumt hatte er. Und einen Köter hat er auch, so einen Kampfhund. Anstatt zu kochen, bestellt er Pizza beim Italiener und serviert einen Billigwein, den es wohl gratis dazu gab. Mehr war ich ihm nicht wert. Beim Essen hat mich Terence die ganze Zeit angeknurrt. ›Vielleicht hat er ja sexuell was zu bieten‹, habe ich mir gedacht und weiter Small Talk gemacht. Dann sagt er doch glatt: ›Du, ich bin total müde und muss morgen früh aufstehen.‹ Ich habe das Glas mit dem Gesöff einfach stehen lassen und bin gegangen. Wie sehr muss ich mich eigentlich noch erniedrigen lassen? Kannst du mir das vielleicht erklären, Frau Kommissarin?«
Vera kannte ihre Freundin und wusste, dass diese gerne mal bei ihrem Alter und Umfang auf »Unforgettable« trickste. Da die Männer, mit denen sie sich traf, ähnlich vorgingen, folgte die beiderseitige Ernüchterung meist schon beim ersten Date. Internet-Dating war knallhart und schonungslos ehrlich, das wusste Vera aus eigener Erfahrung. Zu ihrer Freundin sagte sie nur: »Warum triffst du dich auch immer mit jüngeren Typen?«
»Wenn ich mich mit gleichaltrigen Männern treffe, bekomme ich immer zu hören, dass sie eigentlich was Jüngeres suchen!«, konterte Monika sofort.
»Vielleicht ist ›Unforgettable‹ auch einfach nicht das Richtige für dich. Ich habe mich da schon vor Wochen wieder abgemeldet«, versuchte Vera, ihre Freundin zu überzeugen.
»Du hast ja recht. Aber ohne ›Unforgettable‹ lerne ich überhaupt niemanden kennen«, meinte Monika leicht verärgert und biss in ihren Hamburger.
Kaum hatte Vera sich nach dem Essen von Monika verabschiedet, vibrierte ihr Handy. Es war eine Nachricht von ihrer Chefin Doris Dornbirn. »Stell dir vor, wir haben einen Mord in Breitenbergen. Melde dich mal bei Michael, der war mit Karsten Träsch vor Ort. Wir sehen uns morgen. Schönen Feiertag.«
»Das gibt’s ja nicht«, dachte Vera, während sie nach Hause radelte. Sie kannte Breitenbergen nur von der Durchfahrt. Ein schönes, ziemlich verschlafenes Dorf im Westerwald, aber doch kein Ort für einen Mord!
Zurück zu Hause beschloss sie, sich den Tag davon nicht ruinieren zu lassen.
Gegen Abend schenkte sie sich ein Glas Wein ein, setzte sich damit auf den Balkon und rief Saitelhöfer an.
»Hallo Michael. Habe ich dich geweckt? Du klingst so verschlafen«, fragte Vera.
»Ja, ich bin hier auf der Terrasse eingenickt. War ein anstrengender Tag. Doris hat dich bestimmt schon informiert«, antwortete ihr Kollege erschöpft. »Ein Mord in Breitenbergen! Und noch dazu an einer ziemlich schrillen Person. Mit orangeroten Haaren und knallrotem Lippenstift lag sie da. Die Einzelheiten erspar ich dir heute. Bis jetzt wissen wir nur, dass sie Rosi Weintraud heißt, ziemlich vermögend war und mit ihren sechsundsechzig Jahren noch einen jungen brasilianischen Lover hatte. Den wollte sie sogar heiraten!« Vera versuchte, sich ein Bild von der Ermordeten zu machen.
»Klingt nach einem bewegten Leben und vielen möglichen Motiven«, meinte sie nachdenklich. »Und wie geht es dir sonst?« Vera wusste, wie sehr der Tod seines Vaters Michael mitgenommen hatte.
»Geht so. Ich werde noch eine Runde joggen, mit Kai telefonieren und dann ins Bett gehen«, erwiderte der Kommissar müde.
»Ich hatte heute schon mein Sportprogramm und sitze entspannt mit dem Kater auf der Terrasse«, sagte Vera und nahm einen Schluck Wein.
»Okay. Dann sehen wir uns morgen«, verabschiedeten sie sich.