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Pünktlich um 10.00 Uhr erreichten Saitelhöfer und Vera am nächsten Morgen Frankfurt am Main. Die Sonne schien über der Stadt und spiegelte sich in den Fenstern der Hochhäuser. Vorbei am Messeturm fuhren sie in den Stadtteil Bockenheim, wo der Sohn von Rosi Weintraud wohnte. Am ehemaligen Universitätsgelände bogen sie in ein Villenviertel ein und fanden erstaunlich schnell einen Parkplatz.

»Schöne Gegend hier. Bestimmt ganz schön teuer«, sagte Vera beeindruckt.

»Ja, ich habe während meines Studiums hier morgens immer einen Parkplatz gesucht«, erwiderte Saitelhöfer. »Damals war Frankfurt viel interessanter, finde ich jedenfalls. Es gab eine große Schwulen-Gemeinde und Clubs wie das ›Omen‹ und ›Dorian Gray‹. Da stand am Wochenende die gesamte Szene aus Deutschland Schlange. Heute ist hier alles nur noch angepasst und spießig. Fahrradfahrende Hipster und arrogante Banker. Über das Publikum auf der Zeil will ich gar nicht erst reden.« »Jaja, die guten alten Zeiten«, lachte Vera. »Jetzt hörst du dich schon an wie meine Mutter. Und sag besser nichts gegen Fahrradfahrer!«

Sie standen vor dem schmiedeeisernen Tor eines sehr gepflegten Altbaus. Hinter den Gardinen im Erdgeschoss hatte sie bereits eine weibliche Person entdeckt, die schnell verschwand. Schon bevor sie den Klingelknopf drückten, öffnete sich die Haustür. Vor ihnen stand eine Frau um die vierzig, etwa 1,70 m groß, schlank und mit einem rundlichen, aber hübschen Gesicht, schmalen Lippen und langem blonden Haar, welches sie etwas altmodisch zu einem Zopf geflochten und zusammengesteckt hatte.

»Sie sind von der Polizei. Wir haben Sie schon erwartet. Mein Name ist Veronika Fincker«, sagte sie mit einem leichten osteuropäischen Akzent und reichte ihnen die Hand. »Ich bin die Lebensgefährtin von Malte Weintraud. Kommen Sie doch rein. Wir wohnen hier gleich im Erdgeschoss.« Sie stellten sich vor, zeigten kurz ihre Ausweise und begrüßten die Dame. Das Treppenhaus war dunkel und schon etwas in die Jahre gekommen. Sie betraten eine typische Altbauwohnung im Zwanzigerjahre-Stil. Auf einem Sideboard standen unzählige Familienfotos, überwiegend von Veronika Fincker und einem Mädchen, wahrscheinlich ihrer Tochter. Das Wohnzimmer war sparsam mit antiken Möbeln und einer samtbezogenen Sitzecke in Altrosa ausgestattet. An der Wand hing ein riesiger Flatscreen-Fernseher. Aus den auf dem Boden stehenden protzigen Boxen ertönte klassische Musik.

»Mein Mann ist draußen«, zwitscherte die blondgefärbte Hausherrin im schwarzen Kleid und ging vorweg. Im Garten spielte ein etwa zehnjähriges Mädchen mit einem kläffenden Mops. Beide nahmen keinerlei Notiz von Vera und Saitelhöfer. Malte Weintraud erhob sich aus seinem Gartenstuhl und begrüßte sie höflich.

»Guten Tag. Ich habe letzte Woche schon mit Ihren Kollegen gesprochen«, sagte er relativ kühl. Sie stellten sich vor und sprachen dem Sohn der Ermordeten ihr Beileid aus.

»Danke. Leider kann ich Ihnen jetzt nicht mit Tränen dienen. Meine Mutter und ich hatten schon seit Jahren ein abgekühltes Verhältnis zueinander. Mama hatte etwas gegen meine Beziehung zu Veronika. Bis heute weiß ich nicht, warum. Sie hat uns noch nicht mal zu ihrem fünfundsechzigsten Geburtstag im letzten Jahr eingeladen. Außer mir und Veronika waren so ziemlich alle da. Das hat mich sehr verletzt. Aber natürlich bin ich traurig. Dass sie ermordet wurde, kann ich gar nicht glauben. Ich dachte immer, ihr passiert mal was auf ihren Abenteuerurlauben.« Obwohl er jünger war, sah Malte Weintraud deutlich älter aus als seine Schwester Regina. Er war nicht sonderlich groß und mit einem leichten Bauchansatz, aschblonden Haaren und einer Brille eher unscheinbar. Äußerlich wirkte er ruhig, sein roter Kopf ließ aber entweder auf einen Sonnenbrand, zu viel Alkohol oder ein aufgewühltes Inneres schließen.

»Bitte setzen Sie sich.« Veronika Fincker stellte Wasser und Gläser auf den Terrassentisch.

»Herr Weintraud, was können Sie uns über Ihre Mutter sagen? Bei Ihrer Schwester waren wir bereits gestern«, eröffnete Saitelhöfer das Gespräch.

»Oh, bei meiner Schwester waren Sie schon?«, erwiderte Malte Weintraud spöttisch. »Dann hat Ihnen die feine Dame ja bestimmt schon alles erklärt. Ich bin ja nur …«

»Bei allem Respekt«, unterbrach ihn der sichtlich genervte Kommissar. »Ihre privaten Belange tun nichts zur Sache. Wir haben hier einen Mord aufzuklären. Den Mord an Ihrer Mutter! Können wir also bitte vernünftig und ohne diese Seitenhiebe weitermachen?«, fragte er scharf.

»Entschuldigen Sie, Sie haben natürlich recht. Tut mir leid«, entgegnete Malte Weintraud leicht beleidigt. »Was möchten Sie denn wissen?«

»Beschreiben Sie mal Ihre Mutter und ihr Leben. Hatte sie Feinde? Können Sie sich vorstellen, dass es jemanden gibt, der sie umbringen wollte?«, hakte Vera nach.

»Also, man sagt so was nicht gerne über die eigene Mutter, aber ich halte das nicht für ausgeschlossen. Mit ihrem Charakter und ihrem Lebensstil hat sie sich nicht gerade viele Freunde gemacht. Erst kam sie jahrelang nicht über den Tod meines Vaters hinweg, dann hat sie aber auch wirklich kein Fettnäpfchen ausgelassen. So genau war ich nie über die Eskapaden meiner Mutter informiert, da muss ich Sie tatsächlich an meine Schwester verweisen. Die weiß besser , mit wie vielen Männern Mutter außer Pedro noch Affären hatte.« Er machte eine bedeutungsvolle Pause und trank einen Schluck Wasser. Dann fuhr er fort:

»Ich habe Breitenbergen nach dem Tod meines Vaters schnell verlassen. Von meiner Mutter konnte ich keine Hilfe erwarten. Die war nur mit sich selbst beschäftigt. Also habe ich mich hier in Frankfurt bei der Stadtverwaltung beworben und eine Lehrstelle bekommen. Es war nie leicht für mich allein in Frankfurt. Bis heute habe ich hier kaum Anschluss und nur ein paar wenige echte Freunde gefunden. Meine Beziehungen zu Frauen haben nie lange gehalten und waren meist große Enttäuschungen. Sowas verletzt. Langsam habe ich angefangen, zu trinken. Mit der Zeit bin ich zum Alkoholiker geworden. Es gab immer wieder Abstürze, nach denen ich auf Entzug in der Psychiatrie war. Zuletzt als meine Mutter an Krebs erkrankte. Gott sei Dank bin ich Beamter. Woanders hätten die mich längst rausgeschmissen. Vor vier Jahren habe ich meine Veronika kennengelernt, seitdem bin ich trocken. Zusammen mit Leonie sind wir jetzt eine glückliche Familie«, erklärte Malte Weintraud stolz und griff kurz nach der Hand von Veronika Fincker.

Diese erwiderte seinen treuen Hundeblick derart unecht und aufgesetzt, dass sich Vera fragte, wie Malte Weintraud diese Heuchelei nur übersehen konnte.

»Zurück zu Ihrer Mutter. Sie sagten, sie hätte sich im Leben auch Feinde gemacht. Wen zum Beispiel? Und was halten Sie vom Lebensgefährten Ihrer Mutter? Pedro Aldonovia?«, wollte Vera wissen. Veronika Fincker rollte unbewusst mit den Augen, als sie den Namen hörte.

»Ja, dieser Pedro. Was soll ich dazu sagen?«, begann Malte Weintraud. »Den hat sich meine Mutter auf einem ihrer Brasilien-Trips angelacht. Seitdem kam er regelmäßig nach Deutschland zu ihr oder sie flog zu ihm runter. Mittlerweile lebt er in Breitenbergen. Über den Pedro kann ich nichts Schlechtes sagen. Ich kenne ihn aber auch nicht richtig gut. Wir haben uns nur selten gesehen. Er ist fleißig, arbeitet in Herborn im Eiscafé als Kellner und hat in der Zeit erstaunlich gut Deutsch gelernt. Natürlich ist er viel zu jung für meine Mutter. Und sicher war es auch weniger Amor als das Geld meiner Mutter, was die beiden zusammengebracht hat. Aber daraus hat Pedro meines Wissens auch nie einen Hehl gemacht. Mir waren die Heiratspläne egal. Ich habe von meiner Mutter eh nicht mehr viel zu erwarten. Die Wohnung hier habe ich zu Zeiten, als Bockenheim noch ein reines Studentenviertel war, günstig gekauft und abbezahlt. Mittlerweile ist sie ein Vermögen wert. Ich brauche das Geld meiner Mutter also nicht«, schloss er mit einigem Trotz in der Stimme.