Rosi Weintraud wusste nicht, wie ihr geschah. Sie lag im Sterben, und das Blut floss in Strömen aus der Stichwunde auf den kleinen Feldweg in Breitenbergen. Sie spürte keinen Schmerz mehr, aber Erinnerungen kamen in ihr hoch. Wie in einem Film lief ihr Leben rückwärts in einem rasanten Tempo vor ihr ab. Es ging alles so schnell, dass sie die Bilder und Eindrücke, die auf sie niederprasselten, kaum fassen konnte. Plötzlich machte dieses wirre Daumenkino Halt …
Rosi sah sich in ihrem Wohnzimmer wieder. Ihr Schwiegersohn Eric saß ihr gegenüber. Es war der Abend vier Wochen vor ihrem Tod. Eric Niedt war mal wieder in Geldnöten und die privaten Inkasso-Haie hinter ihm her. Eric wirkte enorm angespannt und nervös. Mit seinen kalten blaugrauen Augen starrte er Rosi an.
»Was soll das heißen, du kannst mir nicht helfen?«, fragte Eric scharf. »Du hast mir doch immer Geld geliehen!«
»Ja, und du hast noch immer nichts draus gelernt«, konterte Rosi. »Wie viel Geld habe ich dir in den letzten Jahren schon gegeben? Zwanzig- oder dreißigtausend Euro? Wahrscheinlich mehr. Und keinen Cent davon habe ich wiedergesehen. Du weißt genau, dass ich das nicht für dich, sondern für Regina und die Kinder getan habe. Sie sollten nicht wissen, was für ein spielsüchtiger Taugenichts du bist. Aber meine Geduld ist jetzt zu Ende. Mit euch allen. Ich bin nicht die Kuh, die ihr ständig melken könnt. Von nun an werde ich nur noch an mich denken. Und an die Menschen, denen ich vertraue. Wer weiß, wie viel Zeit mir noch bleibt, so krank wie ich bin. Ich will endlich mein Leben in Ordnung bringen. Und du, Eric, solltest das auch tun. Von mir bekommst du jedenfalls nichts mehr«, hörte sich Rosi sagen. Eric rang sichtlich um Fassung.
»Das kannst du doch nicht machen, du bist meine letzte Hoffnung! Du kannst mich nicht so einfach hängen lassen. Die schlagen mich krankenhausreif oder bringen mich um. Willst du das auf dem Gewissen haben?«, fragte er vorwurfsvoll.
»Eric, du solltest langsam damit aufhören, immer anderen die Schuld für deine Misere zu geben. Im Grunde genommen ist es doch ganz einfach: Du wärst besser in der Hotellerie geblieben, aber du wolltest ja hoch hinaus. Heute bist du ein schlechter Immobilien-Makler, der über seine Verhältnisse lebt und seine Familie nicht ernähren kann. Ohne Reginas Job und meine Finanzspritzen könntet ihr euch euren Lebensstandard überhaupt nicht leisten. Aber damit ist jetzt Schluss. Ich bin es leid, deine finanziellen Eskapaden auszubügeln. Es ist mir inzwischen auch egal, wenn du Regina verlässt. Oder die Geschichte mit dem Unfall aus Koblenz ausplauderst. Hol dir endlich Hilfe!«, beendete Rosi ihre Ansage. Eric hatte begriffen, wie ernst es ihr war. Hektisch drückte er seine Zigarette aus, der Schweiß lief ihm die Stirn herunter.
»Das werde ich dir nie verzeihen. Ich sag dir nur eins: Wenn die Kredithaie mir etwas antun, wirst du mir dafür büßen!« Rosi erwiderte nur kühl:
»Ich lasse mir nicht mehr von dir drohen. Bitte, Eric, verlass jetzt mein Haus.«
»Wie du willst.« Scheinbar regungslos stand Eric auf und ging Richtung Haustür. Rosi begleitete ihn. Innerlich atmete sie bereits auf und glaubte, ihren Schwiegersohn für immer los zu sein. Sie hatte jedoch dessen Jähzorn unterschätzt. Plötzlich drehte sich Eric noch einmal zu ihr um. Wie ein tollwütiger Hund, die aufgerissenen Augen voller Hass und mit gebleckten Zähnen schaute er sie an.
»Du glaubst doch nicht im Ernst, dass ich mich hier einfach von dir aus dem Haus werfen lasse?«, raunte er böse. Noch bevor er zu Ende gesprochen hatte, spürte Rosi seine Faust im Gesicht. Der Schmerz schoss ihr in den Kopf, ihr wurde schwindlig. Blut floss ihr aus der Nase.
»Das ist erst der Anfang, Rosi«, zischte Eric. »Je nachdem, was die mir antun, du kriegst das Gleiche ab. Und wage es ja nicht, mit irgendjemanden über den Abend hier zu reden. Sonst erfährt das ganze Dorf von deinem Unfall in Koblenz. Und dass du Iris von Hettenkever ins Koma gefahren hast. Wie du sicher weißt, ist sie letztes Jahr gestorben. Letzten Endes deine Schuld. Ihr Ehemann Joachim hat sich gleich nach ihrem Tod erschossen. Das kann jeder herausfinden, der weiß, wonach er suchen muss. Ein gefundenes Fressen für die Leute im Ort!« Mit einem lauten Knall schlug Eric die Tür hinter sich zu.
Leise schluchzend stand Rosi im Hausflur. Aus dem Schluchzen wurde ein lautes, verzweifeltes, hysterisches Schreien. Der Schmerz hämmerte in ihrem Kopf, das Blut hatte mittlerweile ihre Bluse rot getränkt. Rosi wurde bewusst, dass sie Hilfe brauchte. Schnell griff sie nach ihrem Hausschlüssel und rannte zum Haus ihrer Schwester Margot.
Auf einmal verschwammen die Erinnerungen an diesen Tag wieder und Rosi sah ihr Leben weiter an sich vorbeiziehen.