Schon früh am Montagmorgen saß Doris Dornbirn allein im Büro. Frustriert blickte sie auf die Unterlagen im Mordfall Rosi Weintraud. Fast wie eine Anklage lag die Akte auf ihrem Schreibtisch. Beinahe vierzehn Tage nach der Tat tappten sie noch immer völlig im Dunkeln. Bis jetzt hatten sie nur vage Vermutungen, keine brauchbaren Beweise, keine Zeugen. Ein paar künstliche Haare in der Asservatenkammer und jede Menge gegenseitige Verdächtigungen in einer heillos zerstrittenen Familie. Aber nichts, was auch nur annährend zur Aufklärung oder gar für einen Haftbefehl reichen könnte. Damit konnte Staatsanwältin Steuer nicht zufrieden sein. Und die gesamte Bevölkerung rund um Herborn auch nicht. Seit dem Mord war hier nichts mehr wie vorher. Jeder fühlte sich bedroht oder verfolgt und verbreitete seine eigene Theorie über den mutmaßlichen Mörder.
»Tun Sie endlich etwas! Wir trauen uns abends nicht mehr aus dem Haus«, hatte ein besorgter Anwohner in der »Herborner Neuen Presse« geschrieben. Nervös wählte Doris Dornbirn die Gießener Nummer von Staatsanwältin Steuer. Diese nahm sofort ab.
»Die Staatsanwaltschaft am Landgericht Gießen, Staatsanwältin Steuer am Apparat.«
»Guten Tag, Frau Steuer, Dornbirn aus Herborn hier«, meldete Doris sich betont freundlich. Sie hielten sich nicht lange mit Small Talk auf.
»Gut, dass ich Sie am Apparat habe. Mir liegen die Ergebnisse der Hausdurchsuchungen und der Handy-Auswertung vor«, kam die Staatsanwältin direkt zur Sache. »Erwartungsgemäß sind die Haare an der Perücke, die wir im Haus von Rosi Weintraud gefunden haben, nicht identisch mit den künstlichen Perückenhaaren an der Toten. Wäre ja auch zu schön gewesen. Auch die Durchsuchung in Pedro Aldonovias Wohnung verlief ergebnislos. Derzeit können wir ihm nichts nachweisen«, meinte Staatsanwältin Steuer enttäuscht. Dann fuhr sie fort:
»Aus den Bankunterlagen geht hervor, dass Rosi Weintraud über ein Barvermögen von wenigstens fünfhunderttausend Euro verfügte. Zusammen mit der Immobilie beläuft sich der Nachlass daher auf wenigstens eine Million Euro. Ich bin mal sehr gespannt, wer das alles erben wird. Das Testament ist bei einem Notar in Herborn hinterlegt. Der ist allerdings noch bis Ende kommender Woche im Urlaub. Einen Antrag auf Einsicht ins Testament habe ich bereits beim Ermittlungsrichter gestellt.« Staatsanwältin Steuer machte eine kurze Pause.
»Was ist mit der HIV-Erkrankung? Vielleicht hat Rosi Weintraud jemanden damit angesteckt. Das könnte ein Mordmotiv sein«, warf Doris ein.
»Unwahrscheinlich«, erwiderte die Staatsanwältin. »Ich habe bereits mit ihrem Hausarzt gesprochen. Rosi Weintraud hat ihre Medikamente seit etwa drei Jahren peinlichst genau eingenommen. Und gut vertragen. Sie war also zu keiner Zeit ansteckend. Das hat sie zumindest ihrem Arzt erzählt. Ich glaube, das Thema HIV können wir abhaken.«
»Was ist mit den Handy-Daten?«, hakte Doris nach.
»Die liegen vor und bringen uns sogar ein Stück weiter. Neben den engsten Angehörigen hat Rosi Weintraud viel mit ihrem Arbeitgeber telefoniert. Das erscheint mir aber nicht außergewöhnlich. Interessanterweise hatte sie etliche telefonische Kontakte zu ihrem Schwiegersohn, Eric Niedt. Das ist dann doch etwas überraschend, da die beiden bekanntermaßen keine Freunde waren. Wir sollten uns den Schwiegersohn also einmal genauer anschauen. Schließlich behauptet Margot Burgund, er sei gegenüber Rosi Weintraud handgreiflich geworden. Bitte schicken Sie Frau Derneck und Saitelhöfer zu ihm nach Wetzlar. Am besten heute noch.«
»Mache ich, sobald sie im Büro sind«, bestätigte Doris. »Ansonsten hat Rosi Weintraud ziemlich viel mit ihrer Freundin Elfriede Bonames aus Frankfurt telefoniert. Die sollten wir als Nächstes befragen. Und es gab etliche Anrufe aus Hamburg vor ein paar Monaten. Die Nummer haben wir aber noch nicht ermitteln können.« Staatsanwältin Steuer zündete sich offenbar eine Zigarette an, bevor sie mit ihrem Monolog fortfuhr. »Aufgrund der zahlreichen Konflikte und Motive gehen wir derzeit von einer Beziehungstat und nicht von einem Serientäter aus«, stellte sie fest. »Dieses vorläufige Ergebnis werde ich der Presse heute bekanntgeben. Das sollte uns erst mal etwas Luft verschaffen. Also, an die Arbeit! Ich möchte, dass der halbseidene Schwiegersohn und die Freundin von Rosi Weintraud noch vor der Beerdigung am Donnerstag vernommen werden. Und wenn wir schon dabei sind: Saitelhöfer und Derneck sollen sich auf der Beerdigung umschauen. Vielleicht fällt ihnen ja irgendetwas auf. Und finden Sie diese Rita Enkhaim! Ich will wissen, ob sie das Alibi von Pedro Aldonovia für die Tatnacht bestätigen kann. Ich zähle auf Sie und Ihr Team«, verabschiedete sich Staatsanwältin Steuer mit einem drohenden Unterton.