»Hoffentlich stehen wir heute nicht wieder vor verschlossenen Türen«, beklagte sich Vera bei Saitelhöfer am nächsten Morgen auf dem Parkplatz »Taunus«. Sie waren auf dem Weg zu Elfriede Bonames, der besten Freundin von Rosi Weintraud, und machten eine kurze Pause an der Raststätte.
»Schlechter als gestern kann es ja kaum laufen«, meinte ihr Kollege und warf seinen Kaffeebecher in den Müll. »Erst macht uns bei Familie Niedt in Wetzlar niemand auf. Und dann will weder die Vermieterin noch die Chefin von Rita Enkhaim mit uns sprechen. Der Tod von Rosi Weintraud scheint in Breitenbergen ein ganz heißes Eisen zu sein. Ich bin mal gespannt, ob Eric Niedt morgen zum Verhör im Büro erscheint. Die Ladung im Briefkasten kann er nicht ignorieren. Und auf Rita Enkhaim habe ich zusätzlich einen Kollegen von der Drogenfahndung in Gießen angesetzt. Der schuldet mir noch einen Gefallen und hat bessere Kontakte als wir. Es kann nicht sein, dass die Geliebte von Pedro Aldonovia einfach nach dem Mord aus Breitenbergen verschwindet, ihr Handy abstellt und nicht mehr auffindbar ist.«
»Sie wird ihre Gründe haben«, erwiderte Vera trocken und trank ihren Kaffee aus. »Ich kann mir gut vorstellen, dass sie nach dem Mord nun den ganzen Ort gegen sich hat und das nicht mehr aushalten konnte. Dann ist sie einfach abgetaucht, was ja nicht verboten ist. Aber nicht, bevor sie uns Rede und Antwort gestanden hat.«
»Richtig, Frau Kommissarin«, scherzte Saitelhöfer. Dann stiegen sie wieder ins Auto.
Gegen 11.00 Uhr erreichten sie Sossenheim im Westen Frankfurts. Die Luft war schwülwarm, Saitelhöfer öffnete an einer Fußgängerampel das Autofenster. Eine ältere Dame überquerte mit gebeugtem Rücken und Rollator die Straße Richtung Friedhof. Vorbei an hässlichen Blocksiedlungen, die so typisch für Frankfurter Vororte waren, bogen sie dann an der Kirche in die Herborner Straße ein und suchten nach einem Parkplatz.
»Der Name der Straße passt ja, hier sind wir richtig«, stellte Saitelhöfer fest, als sie vor einem Mehrfamilienhaus mit einem hohen Tor standen. Vera drückte auf den Klingelknopf. Nach einiger Zeit tauchte hinter den Gitterstäben eine schwarz gekleidete Frau mittleren Alters auf. Als Saitelhöfer und Vera sich vorstellten und ihr Beileid aussprachen, brach sie sofort in Tränen aus und öffnete das quietschende Tor.
»Ich kann das alles überhaupt nicht fassen. Rosi ist doch meine beste Freundin. Sehen Sie, ich benutze immer noch die Gegenwart. Ich will einfach nicht glauben, dass sie tot ist«, schluchzte Elfriede Bonames. Mit großem Unmut schloss sie das Tor wieder ab. »Es wird alles immer schlimmer hier. Nicht mal das Tor kann man noch offen lassen. Wir hatten letzte Woche allein in dieser Straße drei Einbrüche. Auf die Polizei kann man sich auch nicht mehr verlassen. Aber wehe, man steht mal fünf Minuten im Halteverbot, dann sind sie sofort da«, schimpfte Elfriede Bonames. Vera und Saitelhöfer waren sich stillschweigend darin einig, diese Auslassungen nicht zu kommentieren. Schweigend begleiteten sie Elfriede Bonames in ihre Parterre-Wohnung und nahmen in der kleinen Küche Platz.
Das Leben war nicht immer gut zu Elfriede Bonames gewesen, das sah man ihr an. Die Zeit hatte Spuren in ihrem Gesicht hinterlassen. Sie war um die sechzig, etwa 1,60 m groß, hatte schlecht gefärbte dunkelblonde Haare mit Dauerwellen und eine gedrungene Figur. Die Küche hatte schon länger keine frische Farbe mehr gesehen, die Einrichtung wirkte etwas zusammengestückelt. Vera fiel sofort auf, dass eine Spülmaschine fehlte.
»Wo haben Sie die Verstorbene kennengelernt?«, fragte Saitelhöfer, um das Schweigen zu brechen.
»Auf der Arbeit. Vor über zehn Jahren war das. Ich komme ursprünglich auch aus dem Westerwald. Rosi und ich haben zusammen in einem Altenstift in Wetzlar gearbeitet. Da war sie meine Chefin. Wir waren uns von Anfang an sympathisch und haben uns schnell angefreundet. Mich hat es dann ins Rhein-Main-Gebiet verschlagen, der Liebe wegen. Ich hatte hier einen Mann aus Venezuela kennengelernt, Enrico. Wir haben geheiratet, ich habe alles aufgegeben und bin zu ihm nach Frankfurt gezogen. Dann ist er bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen. Es war seine Schuld, er ist immer viel zu schnell gefahren. Na ja, und jetzt bin ich hier wegen der Arbeit hängen geblieben. Ich arbeite in einem Seniorenheim in Königstein und verdiene da relativ gut. Aber sobald ich in Rente gehe, will ich wieder zurück in den Westerwald. Rosi und ich hatten uns schon darauf gefreut«, klagte sie bitter und schnäuzte sich.
»Frau Bonames, wir müssen Sie das fragen. Hatte Rosi Feinde? Überlegen Sie mal genau. Gibt es irgendjemanden, bei dem Sie sich vorstellen können, dass er sie ermorden wollte?«, übernahm Vera die Befragung. Elfriede Bonames dachte sichtbar nach. Nach Veras Einschätzung überdachte sie genau, wie viel von ihrem Wissen sie hier preisgeben konnte und wollte. Dann räusperte sie sich.
»Also, ich glaube, ich erzähle Ihnen nichts Neues, wenn ich sage, dass die Rosi große Probleme mit dem Pedro hatte. Der hat sie nach Strich und Faden betrogen und ausgenutzt. Aber sie wollte ja unbedingt einen attraktiven, jüngeren und südländischen Mann haben. Ob Pedro allerdings ein Interesse daran hatte, sie umzubringen, kann ich nicht sagen. Schließlich hat er gut auf ihre Kosten gelebt. Ihrem Schwiegersohn, diesem Eric Niedt, würde ich schon eher einen Mord zutrauen. Ein durch und durch schlechter Mensch, ohne Gewissen und Charakter. Hoch verschuldet noch dazu. Er hat Rosi damit gedroht, dass er sich ins Ausland absetzt und Regina allein mit den Zwillingen und den Schulden sitzen lässt. Das wollte sie auf keinen Fall. Außerdem war da noch der Unfall vor ein paar Jahren in Koblenz. Eric Niedt wusste davon. Seitdem hat er Rosi damit erpresst, die Geschichte im Ort publik zu machen. Also hat Rosi ihm immer wieder Geld gepumpt. Erst vor kurzem wollte Rosi ihm endgültig den Geldhahn zudrehen. Als sie ernst gemacht hat, hat Eric Niedt einfach zugeschlagen. Mitten ins Gesicht. Das war ein paar Wochen vor ihrem Tod. Dieses miese Schwein. Wenn Sie mich fragen, hat er die Rosi auf dem Gewissen. Als Ehemann profitiert er doch jetzt sicherlich von Regina Niedts Erbe.«
»Das ist tatsächlich interessant für uns«, horchte Vera auf. »Sie können also bestätigen, dass Eric Niedt kurz vor dem Mord gegenüber seiner Schwiegermutter handgreiflich geworden ist?«
»Und was war das für ein Unfall in Koblenz, mit dem Eric Niedt Ihre Freundin erpresst hat?«, hakte Saitelhöfer sofort ein. Elfriede Bonames verstummte einen Moment. Ihre Gesichtszüge veränderten sich. Sie musste sich sichtbar sammeln, dann fuhr sie fort:
»Es fällt mir nicht leicht, darüber zu reden. Aber irgendwann muss die Wahrheit ja raus. Rosi und ich haben das geheim gehalten, so gut wir konnten. Aber Eric Niedt wusste leider davon. Es war vor fünf Jahren. Eric Niedt und Rosi hatten zu dem Zeitpunkt noch ein besseres Verhältnis zueinander. Das lag wahrscheinlich daran, dass er damals noch gearbeitet hat, an der Rezeption in einem Hotel in Koblenz. Er hatte uns dort für ›Rhein in Flammen‹ untergebracht. Wir wollten endlich mal wieder einen draufmachen und Rosis Genesung vom Krebs feiern. Rosi und ich sind schon frühmorgens von Breitenbergen aus losgefahren. Für den Abend hatten wir eine Schifffahrt mit Feuerwerk gebucht. Gegen 11.00 Uhr waren wir bereits in Koblenz. Noch zu früh zum Einchecken. Also haben wir nach einem Parkplatz in der Nähe des Hotels gesucht. Ich saß am Steuer. Die Rosi war schon immer eine schlechte Autofahrerin. Wir befanden uns in der Nähe vom Rheinufer in einem Industriegebiet. Ich habe irgendwann einen Parkplatz gefunden und rückwärts eingeparkt. Rosi hat die Beifahrertür geöffnet. In dem Moment habe ich einen fürchterlichen Schrei und einen Schlag gehört. Diesen Schrei werde ich mein Leben lang nicht vergessen.« Elfriede Bonames brach plötzlich wieder in Tränen aus und redete nur noch in unverständlichen Wortfetzen:
»Es war so schrecklich … überall war Blut … die Frau hat am ganzen Körper gezuckt … eine junge Frau auf dem Fahrrad … sie kam aus Hamburg … war mit ihrem Mann in Koblenz im Urlaub auf einer Fahrradtour … Es hat ewig gedauert, bis der Rettungswagen endlich kam … Wir standen nur hilflos da … Die Rettungssanitäter haben sofort etwas von einer möglichen Gehirnblutung geredet und einen Rettungshubschrauber gerufen, der sie abtransportiert hat.«
Elfriede Bonames hatte völlig die Fassung verloren und konnte kaum noch sprechen. Vera und Saitelhöfer ahnten, wie die Geschichte weiterging, und schwiegen in der Hoffnung, dass Elfriede Bonames sich wieder fangen würde. Aber das passierte nicht, sie schluchzte weiter. »Jahrelang lag sie im Koma, bis sie gestorben ist. Am schlimmsten waren die Anrufe ihrer Familie … und unser schlechtes Gewissen … Natürlich hätte sie mit dem Fahrrad nicht auf dem Bürgersteig fahren dürfen. Aber trotzdem … eine Sekunde nicht aufgepasst, und ein Menschenleben ist zerstört.« Elfriede Bonames weinte jetzt nur noch hemmungslos, sie war offensichtlich am Ende ihrer Kräfte und nicht weiter vernehmungsfähig.
»Hören Sie, Frau Bonames. Ich denke, dass wir das für heute besser beenden. Sie müssen jetzt erst mal den Tod ihrer Freundin verkraften. Dabei kommt auch noch diese alte Geschichte wieder hoch. Was Sie uns da gerade erzählt haben, ist aber wichtig. Es erklärt vielleicht die Anrufe aus Hamburg auf Rosi Weintrauds Handy«, sagte Vera. »Wir schicken Ihnen das Protokoll zur Unterschrift. Machen Sie sich keine Umstände, wir finden allein raus.« Sie nickte zustimmend. Wortlos verließen sie die Wohnung und die immer noch laut weinende Elfriede Bonames.