Jan-Luca Stern war der Beerdigung von Rosi Weintraud ferngeblieben. Seit dem Mord konnte er nicht mehr richtig schlafen. Mit Rosis Tod war sein Leben zu einem Albtraum geworden. Wie oft hatte er sich seitdem gewünscht, er wäre an jenem Morgen nicht zum Joggen aufgestanden. Dann hätte er nicht ständig die Bilder der Toten im Kopf. Und dieser fürchterliche Gestank. Es schien ihm fast, als ob sich der Geruch in seiner Nase eingebrannt hatte. Aber am schlimmsten war die Angst. Die Angst vor dem Mörder. Und obwohl er nicht wusste, wer ihm im Wald begegnet war, fühlte sich der Mörder offensichtlich von ihm bedroht. Immer wieder erhielt er anonyme Drohungen und seltsame Anrufe. Kommissar Saitelhöfer hatte veranlasst, dass ein Polizeiwagen vor seiner Wohnung verstärkt Streife fuhr. Bis dato allerdings ohne Erfolg. Den letzten Drohbrief hatte er heute Morgen an der Windschutzscheibe seines Autos entdeckt.
»LEGEN SIE DIE SACHEN WIEDER DORTHIN ZURÜCK, WO SIE SIE GEFUNDEN HABEN, WENN SIE AN IHREM LEBEN HÄNGEN!«
Jan-Luca Stern hatte keine Ahnung, welche Sachen der Mörder meinte. Also war er auch mit dieser Nachricht sofort wieder zur Kripo Herborn gegangen.
»Herr Stern, nach unseren Ermittlungen hat der Mörder bei der Tat eine Perücke als Verkleidung getragen und auf der Flucht verloren. Vielleicht sind ihm auch noch weitere Beweisstücke vor Ort abhandengekommen. Leider wissen wir nicht, wo diese Beweisstücke jetzt sind«, hatte ihm Kommissar Saitelhöfer noch einmal erklärt. »Vermutlich hat der Mörder am Morgen nach der Tat im Wald wieder nach der Perücke gesucht. Dabei sind Sie Pechvogel ihm ausgerechnet über den Weg gelaufen.« Seitdem fürchtete Jan-Luca Stern noch mehr um sein Leben. Auch in dieser Nacht. Der Nacht nach Rosi Weintrauds Beerdigung.
Seine Furcht hielt sich tagsüber und auf der Arbeit noch in Grenzen. Abends aber, wenn er allein in seiner Wohnung war und es dämmerte, wurden seine Gedanken immer düsterer. Angstphantasien ließen ihn nicht einschlafen. Sein Puls raste, und er hatte das Gefühl, sein Kopf müsse platzen. Die Tabletten, die ihm sein Hausarzt verschrieben hatte, halfen nur bedingt. Oft lag er stundenlang wach und dämmerte vor sich hin, bis er endlich in einen traumlosen Schlaf fiel und morgens wie gerädert aufstand. Auch diese Nacht war es ihm nicht gelungen einzuschlafen. Gegen Mitternacht hatte er wieder zu einer Tablette gegriffen und langsam die Wirkung verspürt.
Um 4.00 Uhr morgens hatten ihn dann Geräusche aus dem Halbschlaf aufschrecken lassen. Er war sich fast sicher, Schritte auf der Treppe zu seiner Souterrainwohnung gehört zu haben. »Das bildest du dir nur ein«, versuchte Jan-Luca Stern sich selbst zu beruhigen. Er zitterte am ganzen Körper, als er langsam aufstand und zur Haustür schlich. »Das war bestimmt nur eine streunende Katze oder ein Igel«, setzte er seine Versuche fort, das Schlottern in seinen Beinen in den Griff zu kriegen. Doch etwas tief in seinem Innern widersprach heftig. Langsam öffnete er die Wohnungstür. Was er dann sah, ließ ihn erschauern und würgen zugleich. Direkt vor seinen Füßen lag ein blutiger Klumpen, offenbar hatte ein nächtlicher Besucher Tierinnereien vor seiner Tür abgelegt. Neben dem Fleischhaufen lag ein Zettel:
»LETZTE WARNUNG. GEBEN SIE MIR ENDLICH MEINE SACHEN ZURÜCK!«