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Margot Burgund lag ruhelos im Bett. Die Beerdigung ihrer Schwester Rosi hatte sie sehr aufgewühlt. Wie immer, wenn sie nicht schlafen konnte, hatte sie sich ein Glas heiße Milch mit Honig gemacht und den Fernseher eingeschaltet. In den Nachrichten lief ein Bericht über irgendeine neue Krankheit in China, wen interessierte das schon. Sie schaltete weiter und blieb bei der Schlagerparade hängen. Eine überschminkte Brünette zappelte über die Bühne. Genervt schaltete Margot den Fernseher aus und legte sich klassische Musik auf. In der Oper war sie zuletzt auch mit Rosi gewesen. Ihre Liebe zur klassischen Musik hatte sie immer besonders miteinander verbunden. Die Erinnerung an ihren gemeinsamen Opernbesuch tat ihr weh und gut zugleich. Sie ließ die Tränen laufen. »Wie soll es jetzt weitergehen?«, seufzte Margot leise vor sich hin.

Sie hatte Angst vor der Testamentseröffnung am kommenden Freitag. Margot Burgund wusste, dass Rosi ihr Testament geändert hatte.

»Ich konnte mich mein ganzes Leben lang auf dich verlassen. Den Pflichtteil kann ich den Kindern nicht entziehen, aber Pedro wird leer ausgehen. Den Rest werde ich dir und deinen Kindern vererben«, hatte Rosi kurz vor ihrem Tod erklärt. »Wie kommst du bloß auf die Idee, dass du vor mir sterben wirst? Ich bin doch viel älter als du«, hatte sie ihrer Schwester noch geantwortet. Jetzt war Rosi tot. Ermordet. Gegen alle Erwartungen und den normalen Lauf der Dinge würde Margot nun doch ihre jüngere Schwester beerben. Und sie machte sich große Vorwürfe.

Hätte sie bloß nicht mit ihren Töchtern über das geänderte Testament geredet. Madeleine war schon ihr ganzes Leben lang in Geldschwierigkeiten gewesen, und bei Petra und ihrem Ehemann sah es nicht viel besser aus. Ein Unbehagen machte sich in Margots Magengegend breit. Ihre Gedanken kreisten schon seit Stunden immer wieder um die gleiche Frage. Was, wenn …? »Nein!«, unterbrach sie diesen ungeheuerlichen Gedankengang immer wieder schnell. Ihre Töchter waren keine Mörderinnen, dafür würde sie jederzeit die Hand ins Feuer legen. Aber nicht für Madeleines neuen Lebensgefährten, diesen Axel Casch. Ein fieser und zwielichtiger Typ. Seitdem sie Axel Casch kannte, hatte sich Madeleine völlig verändert. Sie tat nahezu alles, um ihn an sich zu binden. Mit Sicherheit hatte sie Axel Casch auch von Rosis Vermögen und dem Testament erzählt. Dieses dumme Kind. Was, wenn sie Rosi damit buchstäblich ans Messer von Axel Casch geliefert hatte? »Schluss jetzt. Du bist verrückt. Gott sei Dank hast du den Polizeibeamten nichts von deinen Phantasien erzählt«, ermahnte sich Margot energisch selbst.

Dann dachte sie wieder an Rosi. Und an die gemeinsame Kindheit mit ihren Eltern. An die heißen Sommer und das kleine Schwimmbad im Nachbarort. An die herrlichen Schlittenfahrten in den kalten Wintern. An Weihnachten und die vielen Geburtstage und Familienfeiern. Mittlerweile waren bis auf Amalie und sie alle tot. Jetzt auch Rosi. Erinnerungen übermannten sie. Margot Burgund fing hemmungslos an zu weinen.