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Eric Niedt fuhr mit seinem weißen SUV in Richtung Breitenbergen. Im Radio liefen die Nachrichten. Es war 4.00 Uhr nachts, und ein langer Tag lag hinter ihm. Nachdem sich Regina und die Kinder gegen Mittag auf den Weg zur Beerdigung gemacht hatten, war er in die neue Spielothek nach Herborn gefahren. Hier kannte man ihn noch nicht. Bis weit nach Mitternacht hatte er dort gesessen, gezockt und versucht, in Ruhe nachzudenken. Eric Niedt wusste, dass er in Schwierigkeiten steckte. Früher oder später würde herauskommen, dass er am Tag von Rosis Tod in Breitenbergen gewesen war. Schließlich war er kein Unbekannter im Ort, und zu viele Leute hatten ihn dort gesehen. Irgendwann würde die Polizei mit einem Durchsuchungsbefehl vor seiner Tür stehen. Die Sachen im Keller mussten also schnell weg. Beim Zocken war er dann auf eine geniale Idee gekommen, endlich wusste er, wohin mit dem Zeug. Nichts war sicherer als ein bereits durchsuchtes Haus. Vor einer Stunde hatte er die Spielothek verlassen und war zurück nach Hause gefahren. Dort hatte er zuerst die Plastiktüte mit den Beweisstücken aus dem Küchenschrank im Keller eingepackt. Dann war er hoch in die Wohnung geschlichen und hatte Reginas Schlüsselbund mit dem Ersatzschlüssel für Rosis Haus an sich genommen. Morgen früh würde er wieder am Schlüsselbrett hängen.

Eric Niedt fand seinen Plan ziemlich genial. Rosis Haus war nicht mehr versiegelt, das hatte Regina ihm erzählt. Und Pedro wohnte derzeit in Herborn. Die Mieter waren noch im Urlaub. Das Haus stand völlig leer, er hatte also freie Bahn. Und das Beste war: Falls die Kripo eine weitere Hausdurchsuchung anordnen und die Plastiktüte finden würde, hätte er damit gleich den Verdacht von sich auf Pedro Aldonovia gelenkt.

Eric Niedt parkte sein Auto kurz vor dem Ortsausgang an einem Waldweg und lief die wenigen Schritte zu Rosis Haus. Die Straßenlaternen leuchteten nicht. Kein Auto fuhr auf der Straße, niemand da, der ihn sehen konnte. Er zog die mitgebrachten Handschuhe an, öffnete die Haustür, schaltete die Taschenlampe auf seinem Smartphone ein und ging direkt in den Keller. Vorbei am Heizungskeller leuchtete er in den Vorratskeller. Kurz überlegte Eric, wo er die Einkaufstüte am besten platzieren könnte. Da erblickte er auf einem Regal einen riesigen grünen Bowle-Topf aus Ton mit Holzdeckel. Perfekt. Niemand machte heutzutage noch eine Bowle. Außerdem würde noch viel Zeit vergehen, bis irgendjemand mit dem Entrümpeln des Kellers beginnen würde. Hier war das Zeug also erst mal sicher. Eric Niedt drückte die Plastiktüte zusammen, legte sie vorsichtig in den Bowle-Behälter und verschloss ihn mit dem Holzdeckel. Dann beeilte er sich und verließ das Haus. Damit war der erste Teil seiner nächtlichen Mission erledigt.

Zufrieden stieg Eric wieder ins Auto und fuhr los.

Sein Ziel war nun das andere Ende von Breitenbergen. Er betrachtete sich im Rückspiegel und lachte.

»Arme, dumme Rosi«, sagte er laut zu sich selbst. Wenn sie sich am Tag ihres Todes mit ihm getroffen und ihm Geld gegeben hätte, wäre sie wohl noch am Leben. Jetzt musste er nur noch auf Rosis Erbe warten und dann das Geld zählen. Schließlich stand Regina wenigstens ihr Pflichtteil zu.

Eric parkte sein Auto am Waldrand. Zu Fuß und mit einer Flasche in der Hand lief er weiter zu der Stelle, an der er Rosi ermordet aufgefunden hatte. Vorher hatte er sie angerufen und um eine Aussprache gebeten. Aber Rosi hatte wütend ins Telefon gebrüllt:

»Es gibt nichts mehr zu reden zwischen uns. Wenn ich dich erinnern darf: Du hast mich geschlagen. Ins Gesicht! Ich will dich nie wieder sehen. Außerdem habe ich keine Zeit, ich mache gleich noch meine Nordic-Walking-Runde.« Dann hatte sie aufgelegt. Es waren ihre letzten Worte zu ihm gewesen. Kurz entschlossen hatte er sich dann ins Auto gesetzt, um Rosi beim Nordic Walking abzupassen. Von Regina kannte er ihre Laufstrecke. In Höhe der Pferdeweide hatte er sich postiert. Er wollte ihr erst einen ordentlichen Schrecken einjagen und dann mit der Geschichte aus Koblenz drohen. So einfach würde sie ihn nicht loswerden. Leider hatte er vergeblich auf Rosi gewartet. Irgendwann war er dann Richtung Wald gelaufen.

Da hatte er sie liegen gesehen, mit einem Messer im Rücken, direkt am Waldrand. Um keine Fingerabdrücke zu hinterlassen, hatte er sein T-Shirt schnell über die Hand gezogen und nach Puls und Atmung gefühlt. Aber Rosi war bereits tot. »Bloß weg hier«, war dann sein erster Gedanke. Bis dahin hatte ihn auf dem Feldweg niemand gesehen, und das sollte auch so bleiben. Spontan hatte er sich entschlossen, für den Weg zurück zu seinem Auto einen Umweg durch den Wald zu nehmen. In der Eile wäre er fast über ein Geäst zwischen zwei gefällten Bäumen gestolpert. Dabei war ihm dann eine weiße Plastiktüte aufgefallen. Vorsichtig hatte er sie geöffnet und darin eine benutzte Spritze, eine Perücke, eine Sonnenbrille, Latex-Handschuhe und einen dünnen Jogginganzug entdeckt. Sofort war ihm klar gewesen, was das zu bedeuten hatte. Offenbar hatte es der Mörder eilig gehabt und sich der Tatmittel im Wald entledigt. Instinktiv hatte er dann die Plastiktüte an sich genommen und sie nach seiner Heimkehr vorerst im Keller deponiert. Dort hatte sie seitdem gelegen und ihm Sorgen bereitet. Bis heute Nacht ...

Eric Niedt hatte nun den Tatort erreicht. Stolz schaute er auf die Flaschenpost in seiner Hand. Eine durchsichtige Flasche, gefüllt mit einem Zettel.

»Ich weiß, wonach Sie suchen. Wie kann ich Sie kontaktieren?«, stand darauf. Schnell bog er in den Wald ein. Im Licht seines Smartphones erkannte er das Geäst wieder, wo die Plastiktüte gelegen hatte. Dort legte er die Flaschenpost ab. Jetzt würde er auch noch beim Mörder abkassieren! Schließlich befanden sich die Beweismittel und DNA-Spuren in seinem Besitz. Keine Frage, dass der Mörder verzweifelt danach suchen und früher oder später erneut an diesem Ort auftauchen würde. »Der Köder ist gelegt. Jetzt muss der Fisch nur noch anbeißen«, dachte er sich und lief wieder zurück zum Auto.