Madeleine Burgund, die Tochter von Margot, saß zur gleichen Zeit allein im Garten ihres Hauses in Breitenbergen. Die Zwergkaninchen hoppelten zufrieden in ihrem Freigehege auf dem Rasen umher. Madeleine liebte die Kaninchen über alles. Allerdings erinnerten die Tiere sie auch schmerzhaft an schönere Zeiten. Madeleines Sohn Bastian hatte sich die beiden zu seinem vierzehnten Geburtstag gewünscht. Mittlerweile war er volljährig, freiwillig zur Marine gegangen und lebte überwiegend in Kiel. Nur die Kaninchen waren Madeleine geblieben. Sie hatten inzwischen ein fast biblisches Alter. Madeleine Burgunds Ehemann hatte sie mit Bastian sitzen gelassen, als ihr Sohn sieben Jahre alt war. Mit viel Mühe und nicht zuletzt mit Hilfe der Familie hatte Madeleine Burgund das Haus halten und Bastian trotz allem eine schöne Kindheit bieten können. Jahrelang hatte sie fast Tag und Nacht im Hotel in Herborn gearbeitet. Während der gutbezahlten Nachtschichten hatten ihre Mutter und auch Tante Rosi auf Bastian aufgepasst. Aber das war lange her. Jetzt war Bastian weit weg und Tante Rosi tot.
»Was für ein Glück, dass sie Mama als Erbin eingesetzt hat«, dachte sich Madeleine und fühlte sich gleichzeitig unendlich schlecht und schuldig bei diesem Gedanken. Tante Rosi hatte so viel für sie und Bastian getan, mehr als alle anderen in der Familie. Und obwohl Rosi ihr fehlte, verspürte sie eine gewisse Erleichterung über ihren Tod, vor allem im Hinblick auf den Erbteil, der an ihre Mutter gegangen war. Denn Madeleine Burgund war in großen finanziellen Schwierigkeiten. Anfang des Jahres hatte sie Axel Casch kennengelernt. Seitdem war sie ihm völlig verfallen. Noch nie hatte sie einen Mann so sehr gewollt wie ihn, sexuell war sie ihm fast schon hörig. Axel Casch war weder der Erfolgreichste noch der Intelligenteste. Er arbeitete als Reisekaufmann und hatte ein eher bescheidenes Gehalt. Sein Charme und seine sexuelle Attraktivität waren dafür umso beeindruckender. Wenn sie nur seine Stimme hörte, vibrierte alles in Madeleine, von seinen Küssen konnte sie gar nicht genug bekommen. Sie war so unendlich stolz, diesen Mann ergattert zu haben. Wenn Madeleine mit ihm zusammen durch die Stadt ging, sonnte sie sich in den neidischen Blicken fremder Frauen. Ihre Beziehung war fast perfekt. Aber leider nur fast.
Axel liebte sie nicht, das war Madeleine klar. Vielleicht war er am Anfang etwas verliebt in sie, aber das war längst vorbei. Seit geraumer Zeit drehte sich in Madeleines Beziehung zu Axel alles nur noch darum, ihn zu halten. Axel stellte Forderungen und Madeleine erfüllte sie. Ob es um seine immer extravaganter werdenden sexuellen Vorlieben oder um sonstige Wünsche ging, Madeleine machte alles möglich und zahlte in der Regel auch alles.
»Du wandelst auf den Spuren von Tante Rosi. Wenn du so weitermachst, bist du psychisch und finanziell bald am Ende«, hatte ihre Mutter sie schon oft eindringlich ermahnt. Und sie hatte recht. Axel war pures Gift. Aber Madeleine konnte ihn nicht gehen lassen. Auch wenn ihr Konto mittlerweile tief in den roten Zahlen stand und sich viele Freundinnen bereits verständnislos von ihr abgewandt hatten. Axel hatte es perfekt verstanden, nach so langer Zeit des Alleinseins in Madeleine wieder die Leidenschaft zu wecken. Wie ein kleines Kind wollte sie sich dieses Spielzeug nicht nehmen lassen, auch wenn es ihr schon längst nicht mehr gehörte.
Ab und zu plagten aber auch Madeleine Zweifel. Wie an diesem Sonntag, an dem sie wieder einmal allein mit den Kaninchen im Garten saß und Axel nicht erreichbar war. Sie hatte Angst und Schuldgefühle. Schuldgefühle wegen ihrer heimlichen Freude über das nun ihrer Mutter zufallende Erbe. Margot Burgund hatte ihre Tochter ein Leben lang finanziell unterstützt und würde das jetzt sicher umso mehr tun. Aber vor allem hatte Madeleine Angst. Angst vor Axel. Viel zu oft hatte sie ihm in letzter Zeit vom Testament ihrer Tante Rosi erzählt und sogar damit geprahlt, dass sie im Falle ihres Todes für immer ausgesorgt hätten. Was, wenn Axel das als Einladung gesehen und Rosi kaltblütig ermordet hatte? Zuzutrauen war es ihm. Seine Ex-Frau hatte über das Internet bereits Kontakt mit Madeleine aufgenommen und sie vor ihm gewarnt. Damals wollte Madeleine noch nicht glauben, dass Axel gewalttätig und sadistisch war. Mittlerweile hatte sie es am eigenen Leib erfahren müssen. Wenn Axel etwas liebte, dann war es ein Leben auf großem Fuß und sexuelle Exzesse. Als Madeleine sich zuletzt geweigert hatte, ihn in einen Swinger-Club nach Frankfurt zu begleiten, hatte er nur mit den Schultern gezuckt und war allein gefahren. Später in der Nacht hatte er Madeleine dann mit dem Handy Fotos geschickt, auf denen er mit mehreren Frauen gleichzeitig zugange war. »Sieh, was du verpasst hast«, kommentierte er sein Treiben. Keine Frage: Axel war zu allem fähig. Und der Tod von Tante Rosi versprach einen echten Geldsegen. Es dämmerte Madeleine langsam, was auf sie zukommen konnte. »Auf was habe ich mich da nur eingelassen?«, murmelte sie leise vor sich hin, während ihr ein Schauer über den Rücken lief.