»Ich wäre am liebsten im Boden versunken. So wie der Ermittlungsrichter uns gestern runtergeputzt hat«, sagte Doris Dornbirn am nächsten Morgen zu Saitelhöfer und Vera. »Aber er hat schon recht: Vieles spricht für Eric Niedt oder Pedro Aldonovia, aber kein Mensch plant akribisch den Mord an der Schwiegermutter oder Verlobten und vergisst dann sein eigenes Alibi! Wie dem auch sei. Rita Enkhaim, das Alibi von Pedro Aldonovia, hat sich gemeldet. Sie ist noch bei ihrer Schwester in Königstein untergetaucht, will aber nächste Woche mit uns sprechen. Die Zwillinge von Eric Niedt habe ich auch erreicht und für diesen Freitag ins Büro geladen. Wehe, wenn sie nicht kommen! Dann war da noch etwas Seltsames: Eine Roswitha Bornheimer aus Erlenburg in Franken hat bei uns angerufen. Sie hat wohl in den Medien von dem Mord gehört und will nun unbedingt mit uns sprechen. Wahrscheinlich ist sie eine von diesen Verrückten, die ein bisschen Aufmerksamkeit brauchen. Aber ich habe sie trotzdem für übernächste Woche geladen. Vorher passte es ihr nicht. Mir ist nicht ganz klar, wie uns ausgerechnet jemand aus Erlenburg bei den Ermittlungen helfen soll, aber …« Doris Dornbirn wollte gerade fortfahren, da öffnete sich die Bürotür.
Eine große Frau mit kurzgelockten dunkelblonden Haaren kam herein, gefolgt vom wachhabenden Kollegen am Empfang. Achselzuckend entschuldigte er sich und sagte:
»Sorry für die Störung, aber ihr habt ja gesagt, dass ich keinen Zeugen abweisen soll.« Die Dame war ganz in Schwarz gekleidet und grüßte freundlich.
»Entschuldigen Sie, aber ich muss unbedingt mit Ihnen reden«, erklärte die Dame bestimmt. »Ich bin Petra Burgund, die ältere Tochter von Margot Burgund. Rosi Weintraud war meine Lieblingstante«, stellte sie sich ohne große Umschweife vor. »Eigentlich ist es im Moment etwas unpassend, Frau Burgund. Wir sind gerade mitten in einer Besprechung«, versuchte Doris den überraschenden Besuch hinauszukomplimentieren.
»Tut mir leid. Ich mache es auch so kurz wie möglich. Mir hat die ganze Zeit der Mut gefehlt, mit Ihnen zu reden. Bitte geben Sie mir ein paar Minuten«, bat Petra Burgund.
»Also gut, setzen Sie sich doch bitte«, meinte Saitelhöfer und schaltete das Diktiergerät an. Er belehrte Petra Burgund über ihre Rechte und nahm die Personalien auf.
»Dann legen Sie mal los«, sagte Vera.
»Es geht um meine jüngere Schwester Madeleine. Ich mache mir Sorgen um sie. Seitdem sie diesen neuen Freund hat, ist sie nicht wiederzuerkennen. Sie hat sich völlig zurückgezogen. Früher konnten wir uns blind vertrauen, jetzt reden wir kaum noch miteinander. Auch mit meiner Mutter streitet Madeleine nur noch. Es sei denn, sie braucht Geld von ihr. Dann ist sie zuckersüß. Und sie braucht ziemlich oft Geld. Meine Mutter merkt teilweise gar nicht mehr, wie sie ihr das Geld aus der Tasche zieht. Seitdem meine Tante Rosi gestorben ist, drängt sich Madeleine bei ihr in den Vordergrund. Sie wollte auch unbedingt bei der Testamentseröffnung letzte Woche dabei sein. Nicht ohne Grund, wenn Sie mich fragen.«
»Und was hat das mit dem Mord an Ihrer Tante zu tun?«, fiel Doris Dornbirn ihr genervt ins Wort.
»Meiner Meinung nach eine Menge«, protestierte Petra Burgund. »Ich bin schließlich nicht hier, weil ich Ihnen die Zeit stehlen will.«
Vera nickte entschuldigend und lenkte ein.
»Natürlich nicht, Frau Burgund. Fahren Sie bitte fort.«
»Madeleine ist in Geldschwierigkeiten. Schon seit einigen Monaten«, erklärte Petra Burgund. »Ich arbeite in Herborn bei der Bank und betreue schon seit Jahren ihr Konto. Das sah immer halbwegs gut aus. Bis sie Axel Casch kennengelernt hat! Innerhalb von kurzer Zeit hat sie sich völlig überschuldet. Der Dispo-Kredit ist seit Monaten bis zum Anschlag ausgereizt. Wir mussten bereits einige Überweisungen zurückgehen lassen. Zuletzt konnte Madeleine die monatliche Hypothek auf ihr Haus nicht mehr bedienen. Gestern hat mir der Filialleiter mitgeteilt, dass Madeleine ihr Konto bei uns ausgeglichen und gekündigt hat. Deshalb bin ich hier. Irgendwann reicht es. Wahrscheinlich hat sich Madeleine das Geld dafür von meiner Mutter geben lassen. Geld aus dem Erbe von Tante Rosi, Geld, das meine Mutter noch nicht mal hat!«, sagte sie verärgert.
»Ehrlich gesagt ist mir immer noch nicht klar, worauf Sie hinauswollen«, stellte Saitelhöfer fest. »Wollen Sie Ihre Schwester des Mordes an Ihrer Tante bezichtigen?«, fragte er ernst.
»Natürlich nicht«, gab Petra Burgund leicht entrüstet zurück. »Aber diesem Axel Casch würde ich einen Mord zutrauen. Um an das Geld von Tante Rosi zu kommen. Schließlich erbt meine Mutter ein Viertel des Vermögens. Das wissen meine Schwester und ich schon seit längerer Zeit. Bestimmt hat Madeleine auch Axel Casch von dem Testament erzählt. Er ist so ein schrecklicher Mensch. Verstehen Sie mich nicht falsch. Ich liebe meine Schwester über alles und kann leider nichts tun, als dabei zuzuschauen, wie Axel Casch sie in den Abgrund zieht und zerstört.« Petra Burgund fing an zu weinen.
»Frau Burgund«, meinte Vera tröstend, »ich kann mir vorstellen, dass das nicht leicht für Sie ist. Und dass der Mord an Ihrer Tante Sie sehr mitnimmt. Aber für mich klingt das eher nach einer kranken Beziehung, die Ihre Schwester da führt. Und nicht nach einem Mordmotiv. Wir werden uns den Freund Ihrer Schwester trotzdem mal anschauen. Können Sie uns seine Kontaktdaten geben?« Petra Burgund nickte zufrieden.
»Wenn Sie schon mal hier sind, würde mich noch interessieren, was für ein Verhältnis Sie selbst zu Ihrer Tante hatten«, wollte Vera wissen.
»Früher haben wir uns gut verstanden«, erinnerte sich Petra Burgund. »Schließlich ist sie meine Patentante. Sie hat sich viel um mich gekümmert, auch in schlechten Zeiten. Wir sind oft miteinander Kaffeetrinken gegangen und haben uns viel anvertraut. Eine Zeitlang hatte ich zu meiner Tante ein sehr inniges Verhältnis. Sehr zum Unmut ihrer eigenen Kinder. Über die Jahre hinweg haben wir aber den Draht zueinander verloren, was wohl an mir lag. Wissen Sie, wenn man einen Ehemann, zwei kleine Kinder und ein Haus hat, bleibt nicht mehr viel Zeit übrig. Außerdem konnte ich Pedro Aldonovia nicht leiden. Ich habe mich deshalb von meiner Tante distanziert. Das tut mir jetzt unendlich leid.« Petra Burgund wischte sich eine Träne ab. »Anfang des Jahres haben wir uns aber getroffen und ausgesprochen. Das war im Januar. Tante Rosi ging es damals ziemlich schlecht. Es gab eine Grippewelle im Pflegeheim, in dem sie arbeitete, und viele alte Leute sind gestorben. Der Impfstoff hatte nicht gewirkt. Außerdem hatte mir Tante Rosi vom Tod der jungen Frau in Hamburg erzählt, ich hatte bis dato keine Ahnung von dieser Geschichte und musste ihr mein Wort geben, Stillschweigen zu bewahren. Das habe ich auch getan. Bis heute. Ich gehe aber davon aus, dass Sie von Iris von Hettenkevers Tod wissen.« Vera nickte zustimmend.
»Nach dem Selbstmord des Ehemannes hatte dessen Mutter fast täglich bei Tante Rosi angerufen und sie beschimpft und bedroht. Tante Rosi hatte schreckliche Schuldgefühle und sich für das neue Jahr vorgenommen, endlich mit sich und ihrem Leben ins Reine zu kommen. Schon damals hat sie darüber nachgedacht, sich von diesem Pedro zu trennen. Außerdem wollte sie Eric Niedt den Geldhahn zudrehen und sich mit ihren Kindern versöhnen. Das ist ihr nicht mehr ganz gelungen.« Petra Burgund schwieg für einen Moment, traurig in Gedanken versunken. »Ich kann nur beten, dass Gott ihr gnädig ist und sie Ruhe und Frieden findet. Aber Sie müssen den Mörder finden! Tante Rosi hatte noch so viel vor, und der hat sie einfach aus dem Leben gerissen. Ich hoffe bloß für meine Schwester, dass es nicht Axel Casch war.« Petra Burgund verabschiedete sich kurz und verließ das Büro.