Ohne zu verstehen, was mit ihr geschah, fand sich Rosi Weintraud auf der Geburtstagsfeier ihres Sohnes Malte in dessen Frankfurter Wohnung vor drei Jahren wieder.
Es war ein heißer Sommertag, und die meisten Gäste waren bereits gegangen. Malte hatte ohnehin nicht viele eingeladen, nur ein paar Nachbarn und Freunde und seine Familie, zum ersten Mal seit Jahren wieder. Inklusive Rosi und Pedro Aldonovia, der gerade bei ihr auf Besuch war. Zunächst war die Feier halbwegs harmonisch verlaufen. Beim Abendessen hatte sich die Tochter von Veronika Fincker dann aber plötzlich über Pedros Deutschkenntnisse lustig gemacht.
»Du bist eine ganz schön verwöhnte Chica!«, war Pedros Retour gewesen. Veronika Fincker hatte ihre Tochter Leonie dann unter deren großem Protest ins Bett gebracht. Danach hatten sich die Wogen wieder geglättet.
Es dämmerte bereits, als Margot Burgund, Amalie Streiter und Pedro Aldonovia noch gemeinsam mit Malte am glimmenden Grill standen und sich unterhielten. Rosi half Veronika in der Küche beim Abwasch.
»Ausgerechnet an so einem Tag gibt die Spülmaschine ihren Geist auf«, klagte Veronika lautstark. Rosi pflichtete ihr bei. Auf diesen Moment hatte sie gewartet, endlich war sie mit der Lebensgefährtin ihres Sohnes allein.
»Malte hat uns erzählt, dass du aus Erlenburg in Frrranken kommst«, sagte sie so beiläufig wie möglich und rollte dabei spöttisch das »r«. Rosi sah gleich, dass sie ins Schwarze getroffen hatte. Die Gesichtszüge von Veronika wurden spitz. »Ist lange her«, sagte sie nur kurz und knapp. Aber Rosi ließ nicht locker.
»Stell dir vor, meine neue Kollegin Helga Reeter kommt auch aus Erlenburg. Sie ist für die neue Stelle extra hierhergezogen«, zündete Rosi die nächste Stufe der Rakete. Sie hatte kaum ausgesprochen, da bemerkte sie, dass Veronika die Gesichtszüge vollständig entglitten.
»Worauf willst du hinaus?«, zischte sie die Mutter ihres Lebensgefährten mit einem drohenden Unterton an.
»Schon komisch, wie der Zufall manchmal so spielt«, baute sich Rosi vor Veronika auf. »Die Helga und ich haben uns von Anfang an gut verstanden. Vor zwei Wochen habe ich sie zu mir zum Kaffeetrinken eingeladen. Dabei hat sie sich die Familienfotos auf meinem Sideboard angesehen. Auch das von dir, zusammen mit Malte und Leonie. ›Ich glaub, die kenn ich aus Erlenburg‹, hat die Helga plötzlich zu mir gesagt und auf dich gezeigt. Als ich ihr dann deinen Namen genannt habe, war alles klar. Übrigens: Ich soll dich ganz lieb von ihr grüßen«, stichelte Rosi genüsslich. Veronika versuchte, ihr bestes Pokerface aufzusetzen, doch sie konnte kaum verbergen, wie sehr es in ihr brodelte.
»Sagt dir der Name Anneliese Bornheimer was?«, fragte Rosi weiter mit süffisantem Unterton. »Das war damals ein ziemlicher Skandal in Erlenburg, nicht wahr? Die ältere Dame wurde eines Morgens leblos in ihrer Villa aufgefunden. Herzversagen war die offizielle Todesursache. So recht glauben wollte das aber kaum einer im Ort. Schließlich war die Dame gerade mal sechzig. Die Staatsanwaltschaft hatte den Vermögensverwalter von Anneliese Bornheimer und dessen Ehefrau damals in Verdacht. Es gab da einige Ungereimtheiten, nachweisen konnte man den beiden aber nichts. Nach dem Freispruch hat sich der Vermögensverwalter in einer Nacht-und-Nebel-Aktion samt Vermögen ins Ausland abgesetzt und wurde nie wieder gesehen.« Rosi machte eine theatralische Pause.
Dann holte sie wieder aus.
»Das muss eine schlimme Zeit für dich gewesen sein, Veronika. Erst heckst du mit deinem damaligen Ehemann einen teuflischen Plan für den perfekten Mord an Anneliese Bornheimer aus. Nur um an ihr Geld zu kommen. Und dann haut der werte Gatte mit dem ganzen Vermögen einfach ab und lässt dich sitzen. Allein mit dem Kind in Erlenburg, dauernd den verächtlichen Blicken im Ort ausgesetzt. Niemand dort wollte noch irgendetwas mit dir zu tun haben. Also hast auch du mit deiner Göre bald das Weite gesucht und bist in Frankfurt gelandet. Ausgerechnet meinem Sohn musstest du dort über den Weg laufen. Aber Lügen haben kurze Beine. Den Richter konntet ihr damals täuschen, die Menschen in Erlenburg aber nicht. Auch meine Kollegin Helga nicht.« Veronika hatte genug gehört. Wortlos nahm sie das Küchenhandtuch, zog es zusammen und legte es um Rosis Hals.
Einen Moment lang hatte Rosi Angst, sie könnte zudrücken. Dann zog Veronika das Handtuch wieder zurück, setzte ihr freundlichstes Lächeln auf und fragte betont ruhig:
»Was willst du von mir?« Sichtlich verwirrt von der unverhohlenen Drohung mit dem Küchenhandtuch musste sich Rosi erst einmal sammeln. Sie atmete tief durch und antwortete kleinlaut:
»Nichts. Ich kann froh sein, dass du so einen guten Einfluss auf meinen Sohn hast. Ich bin ja zufrieden, dass er in seinem Alter noch eine Frau und Familie gefunden hat und nicht mehr trinkt. Sonst hätte ich ihm sofort gesagt, an wen er mit dir geraten ist. Und glaube mir, ich kenne meinen Sohn. Malte kann vieles verzeihen, aber keine Unehrlichkeiten. Dafür hat er als Kind zu sehr unter den Geheimnissen seines Vaters gelitten. Er würde dich sofort verlassen, wenn er von der alten Geschichte hört. Also, behandele ihn gut. Nur eines rate ich dir: Heirate ihn nicht! Dann erfährt er auch nichts von mir über deine Vergangenheit. Und sei dir nie zu sicher. Vielleicht überlege ich es mir auch noch anders«, betonte Rosi drohend. Sie hatte ihre Fassung wiedergewonnen.
Veronika schenkte ihr nur einen eisigen Blick. Die Stille wurde durch das Zerspringen eines Glases unterbrochen, das Veronika aus der Hand gefallen war.
»Scherben bringen Glück«, hörten sie Malte Weintraud sagen, als er plötzlich zusammen mit seinen Tanten in die Küche kam.
»Ich hoffe, wir stören nicht«, fragte Margot beim Blick in die Gesichter von Veronika und ihrer Schwester. Es dauerte nur kurz, dann hatte sich Veronika wieder im Griff.
»Nein, ganz und gar nicht. Wir waren hier ohnehin fertig«, lächelte sie und kehrte die Scherben vom Küchenboden auf.
Plötzlich verschwammen die Erinnerungen wieder, und das rückwärtsgewandte Daumenkino in Rosis Kopf nahm wieder an Fahrt auf.