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Rosi Weintraud machte auf ihrer Zeitreise immer größere Sprünge. Es war Muttertag, vor fast zwanzig Jahren. Ein wunderschöner Tag im Mai. Ihre Tochter Regina und Eric Niedt hatten sie zu einem Ausflug eingeladen.

»Wir machen morgen mit dir eine Fahrt ins Blaue«, hatte Regina am Abend zuvor angekündigt. »Malte kommt auch mit, allerdings mit seinem eigenen Auto.« Rosi war hocherfreut, ihre beiden Kinder wieder einmal zusammen bei sich zu haben. Seit Regina mit Eric Niedt zusammen und sichtlich glücklich war, hatte sie auch wieder einen Draht zu ihrem Bruder gefunden. Malte hatte wohl auch wieder eine neue Freundin, in der Regel hielten die Beziehungen aber nicht lange. Rosi hatte irgendwann damit aufgehört, sich Vorwürfe wegen des Lebens ihres Sohnes zu machen.

Wenigstens lief es zwischen Regina und Eric gut. Eric war zwar in Rosis Augen ein für ihre Tochter viel zu attraktiver, charmanter Hallodri, der die Arbeit nicht gerade erfunden hatte. Außerdem trank er gerne mal einen über den Durst. »Aber vielleicht gibt sich das ja noch, wenn er erst mal die richtige Arbeit gefunden und eigene Kinder hat«, hatte Rosi morgens vor dem Ausflug noch zu ihrer Schwester Margot gemeint. Die hatte nur nüchtern widersprochen:

»Nach meiner Erfahrung ändern sich die Menschen eher nicht zum Besseren.«

Gegen 10.00 Uhr waren sie in Münster angekommen. Sie hatten in der Altstadt gefrühstückt und waren dann mit dem Boot über den Aasee zum Münsteraner Zoo gefahren. Rosi liebte Tiere über alles, und der Münsteraner Allwetterzoo war eine der ersten Anlagen mit neuen tierfreundlichen Konzepten. Der Safari-Park mit dem offenen Affengehege und die Parade der Pinguine quer durch den Zoo hatten es Rosi besonders angetan. Jetzt saßen sie wieder auf dem Schiff über den Aasee zurück vom Zoo zum Parkplatz. Rosi trug ihre neue Marken-Sonnenbrille. Sie war ganz in Weiß gekleidet, und der leichte Wind wehte durch ihr ungefärbtes langes dunkelblondes Haar. In der Hand hatte sie ein Kristallweizen mit Zitrone.

»Auf euch!«, prostete sie ihren Kindern und Eric zu. »Vielen Dank, dass ihr mich zu diesem Ausflug eingeladen habt. Das ist einer der schönsten Muttertage, die ich je hatte.«

Dann verschwammen die Bilder wieder, und die Erinnerungen aus Rosis Leben liefen weiter rückwärts ab.